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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1381–1381

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Timm-Hartmann, Cordula [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Weil sie die Seelen fröhlich macht. Protestantische Musikkultur seit Martin Luther. Katalog der Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 22. April bis 23. September 2012.

Verlag:

Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen (in Kommission bei Harrassowitz) 2012. 240 S. m. zahlr. Abb. 26,0 x 21,0 cm = Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 28. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-447-06699-0.

Rezensent:

Konrad Klek

Die Franckeschen Stiftungen in Halle leisten mit ihrer Jahresausstellung 2012 einen bemerkenswerten Beitrag zum EKD-Themenjahr »Reformation und Musik« im Rahmen der Lutherdekade. Dass die übliche Schlagwortverbindung Francke/Hallescher Pietismus wirkungsgeschichtlich auch in musikalischer Hinsicht eine im­mense Bedeutung hat, kann so stärker in den Fokus der Öffentlichkeit treten. Die Ausstellung mit sechs Räumen will aber das ganze Panorama protestantischer Musikkultur von der Reformation bis ins 20. Jh. präsentieren, wo »Musik in Halle im 17. und 18. Jahrhundert« gleichsam in der Mitte zu stehen kommt (Raum 4).
Der Ausstellungskatalog bietet nach den Usancen des Hauses weit mehr als nur eine Zusammenstellung der Exponate und ihrer Legenden. Gut zwei Drittel des fantastisch reich bebilderten Bandes werden mit insgesamt elf Fachbeiträgen gefüllt, die sich sowohl dem von der Reformation begründeten Phänomen Kirchenlied als auch der spezifischen kirchenmusikalischen Hochkultur widmen. Neben eher überblicksartigen Ausführungen zu Luther und dem Kirchenlied (J. Stalmann), zum Komponisten als Prediger (A. Waczkat, J. Schatke), zur kirchenmusikalischen Erneuerung im 20. Jh. (F. Seils) und abschließend einer sehr überzeugenden systematischen Reflexion über »Profil und Aufgaben der protestantischen Kirchenmusik heute« (P. Bubmann) stehen Spezialuntersuchungen, die wissenschaftlich ergiebig sind, den ge­wöhnlichen Katalog-Freund aber tendenziell überfordern dürften. Dabei handelt es sich überwiegend um spezifisch Hallensische Topoi, deren paradigmatische, detailgenaue Erschließung als Fallstudie sehr zu begrüßen ist.
Anhand des bis dato kaum bekannten, einschlägigen Schaffens von Händels Lehrer Zachow wird die Entwicklung der protestan­tischen Kirchenkantate um 1700 aufgezeigt (Ch. Hausmann), zum berühmten Freylinghausenschen Gesangbuch liefern die ortsansässigen Fachleute W. Miersemann und G. Busch Beiträge zur Ge­-nese dieses Gesangbuchs und zu seiner Bedeutung für das »pietis­tische Gemeinschaftslied«. Die Herausgeberin C. Timm-Hartmann stellt anhand der Hallenser Anstellungsverhältnisse der Musikdirektoren im 17. und 18. Jh. dar, wie sich das Verhältnis zwischen Organisten und Kantoren gestaltete. Ein ausführlicher Beitrag (S. Voss) widmet sich dem eigentlich Hamburger Phänomen der »Brockes-Passion«. Dieses vor 300 Jahren erstmals publizierte, viel vertonte Passions-Libretto, dessen Einordnung in Orthodoxie oder Pietismus so schwerfällt, steht im Fokus einer Ausstellung im benachbarten Händel-Haus, und sein Verfasser lässt sich immerhin als einstiger Student für Halle vereinnahmen. Der Leiter der kürzlich in Halle begründeten kritischen Edition von J. Crügers Gesangbuch Praxis Pietatis Melica, H.-O. Korth, kann mit seinen Erwägungen zur hymnologischen Bedeutung dieses vor »Freylinghausen« wichtigsten Gesangbuchs einen weiteren fachwissenschaftlichen Akzent setzen. Die so entfalteten Hallenser Konstel­lationen zeigen brennpunktartig, wie wenig lehrbuchmäßige Epochenabgrenzungen und Schablonen taugen, um die kulturellen Entwicklungen im 17. und 18. Jh. zu fassen, und wie facettenreich damit das sich erschließt, was als Frömmigkeitsgeschichte namhaft zu machen wäre. Hierzu bietet die en detail klug konzipierte Ausstellung viel Anschauungs- und Anhörmaterial.
Unbefriedigend bis ärgerlich ist dagegen die Präsentation der Entwicklungen im 19. und 20. Jh. Der Fachbeitrag von D. Hiller über das »Schicksal der protestantischen Kirchenmusik« im 19. Jh. schreibt die tendenziösen Schablonen der Geschichtsschreibung des 20. Jh.s fort, fokussiert sich mit sattsam Bekanntem auf die Größen Mendelssohn, Brahms und Reger als Beispiel für Konzertmusiker statt Kirchenmusiker und geht mit keiner Silbe auf die vielen Aspekte einer sich neu bildenden musikalischen Kultur in der volkskirchlichen Breite ein: Orgeln auf jedem Dorf, Lehrerorganis­ten, Fülle von extra dafür geschaffener Literatur etc. Der katego­riale Neuansatz der Kirchengesangvereins-Gründungen seit den 1880er Jahren kommt auch in der Ausstellung nicht vor, welche nur die instrumental anschauliche Posaunenchorbewegung würdigt. So bleiben die quantitativ und qualitativ nicht zu übersehenden Trägergruppen der Kirchenmusik im 20. Jh., die Kirchenchöre und Kantoreien, mit ihrer spezifischen reformatorischen Traditionspflege außen vor. Auch über den neuen Berufsstand der Kirchenmusiker erfährt man nichts, wiewohl in Halle eine der wichtigsten Ausbildungsstätten ansässig ist. Für die weitreichenden Neuaufbrüche nach 1960 darf dann das Danke-Lied (mit Hörstation) allein stehen. Dies gehört aber schon zum Club der über 50-Jährigen. Und wo bittesehr kommt die längst praktizierte musikalische Ökumene zur Geltung?