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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1379–1381

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Schult, Maike

Titel/Untertitel:

Im Banne des Poeten. Die theologische Dostoevskij-Rezeption und ihr Literaturverständnis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 502 S. m. 10 Abb. 23,2 x 15,5 cm = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 126. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-525-56349-6.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Nach Studien der Ostslavistik (Russistik) und der Evangelischen Theo­logie an den Universitäten Hamburg, St. Petersburg, Berlin und Halle legte Maike Schult, seit 2007 Wissenschaftliche Angestellte am Institut für Praktische Theologie der Christian-Alb­rechts-Universität Kiel, ihre Dissertationsschrift vor, nachdem sie bereits als Herausgeberin (gemeinsam mit Philipp David) von Wortwelten: Theologische Erkundung der Literatur (Berlin/Müns­ter 2011) sowie des Jahrbuchs der Deutschen Dostoevskij-Gesellschaft e. V. 2006 bis 2008 hervorgetreten war.
Die von Gabriela Lehmann-Carli (Slavistik) und Hermann Goltz (Theologie) betreute Arbeit wurde im Juli 2008 von der Philoso­phischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation auf dem Gebiet der Slavischen Philologie, Literatur- und Kulturwissenschaft angenommen. Gewidmet ist die re­zeptionshistorische Studie, die auch rezeptionsästhetische, phi­lo­logische, historische, hermeneutische und theologische Aspekte beinhaltet, den beiden Kirchenhistorikern Henneke Gülzow (1938–1997) und Hermann Goltz (1946–2010), dem theologischen Gutachter. Es handelt sich dabei um eine beachtliche, gut lesbare und die Materialfülle souverän bewältigende Arbeit, die die theologische Dostoevskij-Interpretation der letzten 100 Jahre wiedergibt und sie auf eine neue Grundlage stellt.
Auf die Einleitung (11–34) folgt das zweite Kapitel »Die Anfänge der theologischen Dostoevskij-Rezeption«, in denen dieselbe den Kategorien Mythologem (religiöse Auratisierung des Poeten als Apos­tel, Heiliger und Prophet), Theologem (Benutzung des Schriftstellers für eigene theologische Argumentationszusammenhänge) und Ideologem (die zeigt, wie während der NS-Zeit mit dem russischen Ro­mancier verfahren wurde, und ein bislang im Rahmen der Dostoevskij-Forschung ausgeblendetes Kapitel darstellt) zugeordnet wird. Ein drittes Kapitel trägt die Überschrift »Interferenz und Identifikation: Literatur als Lebenshilfe« (236–293) und ein viertes Kapitel, »Das Salz des Poetischen«, ist der Dostoevskij-Interpretation des Hallischen Ostkirchenkundlers Konrad Onasch (1916–2007) gewidmet. Auf das abschließende fünfte Kapitel »Im Banne des Poeten« (370–392) folgt eine beeindruckende Anzahl zusam­mengetragener Biogramme samt bibliographischen Angaben. Auch über wenig und nahezu unbekannte Grenzgänger, wie etwa Max Lackmann, Walter Schubart und Wilhelm Schümer, erfährt der Leser im Laufe der Lektüre Wesent­-liches. Abkürzungen (462), Abbildungen, Literaturverzeichnis (464–498) und ein Personenregister beschließen die Studie.
Von der Jahrhundertwende über die Dialektische Theologie – Eduard Thurneysens und Karl Barths Dostoevskij-Rezeption werden u. a. in den Blick genommen – bis hin zu Konrad Onasch spannt S. damit den Bogen, dabei unablässig das Literaturverständnis »der Theologen« kritisch reflektierend. Es »hat in der Slavistik einen schlechten Ruf« (31 u. ö.), wird sie nicht müde zu betonen. – Doch seien auch Monita nicht verschwiegen.
Als Untertitel hätte Die deutschsprachige theologische Dosto­evskij-Rezeption und ihr Literaturverständnis eher dem Inhalt entsprochen, wie S. selbst zutreffend bemerkt (11), um das Forschungsfeld gleich von Beginn an zu präzisieren. Der mehr als 100 Dostoevskij-Interpreten enthaltende Biogramm-Teil ist auch we­niger bekannten und vergessenen Personen gewidmet und bildet ein Novum in der Dostoevskij-Forschung.
Leider wurden einige Namen weder unter die Biogramme noch ins Personenregister aufgenommen, wie etwa Fedor Bucharev (319) und Konstantin Močul’skij (315). Auch die Einteilung der Biogramme überrascht. Obwohl S. im vorhergehenden Text poetologische Maßstäbe anlegte, ist die Einteilung doch grundsätzlich bedenkenswert und wäre geeignet, die Studie um weitere Aspekte zu bereichern. In jedem Fall sind die Biogramme – wie erwähnt – eine höchst beachtliche Leistung. Sie heben die Forschung auf eine neue Stufe und halten reichlich Material für kommende Arbeiten bereit.
Etwas eigenwillig gestaltet ist das alphabetisch geordnete Literaturverzeichnis mit dem jeweils vorangestellten Erscheinungsjahr, das gern um eine chronologische Anordnung hätte ergänzt werden können.
Eine herausragende Stellung in der Arbeit nimmt die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Konrad Onasch mit Dostoevskij ein, die sich über einen Zeitraum von nahezu 50 Jahren erstreckt und drei Monographien, die Dostoevskij-Biographie (1960) sowie die Studien »Dostoevskij als Verführer« (1961) und »Der verschwiegene Christus« (1976), hervorbrachte. Kritisiert wurde er sowohl von »westlichen Literaten« – so be­trachtet René Wellek die Biographie nicht als Onaschs eigene Leis­tung, sondern als verkürzte Wie­dergabe derer von Leonid Grossmann – als auch von marxistischen Ideologen. Eberhard Hüttner entdeckte »westliche Denkklischees« in Onaschs Publikationen und hielt die Art und Weise, wie er Emigrantenliteratur verwendete, für nicht opportun. Breite Anerkennung fand Onasch dagegen in der Slavistik mit seinen theolo­gischen Beiträgen zur russischen Kultur. Am Beispiel Dostoevskijs habe er, so S., über die Frage nach dem Verhältnis von Künstler und Kunstwerk, Rezeptionssteuerung und Erzählperspektivik so innovativ nachgedacht, dass sein Ansatz zu einer methodisch re­flektierten Zusammenarbeit der Disziplinen hätte führen können, wäre ihm nicht die Anerkennung seitens »der Theologen« versagt und somit das Potential seines An­satzes ungenutzt geblieben (359).
An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg promoviert, stellt sich S. mit ihrer Arbeit selbst in die Tradition Konrad Onaschs und legt zugleich eine Pionierarbeit vor, die aufgrund be­eindruckender Erudition in den Kapiteln, die die Theologie in der Weimarer Zeit, der NS-Zeit sowie im geteilten Deutschland behandeln, einen höchst beachtlichen Beitrag zu den russisch-deutschen kulturellen Beziehungen, zum Verhältnis von Literatur und Theologie sowie zur Zeitgeschichte leistet. Im Verhältnis zum Ertrag erscheinen die Monita marginal. So dürfen wir S. und ihrem Verlag zu dem Werk gratulieren und ihm eine weite Verbreitung wünschen, die im Unterschied zu den Arbeiten Onaschs dieses Mal Slavistik und Theologie gleichermaßen erreicht und damit künftig zu einer differenzierteren Wahrnehmung des russischen Poeten in der deutschsprachigen Theologie führt.