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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1371–1374

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Schröter, Ulrich, u. Harald Schultze[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Im Schatten des Domes. Theologische Ausbildung in Naumburg 1949–1993. Hrsg. in Verbindung m. P. Lehmann, A. Noack u. A. Steinhäuser.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 368 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03048-4.

Rezensent:

Gert Haendler

Der Band beginnt mit der bitteren Feststellung: Drei Kirchliche Hochschulen in der DDR – das Katechetische Oberseminar Naumburg, das Theologische Seminar Leipzig und das Sprachenkonvikt in Ostberlin – waren wegen der Hochschul- und Bildungspolitik der DDR gegründet und 1990 endlich staatlich anerkannt worden. Aber nach der Friedlichen Revolution und der Wiederherstellung der deutschen Einheit »entfiel der Bedarf«. Das Geld fehlte. Umso wichtiger ist der vorliegende Band, in dem mehrere Autoren ihre Erinnerungen einbringen. Überschneidungen werden aufgewogen durch die Vielzahl interessanter Gesichtspunkte. Das detaillierte Inhaltsverzeichnis, Dokumente, ausführliche Register, Fotos und Verzeichnisse erhöhen noch den Wert dieses Sammelbandes.
Raimund Hoenen beginnt seinen Überblick »Das Projekt im Wandel« mit dem Schulbeginn am 1.10.1945, dessen Stundenplan keinen Religionsunterricht vorsah. Die EKD bildete 1946 die Kirchliche Erziehungskammer Ost. In der Kirchenprovinz Sachsen be­gann das Katechetische Seminar Naumburg im Juni 1947 die Ar­beit, für die auch Otto Eißfeldt von der Theologischen Fakultät Halle votiert hatte. Die Kirchenprovinz trug die finanzielle Last, später halfen die EKU und das Hilfswerk. Umstritten war das Kon zept, zumal nach Erweiterung für Pfarramtstheologen 1951 (16). Erster Rektor war 1951–55 Ernst Kähler. 1960 trat das »Statut des Katechetischen Oberseminars Naumburg« in Kraft. Nach Gründung des Kirchenbundes in der DDR 1969 verschob sich das Zentrum der Ausbildung weiter zur Pfarrerausbildung. Die Gemeindepädagogik blieb mit im Blick, aber nach 1990 hatte die Naumburger Hochschule »keine Zeit und Gelegenheit mehr, selbst eine Lehrerausbildung einzurichten« (27).
Kapitel II »Die Hochschule im Wandel der Jahrzehnte« beginnt mit dem Bericht von Peter Lehmann über »Die Anfangszeit 1949–53« und »Erweiterung um die Theologenausbildung 1953–1960«. Hans-Wilhelm Pietz erinnert an die Jahre 1960–90: »Kirchliche Hochschule ohne staatliche Anerkennung«. Seit 1960 gab es ein Kuratorium mit Vertretern aus Kirchenleitung, Konsistorium, Gliedkirchen der EKU, Dozentenkollegium sowie einem Mitglied der Theologischen Fakultät Halle (Sektion Theologie). Den Vorsitz übernahm Bischof Jänicke (53). 1963 studierten 92 Studenten in Naumburg. 1974 nannte Staatssekretär Seigewasser Naumburg »die reaktionärste kirchliche Ausbildungsstätte der DDR« (73). Kapitel II.2.2.2 »Auf dem Wege zur kirchlichen Hochschule« zitiert Rektor Nikolaus Walter, der 1980 vom Ende der Gründergeneration sprach. Pro­bleme ähnelten denen der Sektionen: Reisen in den Westen kamen zustande – jedoch nur als »gewährtes Vorrecht« (83). Naumburger Dozenten wurden nach Jena berufen: Martin Seils 1982 und Nikolaus Walter 1986.
Wie in den Sektionen stellten unruhige Studenten in Naumburg die Lehrer vor Entscheidungen. Richard Schröder erinnert sich, er habe im Mai 1989 Studenten geraten, bei Protesten in den Kirchen zu bleiben, weil Demonstrationen auf den Straßen zusam­mengeschossen werden könnten. »Ob das ein überängstlicher Ratschlag war, wie unsere Studenten sicher gemeint haben, oder nicht, darüber bin ich mir selbst im Rückblick nicht ganz sicher« (90). Seit 1990 führte man den Namen »Kirchliche Hochschule Naumburg« und erhielt das Promotions- und Habilitationsrecht (103). Man erhoffte eine Übernahme an die Universität Erfurt als Evangelische Fakultät neben einer katholischen Fakultät. Aber am 1. Juli 1993 wurde die Hochschule in Naumburg ge­schlossen. Der letzte Rektor Eckart Reinmuth stellte fest: »Die Theologie ist eine Lebensfunktion der Kirche, nicht des Staates. So dankbar wir für die Theologischen Fakultäten sein müssen – die Kirche darf diese Lebensfunktion nicht von sich aus abschneiden« (109). In Kapitel II.3 »Zusätz­liche Ausbildungszweige und Aktivitäten« berichtet Hans-Martin Harder über die Juristenausbildung: Aus zwei Kursen gingen 21 Juristen für die Kirchen hervor (112). 1996 begannen Theologische Sonderkurse für Katecheten. Martin Onnasch informiert über die von ihm geleitete Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte. Erstes Projekt war das Kommuniqué vom 21. Juli 1958. Eine Untersuchung »Die Gründung des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR 1968/69« erarbeitete den Anteil der DDR-Landeskirchen und zeigte, »daß auch die EKD einen erheblichen Anteil an den Vorbereitungen und deshalb ein größeres Gewicht an dem Prozeß der Trennung hatte« (124).
Kapitel II.4 »Vielfalt des Lebens, Lehrens und Studierens« be­ginnt mit dem Studium generale. Frühe Vorlesungsverzeichnisse nennen einen »Block Naturwissenschaften«. 1970 ging es um Psy­chologie in der modernen Medizin, 1972 um Literatur, Städtebau und Umwelt, später gab es eine »Einführung in die Relativitätstheorie« (127). Richard Schröder hatte in Naumburg studiert und lehrte seit 1977 dort Philosophie, auch über Texte von Marx und Engels (134). Fairy von Lilienfeld hatte Studien zur orthodoxen Kirche in Russland begründet, Günter Schulz berichtet über die Fortsetzung dieser seit 1970 von ihm geleiteten Arbeit. Kapitel II.4.4 informiert über »Debatten um Studienreform und Mitbestimmung der Studierenden«. 1970/71 hatte Wolfgang Ullmann offenbar weitreichende Thesen aufgestellt, die jedoch »nicht einmal an­satzweise umgesetzt wurden«, weil sie die Kompatibilität mit den Fakultäten in Ost und West aufgegeben hätten (142). Damals hat es auch an Sektionen Reformdebatten ohne spürbare Ergebnisse gegeben. In Kapitel II.4.5 »Geselliges Leben und Feiern, Geistliches und Geistiges« nennt Ulrich Schröter viele Dichter, die ohne Honorar nach Naumburg gekommen sind, darunter Franz Fühmann, Stefan Heym und Stephan Hermlin (155). Die Arbeit war verzahnt mit der ESG, über die Axel Noack informiert. Kontakte zur ESG Marburg brachten Spannungen, denn dort sahen manche »im DDR-Sozialismus eine echte Alternative« (161). Bettina Plötner-Walter erin­-nert an die Naumburger ESG in der »Vor-Wendezeit«. Die staatskritischen Aktivitäten kleiner Gruppen wurden vom Oberseminar gedeckt, zugleich sorgte sich das Dozentenkollegium um den Fortbestand des Hauses. »Wir genossen den Schutz und rieben uns an den Reglementierungsversuchen« (166).
Abschnitt III »Partnerschaft in Kirche und Gesellschaft« eröffnet Matthias Sens mit dem Thema »Hochschule neben Universitäten – das Oberseminar und die Fakultät/Sektion für Theologie in Halle«. Die EKD wollte die Fakultäten im Osten erhalten, aber die Studenten strebten zunehmend an Kirchliche Ausbildungsstätten. Man sah auf beiden Seiten das Problem. Prüfungsort blieb die Theologische Fakultät Halle, aber 1973 musste Gerhard Delling mitteilen, »daß uns die Räume der Sektion Theologie für die Abhaltung des ersten kirchlich-theologischen Examens aufgesagt worden sind« (178). Nun wurden die Prüfungen »auf Dauer nach Naumburg verlegt« (ebd.). Zehn Personen haben in Naumburg Qualifikationsprüfungen abgelegt, die 1990 als Promotionen anerkannt wurden (182). Rektor Johannes Hamel betonte 1967 in Naumburg, mit den Theologischen Fakultäten sei man freundschaftlich verbunden und wolle »ein gemeinsames Zeugnis der Wahrheit von Tag zu Tag suchen und finden« (185). Hans-Georg Hafa und Martin Kramer schildern das »Verhältnis zu den Kirchen« (III.2). Ulrich Schröter berichtet in III.3 vom Verhältnis zu den Kirchengemeinden in Naumburg und Umkreis. In Abschnitt III.4 geht es um charismatische Gruppen, die bei der theologischen Arbeit eine »selbstherrliche Verfügung über Gottes Wort« befürchteten. Am meisten Verständnis fanden sie bei den Kirchenhistorikern Wolfgang Ullmann und Günter Schulz (197).
Abschnitt IV »Unter Aufsicht und Überwachung staatlicher Organe« von Katharina Walter beginnt mit Beziehungen zur Stadt Naumburg. Man war »vom Wohlwollen der Abteilung Wohnungspolitik beim Rat der Stadt abhängig« (205). Harald Schultze berichtet von »Überwachung und Einflussnahme staatlicher Stellen auf das KOS« (IV.2). Das Oberseminar war nicht als Hochschule anerkannt, örtliche Stellen wie die Reichsbahn sprachen aber von Studierenden (208). Es war vermutlich »auch dem Verhandlungsgeschick von Rektor Ernst Kähler zu danken, dass bestimmte Hürden genommen werden konnten« (210). 1955 forderte das Sekretariat des ZK der SED, »eine Klärung über Unterstellung und Aufgaben der kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Erfurt herbeizuführen« (211). Die SED sprach also von einer kirchlichen Hochschule! 1966 folgte Horst Sindermann, 1. Sekretär der SED im Bezirk Halle, einer Einladung nach Naumburg (215).
Für die Jahre 1980–90 gab es äußerlich Burgfrieden, Bemühungen der Stasi blieben. Von keinem hauptamtlichen Mitarbeiter ist eine IM-Tätigkeit bekannt. Aber das MfS war gut informiert: Stasi-Offizier Detlef Hammer hatte als juristischer Dezernent im Konsistorium alle Unterlagen, er kannte die finanziellen Zuschüsse aus dem Westen (220). Illegale Buchtransporte aus Westberlin über die Wohnung Konrad von Rabenaus in Schöneiche blieben aber verborgen (244). Die Details der Finanzierung mit westlicher Hilfe werden späteren Generationen – erfreulicherweise – kaum noch verständlich zu machen sein. Umso dankenswerter ist es, dass der Sammelband so viele Ereignisse in engagierter Weise schriftlich festhält.