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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1367–1369

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Geißler, Hermann Otto

Titel/Untertitel:

Ernst Ludwig Dietrich (1897–1974). Ein liberaler Theologe in der Entscheidung. Evangelischer Pfarrer – Landesbischof – Religionshistoriker.

Verlag:

Darmstadt: Verlag der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 2012. XXVI, 630 S. m. Abb. 23,5 x 15,5 cm = Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 21. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-931849-35-1.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Die umfangreiche Monographie über den ehemaligen nationalsozialistischen Landesbischof der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen schließt eine Forschungslücke in der Aufarbeitung des »Kirchenkampfs«, des Weges, den die Evangelische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus beschritt. Sie wurde 2009 von der Goethe-Universität Frankfurt als Dissertationsschrift angenommen. Hermann Otto Geißler konnte bei der Erarbeitung auf seiner Mitarbeit an der »Dokumentation zum Kirchenkampf in Hessen und Nassau« (1986–1996) aufbauen und das Material durch die Analyse zahlreicher Dokumente aus dem Zentralarchiv der EKHN, weiterer Archive und umfangreicher zeitgeschichtlicher Dokumente, nicht zuletzt der vielen Publikationen Dietrichs, ergänzen und seine Auswertung vertiefen. Einleitend entfaltet G. eine Übersicht über die Erforschung des Kirchenkampfs seit 1946 sowie einige Reflexionen zur historischen Methode als theoretische Grundlegung für seine Arbeit. In funktional wertvollem Bezug zum Thema der Mo­nographie erscheinen im Vergleich zu den anderen Abschnitten dabei vor allem die Ausführungen zur Kirchenkampfforschung in Hessen und Nassau, die dem Leser die Entstehung der genannten Kirchenkampfdokumentation in ihrem Bezug zur Geschichte der EKHN von Heinrich Steitz veranschaulicht. Nach den theoretischen Vorüberlegungen beginnt die Monographie als Biographie und schildert Ernst Ludwig Dietrich als begabten jungen Menschen, der in Worms als Gymnasiast früh seine besondere Begabung für die alten Sprachen wie auch sein musikalisches Talent zur Entfaltung brin gen konnte. Als junger Mensch bereits wurde der im Kaiserreich Aufwachsende durch Elternhaus und Umgebung national und liberal geprägt. Zudem bleibt die traditionelle Lutherverehrung der Stadt Worms wie auch die konfessionelle und religiöse Mischung in der Stadt einschließlich der traditionsreichen jüdischen Gemeinde nicht ohne Einfluss auf seine Entwicklung. Obwohl er wegen einer Lungenerkrankung sein Studium unterbrechen musste, konnte er 1919 sein erstes, 1920 sein zweites theologisches Examen ablegen, zugleich konnte er bereits ebenfalls 1920 mit 23 Jahren in Gießen bei Hermann Gunkel im Fach Altes Testament promovieren und trotz erschwerter Bedingungen durch räumliche Entfernung im ersten Pfarramt in Mainz bereits 1922 bei Paul Kahle im Fach Arabisch und Islam. Beide akademischen Lehrer haben ihn geprägt. Dietrich, der bereits 1932 in die NSDAP eintritt, hat sich die Liebe zu den semitischen Sprachen und zum Alten Testament auch niemals austreiben lassen, was seinem Ansehen bei den Nationalsozialisten nicht im­mer förderlich war. G. beschreibt Dietrich eingehend als eine äußerst zwiespältige Figur – noch einmal zusammenfassend verdeutlicht im Schlusskapitel (522).
So »gelingt« es Dietrich nach eigener Einschätzung, das Alte Testament vom Judentum der Gegenwart zu trennen: Kein historisch denkender Mensch könne »das Judentum der Gegenwart, dies heimatlose, internationale und weithin von seiner Überlieferung abgefallene Gebilde, das die Völker der Erde parasitisch durchwächst und gefährdet, ohne weiters mit dem Judentum der Zeit Jesu gleichsetzen« (71 f.). Damit bedient sich Dietrich eines Interpretations­mus­ters, das wir auch von anderen Theologen der Zeit wie etwa Walter Künneth – kirchenpolitisch anders orientiert als Dietrich – kennen. Bemerkenswert dabei ist, dass Dietrich dennoch, wie er – von G. ausführlich dargestellt – nach dem Krieg rechtfertigend vorbringen kann, einzelnen Menschen jüdischer Herkunft hilft und auch einen (getauften) Juden beerdigt. Ähnliches ist ja auch von Ludwig Müller bekannt. Von nationalsozialistischer Seite trägt ihm seine Stellung zum Alten Testament Kritik ein, sogar der Antisemit Theodor Fritsch nimmt Dietrich in seinem »Handbuch der Judenfrage« deshalb aufs Korn, ebenso verschlechtert sich deshalb sein Verhältnis zu einem seiner Gönner in der Partei in Wiesbaden, Dr. Walter Fink. Dietrichs Mitgliedschaft in der NSDAP, seine Beziehungen zu Fink und vor allem zu dem aus der Kir chenkampfgeschichtsschreibung hinreichend bekannten Landgerichtsrat, dann Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium, August Jäger, ebenfalls einem Wiesbadener, sollten dazu führen, dass er im Zuge der Bildung einer Landeskirche aus den drei Kirchen in Nassau, Frankfurt und Hessen im Jahre 1933 zum Landesbischof ernannt wurde.
Ausführlich schildert G., wie bereits bei der Bildung der Evangelischen Kirche Nassau-Hessen nach dem Führerprinzip verfahren wurde, weshalb die Rechtmäßigkeit der Ernennung Dietrichs zum Landesbischof auch immer wieder in Zweifel gezogen wurde. Eingehend beschreibt G. durch die Dokumentation einzelner Maßnahmen, auf welche Weise Dietrich, der sein Amt im Februar 1934 antrat, bis zum November 1935 sein Amt ausübte. Dabei werden vor allem die willkürlichen Maßnahmen gegen einzelne Pfarrer, Zwangsversetzungen, Erlasse und Verbote ausführlich geschildert. Dass er letzten Endes scheiterte, wurde auch dem inzwischen eingesetzten Reichskirchenminister deutlich, weshalb Dietrich entmachtet wurde. Erweiterter Landeskirchenrat und Landeskirchenausschuss waren Gremien, die einem vom Reichskirchenminis­terium gewünschten Befriedungsversuch zwischen den verhärteten Fronten der Bekennenden Kirche und der Deutschen Christen dienten. Letzteren war Dietrich kirchenpolitisch zuzurechnen, ob­wohl er dieser Bewegung, wie G. mehrfach gegen Karl Herbert betont, nie beitrat. Deutlich wird in der Monographie vor allem, dass Dietrich aus Gründen seines theologischen und wissenschaftlichen Standorts der Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Chris­ten nicht zu folgen vermochte, deutlich wird aber auch, dass er bis Ende 1936 um sein Amt kämpft und deshalb auch Kontakt zu den Eisenachern aufnimmt, obwohl er sie theologisch ablehnt. Er setzt seine Entfremdung von den Deutschen Christen und dem Nationalsozialismus später bereits 1935 an. G. beschreibt, dass er sich zur Jahreswende 1936/37 noch gewisse Hoffnungen im Kampf um sein Amt machte, jedoch zunehmend in Isolation geriet. So erscheint die Entwicklung der Jahre 1936 und 1937 als ein wachsender Entfremdungsprozess, der 1938 endgültig zu einer Neuorientierung führt. Sein Bischofsamt konnte er zwar nicht mehr machtvoll ausüben, formal hat er es jedoch nie zur Verfügung gestellt, zu Repräsentationszwecken auch gern das goldene Amtskreuz getragen, was dem Rezensenten spätere Beteuerungen, Dietrich habe sich nicht ins Amt gedrängt u. Ä., fragwürdig erscheinen lässt.
Sein Wandel ist auch begleitet vom dauerhaften Konflikt mit dem juristischen Leiter der Landeskirche Paul Kipper, der nach Auflösung des Landeskirchenausschusses die EKHN verantwortlich in allen ad­ministrativen Dingen führt, ebenso mit Richard Olff, von dem er sich bereits früher distanziert, zumal dieser auch denunziatorisch mit der Gestapo zusammengearbeitet hat. Kirchenpolitisch wendet sich Dietrich von den Deutschen Christen ab, hält aber auch Distanz zur Bekennenden Kirche, wird zum Mann der Mitte. Der Versuch, vom Bischofsamt zu einer akademischen Lehrtätigkeit zu wechseln, scheitert, erst nach dem Krieg kann er in Frankfurt eine solche neben dem Pfarramt her aufnehmen. Am besten dokumentiert sich sein Wandel wohl in seiner Tätigkeit im sog. Einigungswerk Nassau Hessen zusammen mit seinen früheren Gegnern Karl Veidt und Propst Dr. Friedrich Müller. Eindrucksvoll ist dabei vor allem die stetige Auseinandersetzung mit Kipper um die Abgrenzung zwischen ju­-ristischer und geistlicher Leitung, eindrucksvoll sind auch die Stellungnahmen zum Ausschluss getaufter Juden aus der Kirche, die allerdings nur im Entwurf vorliegen, und sein Handeln im Zusam­menhang mit der Reichspogromnacht. G. zeigt im Schlusskapitel (Entlastung) den schwierigen Prozess der Rehabilitierung Dietrichs und auch, wie schwer es dieser Persönlichkeit fiel, eigene Schuld einzusehen; positiv bewertet er das Wirken Dietrichs vor allem an der Marktkirche nach dem Krieg. Wie weit Dietrichs theologische Verankerung in Liberalismus und Religionsgeschichtlicher Schule ihn weniger vor seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus schützte als der »orthodoxe Biblizismus der Bekenntnisfront«, versucht G. vorsichtig zu analysieren.
Die außerordentlich fleißig erarbeitete Monographie überzeugt durch ihre Materialfülle, durch ausführliche Wiedergabe der Quellen, deren Auswertung meist sehr behutsam erfolgt. Manchmal – besonders im Schlusskapitel bei der Wiedergabe der Argumente Dietrichs – hätte man sich etwas mehr korrigierende Eingriffe G.s gewünscht. Wertvoll sind auch die im Anhang abgedruckten Dokumente, Selbstzeugnisse Dietrichs und Texte anderer Personen. Insgesamt liegt mit G.s Monographie ein außerordentlich wertvoller Beitrag zur Erforschung des Kirchenkampfes vor, und zwar einer bisher weniger beachteten Perspektive.