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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1361–1363

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Weiß, Otto

Titel/Untertitel:

Weisungen aus dem Jenseits? Der Einfluss mystizistischer Phänomene auf Ordens- und Kirchenleitungen im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2011. 288 S. m. Abb. 22,0 x 14,0 cm. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-7917-2389-1.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Die bereits 1912 von Ernst Troeltsch in den Soziallehren festgestellte Bedeutung neuerer esoterischer Strömungen, vor allem des Spiritismus, für die alternativ-religiöse Entkonfessionalisierung gerade »gebildeter Schichten« ist lange Zeit in der Forschung zum 19. Jh. vernachlässigt worden. Jüngere Arbeiten wie etwa Diethard Sawi-ckis Leben mit den Toten (2002) oder Karl Baiers Meditation und Moderne (2009) haben Troeltschs Urteil nachdrücklich unterstrichen, inwieweit nämlich aus dem philosophisch-theologisch-na­turwissenschaftlichen Diskurs der moderne »wissenschaftliche« Spiritismus, Okkultismus und die Theosophie erwachsen sind und das Profil von Kirche und Wissenschaft auf vielgestaltige Weise geprägt haben – häufig als kirchenkritische Bewegungen.
Mit der Studie von Otto Weiß, einer Neufassung von Abschnitten seiner 1983 erschienenen Dissertation über die Geschichte der bayerischen Redemptoristen, liegt eine spezifische Perspektive auf den großen Einfluss des Spiritismus im 19. Jh. vor, den man als »getauften« (133) oder noch genauer als katholisch-mariologischen, ja vielleicht als papalistischen Spiritismus bezeichnen kann.
Mitten in der Hochzeit spiritistischer Phänomene etablierte sich 1847 im Altöttinger Kloster der erst ein paar Jahre zuvor nach Bayern gekommenen Redemptoristen ein weibliches Medium (Louise Beck), deren »Schutzgeist«, nach anfänglichen Widerständen, von den Patres als Mittlerin zur Gottesmutter Maria anerkannt wurde, zumal sie auch körperliche Stigmata aufwies (23–34). In den folgenden 40 Jahren erlangte dieses Medium zusammen mit wechselnden Beichtvätern einen politischen Einfluss, der sich von der Kontrolle der gesamten Kongregation der Redemptoristen auf die bayerische Kirchenpolitik bis nach Rom erstreckte. Zum Fundament gehört der christianisierte Spiritismus der katholischen Romantik – man denke besonders an J. v. Görres ( Die christliche Mystik) –, der den einflussreichsten Beichtvater Becks geprägt hat (131.133). Dass solche Prägungen kein Ausnahmefall waren, zeigt die geradezu bedingungslose Anerkennung der sog. »Höheren Leitung« durch den Münchener Erzbischof und späteren Kurienkardinal Reisach und seinen Generalvikar, den einflussreichen Theologieprofessor Friedrich Windischmann, Bruder des Bonner Historikers, Mediziners und Philosophen Carl Joseph Windischmann, dessen Rolle für den »wissenschaftlichen« Mesmerismus und seine Transkulturation in indische Kontexte gerade von dem genannten Baier (221–246) be­tont worden ist.
So entstand ein kirchenpolitisches Netzwerk, das Gegner und Skeptiker der »Höheren Leitung« jahrzehntelang scheinbar mühelos kaltstellte, durch Amtsenthebungen und Versetzungen, verschleppte Prozesse, angedrohte Inquisition und ignorierte Gutachten im Auftrag der »Höheren Leitung«. Bemerkenswert sind die kirchenpolitischen Kontexte, in denen die »Höhere Leitung« über Ordensprovinziale und Bischöfe Einfluss ausübte, wobei W. einem zeitgenössischen protestantischen Urteil unerwartet Recht gibt, dass nämlich Ultramontanismus nichts anderes als »Obskurantismus« sei (131). Denn die unter »Höherer Leitung« stehenden Kirchenpolitiker wandten sich gegen alle liberalen Tendenzen und setzten sich für die strikte Rom-Orientierung einer vom Staat unabhängigen Kirche ein. Besonders die Würzburger Bischofskonferenz von 1848, die von Reisach als Führer des bayerischen Episkopats geprägt war, die zunehmende Konfrontation Reisachs gegenüber dem Staat, die Zugeständnisse des bayerischen Staates an die Kirche (175), ja vor allem auch die sich bereits abzeichnende und 1870 vollendete Kluft zu den Repräsentanten der »deutschen Theologie« um I. Döllinger sind hier zu nennen. Der Regensburger Bischof Senestry betrieb im Auftrag der »Höheren Leitung« sogar die Indizierung seines aufklärerischen Vorgängers J. M. Sailer (230–241) und versuchte, die auch wegen ihrer mystizismuskritischen und rationaleren Theologie (131) als Konkurrenz empfundenen Jesuiten beim Papst kirchenpolitisch weiterhin zu isolieren (231).
Zwar misslang der Versuch, Pius IX. persönlich der »Höheren Leitung« (237) zu unterwerfen, aber es wird deutlich: An der Genese von römisch-katholischem Ultramontanismus und Antimodernismus, an der parallelen Repression gegenüber den Liberalen und der kritischen Schule Döllingers bis hin zu den Infallibilitätsdebatten, mithin also an zentralen kirchlich-theologischen Vorgängen war ein spiritistisches Medium maßgeblich beteiligt, das »mariisiert«, auf diese Weise verkirchlicht und dadurch zugleich selbst an die Spitze der kirchlichen Hierarchie gelangt war.
Die »Höhere Leitung« ist der zeitgenössischen Öffentlichkeit im Gegensatz zu den populären spiritistischen Nekromanten und Seancen verborgen geblieben, innerkirchlich (bis nach Rom, 122) trotz aller Konspiration aber durchaus nicht. W. hat auf der Basis der umfangreichen Korrespondenz, von Personalakten und geistlichen Tagebüchern aus kirchlichen Archiven die verborgenen Debatten nachgezeichnet. Seine ursprüngliche Absicht (1983), an­gesichts eines zu dieser Zeit unter den bayerischen Redemptoristen populären weiblichen Mediums (»Engelwerk«) durch die Aufarbeitung der Höheren Leitung vor der Annahme »allzu elitäre[r] geistbewegte[r] oder wundersüchtige[r] Gruppierungen und Sekten in­nerhalb der katholischen Kirche« (246) zu warnen, hat sich kaum im Text selbst niedergeschlagen. W. folgt eng den Quellen und hält sich – meist – mit der Bewertung der Ursachen der behandelten Phänomene zurück, nicht ohne manchen beteiligten Personen psychopathische Züge (130.143) zu bescheinigen oder auch gezielten Betrug nahezulegen. Dass er als »anthropologisch« orientierter Historiker das letzte Urteil Psychologen und Psychoanalytikern überlassen will (130), scheint mir aber eine unnötige und auch irreführende Kompetenzabtretung zu sein, weil dadurch inkompatible historische Referenzrahmen untereinander vertauscht würden.
Dafür arbeitet W. immer wieder auch andere als »rein« spiritis­tische Momente heraus wie etwa gewaltige finanzielle Schulden, problematische moralische Verfehlungen, Bußpraxis und die Ar­kandisziplin, die die Betroffenen trotz aller persönlichen Zweifel immer wieder fest an das Medium und ihren Beichtvater banden. Das allein erklärt jedoch nicht, wie die »Höhere Leitung« zu einer derartigen Machtkonzentration gelangte. Und hier bietet das vorliegende Buch Anknüpfungspunkte für die Erforschung der »wissenschaftlich«-spiritistischen Episteme und ihres Akzeptanzgrades unter den – meist gebildeten – Zeitgenossen, der archäologischen Erforschung von Wissenssegmenten und diskursiven Interdependenzen also, die für die Genese der modernen Kultur und Wissenschaft sowie für die Akzeptabilitätsbedingungen (Foucault) der do­minierenden epistemologischen Grenzen ausschlaggebend wa­ren. Wie stark diese Bedingungen erfüllt waren, ist an der (kirchen-) politischen Macht der »Höheren Leitung« abzulesen.
Es wäre nun ein Desiderat, die soziokulturellen und philosophisch-theologischen Verquickungen und Konsequenzen in den Blick zu nehmen, die sich aus der Bewertung übersinnlicher Phä-nomene er­geben haben. Wurden sie, wie W. herausarbeitet, für mesmeristisch-somnambulistische (68 f.110 u. ö.), also für eine nichtkonfessionelle, dafür wissenschaftlich zwar umstrittene, aber immerhin moderne Angelegenheit gehalten, changierte die »Taufe« des Mediums zur Hexerei oder Teufelei (71), galt sie als Form der vielfach praktizierten Nekromantie oder verschmolzen die im öffentlichen Diskurs verbreiteten Divinationen und Seancen mit einer Arkankultur, die in der übersinnlichen Welt eben nicht nur Seelengeister, sondern die Wirksamkeit der Gottesmutter erblickte? Sind die römisch-katholischen Wunder- und Heiligenphänomene samt ihrer dogmatischen Grundlegung durch den Spiritismus des 19. Jh.s »mo­dernisiert«, »plausibilisiert« und dabei modifiziert worden?
Diese Perspektiven geben Aufschluss über Modus und Grad der Konfessionalisierung der übersinnlichen, in die Sinnenwelt hineinragenden Geisterwelt (18), die z. B. bei Justinus Kerner einen evangelischen, bei Joseph Görres, Clemens Brentano u. a. einen katholischen, bei Eliphas Lévi und seinen Epigonen einen nicht (mehr) kirchlichen religiösen Höhepunkt gefunden hat. Und um­gekehrt fällt ein Licht auf die diskursiven Gegenbewegungen gegen das »Übersinnliche«, sei es das »Opium des Volkes« des Zeitgenossen Marx, sei es der Spiritismus des Leopoldina-Präsidenten Nees von Esenbeck, seien es die frontal – und parallel – entwickelten Weltbilder des Materialismus und des Atheismus. Die Studie liefert ein wichtiges und zudem überaus faszinierendes Segment dieser Debatten, das allerdings innerhalb der aktuellen Literatur besser hätte synchronisiert werden können.