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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1365–1367

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bauer, Gisa

Titel/Untertitel:

Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 796 S. 23,2 x 15,5 cm = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 53. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-525-55770-9.

Rezensent:

Martin Greschat

Die weltweite Bedeutung der evangelikalen Frömmigkeit in ihren vielfältigen Ausprägungen ist bekannt. Man hat sie mehrfach als die »eigentliche Form eines der Moderne zugewandten Protestantismus« bezeichnet (z. B. Donald M. Lewis, Christianity Reborn, 2004, 2). Dieses Urteil gilt aber sicherlich kaum für die evangelikale Bewegung in der alten Bundesrepublik. Von ihr handelt die vorliegende Untersuchung von Gisa Bauer, eine Leipziger theologische Habilitationsschrift. Sie bearbeitet die Jahrzehnte von etwa 1945 bis 1989/90; ausgeblendet bleiben die Vorgänge in der DDR sowie pfingstlerisch und charismatisch geprägte Gruppen. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die »Wechselwirkung« der evangelikalen Bewegung »mit der Kirche« (16). Hier wie da werden primär die leitenden Kreise in den Blick genommen.
Nach methodologischen Vorüberlegungen – u.a. zum Begriff »evangelikal« (15–44) – bietet B. als »Annäherung an das Thema« einen umfangreichen »phänomenologischen« Abschnitt über den Evangelikalismus, insbesondere sein Bibelverständnis, die wissenschaftliche Theologie, die Abgrenzungen von der Institution Kirche sowie seine Neigung zum Fundamentalismus (45–116). Die In­homogenität der theologischen Aussagen zu jenen Themen wird überzeugend herausgearbeitet. Dabei drängt sich allerdings die Frage auf, was diejenigen denn verbindet, die jener »Bewegung« angehören. Zur Erfassung dieses Phänomens reichen wissenschaftlich-theologische Kriterien offenkundig nicht aus. Dabei ging (und geht) es – um nur einiges anzudeuten – neben der Betonung des personal erfahrenen Glaubens an die Erlösungstat Christi durch seinen Tod am Kreuz stets zugleich um die emotionale Einbindung in traditionsgesättigte Gemeinschaften mit Gleichgesinnten, die durchaus über theologische und konfessionelle Grenzen hinausreichen konnten, verbunden mit dem Be­wusstsein, gegenüber der ungläubigen »Welt« mitsamt der Volkskirche als die kleine auserwählte Schar auf der Seite Gottes zu stehen. Diese Dimension kommt in der vorliegenden Arbeit lediglich am Rande in den Blick.
Die Behandlung der evangelikalen Trägergruppen im dritten Kapitel der Studie (117–258) ist erneut weit gespannt, materialreich und insofern instruktiv. Doch die religiös-theologischen Konzeptionen der zur Evangelischen Allianz zählenden Gruppen sowie der im Gnadauer Verband zusammengeschlossenen Vereinigungen der Gemeinschaftsbewegung und insbesondere die hier gepflegten und gelebten Traditionen bleiben blass. Daraus resultiert eine Engführung im folgenden Kapitel, das die Kontroversen um Bultmanns Theologie mitsamt deren Auswirkungen in der Zeit von 1945 bis 1966 behandelt (259–423). Die These, dass sich »seit 1950 ein evidenter Bruch zu der pietistisch-erwecklichen Tradition« konstatieren lasse (261) und dass nun Elemente der lutherischen Orthodoxie Eingang in das evangelikale Denken fanden (262), erscheint nicht überzeugend. Blickt man etwa auf Tholucks ungemein er­folgreiche Schrift »Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner«, ist sogleich unübersehbar, dass im Anschluss an die breite Entfaltung der Notwendigkeit, die persönliche Verfallenheit an die Sünde an­zuerkennen, die dann geschenkte »Himmelfahrt« der Gotteserkenntnis ebenso eindeutig wie selbstverständlich die traditionellen Lehren der lutherischen Orthodoxie aufnimmt. Bereits in der Erweckungsbewegung vollzog sich also der von B. auf die 50er Jahre des 20. Jh.s datierte Bruch.
Sicherlich reflektierten die Gegner Bultmanns nicht ihr eigenes hermeneutisches Vorverständnis. Fraglos besaßen sie auch keine oder höchstens rudimentäre Kenntnisse der akademischen Theologie. Man darf diesen Sachverhalt aber wohl in einen größeren Zusammenhang rücken: Die während des Kirchenkampfes sei-tens der Bekennenden Kirche bestehende enge Verbundenheit zwischen Gemeindefrömmigkeit und wissenschaftlicher Theologie löste sich nach 1945 zunehmend auf. Dadurch verlor ein an die Verbalinspiration heranreichendes Bibelverständnis, das in den Gemeinden weit verbreitet war, an Selbstverständlichkeit. Doch zu Recht hat man die 50er Jahre auch als die »goldene Zeit« der bibelzentrierten Frömmigkeit bezeichnet (R. Boyd, The Witness of the Student Christian Movement, 2007, 60). Der 1950 erschienene dritte Teilband der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth förderte zudem ein Verständnis der Bibel, wonach die Propheten und Apos­tel unmittelbar zu heutigen Menschen reden (KD III/3, besonders 227–238). Es waren also keineswegs nur wenige oder schlecht ausgebildete Pfarrer, die mit einer strengen historisch-kritischen Me­thode wenig anzufangen wussten. Diese Einstellung begegnete also nicht nur bei evangelikalen Persönlichkeiten und Gruppierungen, sondern das war die Überzeugung eines großen Teils der Gemeindeglieder. Mehr noch: Ebenso dachten mindestens einige kirchenleitende Persönlichkeiten. Von Ernst Wilm (437–444.466–481) und Hermann Dietzfelbinger (530–533) ist dann folgerichtig auch die Rede. Zunächst werden allerdings eingehend vor allem die Angriffe auf Bultmanns Theologie in der ersten und zweiten Phase ge­schildert, d. h. 1950/51 und 1961/1963 (280–321.321–350).
Handelt es sich bei der evangelikalen Bewegung um eine »innerprotestantische ›neue soziale Bewegung‹«, fragt B. im Anschluss daran (424–436). Sicherlich lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten und partielle Übereinstimmungen hier wie dort finden. Doch gerade das soziale, auf die Veränderung der Gesellschaft zielende Element scheint mir in der evangelikalen Bewegung zu fehlen. Trifft es denn zu, dass die Evangelikalen über ihre Kirchenkritik hinaus einen um­fassenden Neubau der evangelischen Kirche wollten?
Von dieser Kritik und den damit verbundenen Konflikten mit den Landeskirchen ist im großen letzten Teil der Arbeit ausführlich die Rede (437–660). Breit und differenziert wird die bereits angesprochene weitreichende Verbreitung eines Biblizismus mitsamt dem darauf basierenden religiös-theologischen Gedankengut dargelegt. Die Leitungen der Landeskirchen reagierten uneinheitlich, zeigten sich je­doch durchgängig um Ausgleich und Kompromisse bemüht: Immerhin lebte und bewegte sich ein beträchtlicher Teil der Kirchentreuen im Umkreis jener Frömmigkeit! Die evangelikalen Ar­beitsschwerpunkte in den 70er Jahren ließen jedoch bereits unterschiedliche Ak­zentuierungen erkennen (591–637). Seit Beginn der 80er Jahre setzte sich diese Ausdifferenzierung fort. Unverkennbar dominierte nun ein Pluralismus innerhalb der evangelikalen Bewegung (637–660).
Die Zusammenfassung der Arbeit (661–674) gipfelt in der Zu­stimmung zu der steilen These Wolfgang Hubers, die evangelische Kirche bilde den »Herzschrittmacher der modernen bundesrepublikanischen Demokratie« (669). Die Begründung dafür liefert hier die Integration der Evangelikalen in die Landeskirchen. Aber kann davon wirklich die Rede sein? Anders formuliert: Ist das traditionelle Verhältnis der Nähe wie auch Spannung zwischen den beiden Größen momentan nicht eher ruhiggestellt als gelöst? Mir scheint, dass der Einfluss der Evangelikalen und mithin ihr Selbstverständnis und Selbstbewusstsein auf den verschiedenen kirchliche Handlungsfeldern weiter gewachsen ist.
Auf einige Fehler und sachliche Ungenauigkeiten sei hingewiesen. Kurt Scharf war keineswegs der »Vordenker« der Ostdenkschrift (564), schloss sich ihren Aussagen dann allerdings engagiert an. Das in der DDR geltende Modell der Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch wurde nach der Vereinigung beider deutscher Staaten keineswegs für die gesamte Bundesrepublik übernommen, sondern vom Bundesverfassungsgericht verworfen (597, Anm. 554). Der Sonderfonds des Antirassismus-Programms des ÖRK sah nie »die finanzielle Unterstützung revolutionärer, ge­walttätig operierender Gruppen in Afrika und Lateinamerika« vor (604). Mit dieser Verleumdung argumentierten die Gegner des Projekts. Richtig ist, dass der Ökumenische Rat darauf verzichtete, die Verwendung der Gelder in den von ihm ausgesuchten Gruppen zu überprüfen. Schließlich: Auch wenn die Entfernung von Leipzig nach Niedersachsen weit ist, liegt dort die Lüneburger Heide und nicht in Nordrhein-Westfalen (186)!
Insgesamt hinterlässt die Arbeit einen ambivalenten Eindruck. Beachtlich ist die Fülle des bearbeiteten Materials, ebenso die weitgespannte und zugleich differenzierte Behandlung der verschiedenen Personen, Gruppierungen, Organisationen und Institutionen. Schwächer erscheint demgegenüber die Einbindung in den historischen, kirchengeschichtlichen und religiösen Kontext. Dasselbe gilt im Blick auf die insgesamt eher geringe systematische Durchdringung des Stoffes. Doch niemand, der sich mit den Evangelikalen nach 1945 befasst, ihrem Widerspruch gegen die Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Schüler und insofern mit einem wichtigen Aspekt der Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, kann an dieser Studie vorübergehen.