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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1358–1361

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Majewski, Günter Erich Horst

Titel/Untertitel:

Von der Selbstverwaltung zur erzwungenen Assimilation. Die Integration der Waldenser in Württemberg.

Verlag:

Bruchsal: Verlag für Kulturwissenschaften G. Majewski 2010. III, 436 S. m. 24 Abb. 21,5 x13,5 cm. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-89197-444-5.

Rezensent:

Michael Pelzer

Die Geschichte der waldensischen Glaubensflüchtlinge, die in der Folge der Aufhebung des Edikts von Nantes zwischen 1686 und 1688 sowie in einer zweiten Welle 1699/1700 nach dem Wiederanschluss des Herzogs von Savoyen an Frankreich aus ihren Alpentälern vertrieben wurden, ist in der Forschung bislang insbesondere in breit angelegten Gesamtdarstellungen betrachtet worden. Tiefergehende kulturhistorische Spezialstudien, die etwa die Frage nach den kollektiven Identitäten der Flüchtlinge behandeln oder die konkrete Entwicklung ihrer Integration in den jeweiligen Aufnahmeländern thematisieren, sind dagegen rar geblieben.
Mit seiner 2010 veröffentlichten Dissertation im Fachbereich der interkulturellen Erziehungswissenschaft unternimmt Günter E. H. Majewski den Versuch, ebendiese Forschungslücke zu füllen. Bereits im Vorwort verspricht M., »erstmals und im Gegensatz zu bisherigen Veröffentlichungen über Waldenser kein religionsgeschichtliches Werk, sondern eine sozio-kulturelle Studie« (I) vorlegen zu wollen. Er möchte klären, »unter welchen soziologischen Prämissen« sich die im Herzogtum Württemberg aufgenommenen Waldenser »im Laufe der Zeit […] in die bestehende schwäbische Gemeinschaft integrierte[n], und wie ihr Widerstand gebrochen wurde, als es amtlicherseits um ihre völlige Assimilierung ging« (I).
Im Zuge dieser Zielsetzungen thematisiert M. einen äußerst breit angelegten Untersuchungsbereich, der von der anfänglichen An­siedlungsproblematik über die Entwicklung der Integration bis hin zur späteren Aufhebung der Sonderprivilegien reicht. Zudem will er auf einer »geisteswissenschaftlichen Metaebene« (49) einen allgemeinen »Beitrag zur Erforschung von Integration ausländischer Zuwanderer« (12 f.) leisten und einen generellen Schwerpunkt auf Fragen der Schulbildung und Schulsituation legen (vgl. 10).
Als Hauptquellen seiner Arbeit nennt M. vor allem die umfang­reichen Akten der württembergischen Waldenserdeputation sowie Schriften des Schweizer Pfarrers Andreas Keller, der die Situation der württembergischen Waldenser als Dorfpfarrer der Walden­serkolonie Neuhengstett sowohl im Rahmen eines Tagebuchs als auch in seinem folgenschweren Kurzen Abriß der Geschichte der wirtembergischen Waldenser kritisch reflektierte. Aus den Akten der Waldenserdeputation interessiert sich M. insbesondere für die Dokumente hinsichtlich der Privilegien sowie die Aktenstücke der zwischen 1798 und 1804 tätigen Kommission unter dem württembergischen Hofrat Christian Heinrich von Mylius.
Dem breiten Untersuchungsrahmen der Arbeit entsprechend formuliert M. insgesamt sechs Hypothesen, die sich thematisch vom kollektiven Bewusstsein der frühen Waldenser des 12. Jh.s bis hin zu Fragen der modernen Integrationskritik erstrecken (16 ff.). Unter »Integration« versteht er hierbei ausdrücklich »nicht die Anpassung im Sinne einer Angleichung von Mitbürgern, sondern […] die Ankopplung an ein bestehendes soziales Gefüge, was wiederum bedeutet, dass hier ein friedliches Nebeneinander in kultureller Eigenheit unter der Verwaltung eines größeren Staatsapparats Platz findet« (70). Seine übergeordnete Botschaft lautet: »Integration kann nicht die bedingungslose Übernahme einer Leit-Kultur sein, ohne zur Leid-Kultur zu werden« (347).
Im Kern handelt es sich bei M.s Arbeit mithin weniger um eine tiefgehende kulturhistorische Studie als vielmehr um einen historisch begründeten Meinungsbeitrag zur politisch-philosophischen Integrationsdebatte, der Forderungen nach aktivem Minderheitenschutz und Bewahrung kultureller Vielfalt vor dem Hintergrund des historischen Beispiels der württembergischen Wal­denser ausformuliert. M. wertet die Geschichte der Waldenser in Württemberg hierbei als »klassisches Beispiel« einer Integrationspolitik, die auf »die kulturelle, sprachliche, konfessionelle [und] ethnische Homogenität der Einwohner« ziele – und erklärt es zu seinem »oberste[n] Anliegen« aufzuzeigen, dass »eine gewünschte oder gar erzwungene Homogenisierung der Gesellschaft [heute] ideologisch nicht mehr zu vertreten« (76 f.) sei.
Die in diesem Zusammenhang von M. vorgenommenen Übertragungen auf moderne Denkschemata führen wiederholt zu Verkürzungen. So bleibt insbesondere fraglich, ob M.s Kernthese einer weitgehend unbegründeten »Zwangsassimilation« der Waldenser in der ersten Hälfte des 19. Jh.s in dieser Absolutheit haltbar ist. Die mögliche Gegenthese, dass es den Waldensern nicht zuletzt um den Schutz ihrer Privilegien ging und es sich bei der »Assimilation« vor allem um den rechtlichen Vollzug de facto bereits weitgehend bestehender Vermengungen handelte, ist mit M.s Ausführungen jedenfalls nicht vom Tisch. Hier hätte man sich – anstelle einer starken Wertung mit nachfolgendem induktivem Beweisversuch – eine offenere Diskussion der Motive und Hintergründe mit darauf aufbauenden Schlüssen gewünscht. M.s Arbeit liefert in diesem Zusammenhang allerdings eher einen Zirkelschluss, bei dem das vorgefasste, oben beschriebene Integrationskonzept die Deutung auf den Untersuchungsgegenstand bestimmt, nicht die Analyse des Untersuchungsgegenstands die Diskussion der Integrationsfrage anleitet.
Strukturell präsentiert sich die Arbeit als Abfolge von 18 Einzelkapiteln, die weitgehend ohne nennenswerte Binnengliederung auskommen. Das erste Fünftel der Studie ist einleitenden Vor­-überlegungen gewidmet (1–77). Hierauf folgt ein umfangreicher entwicklungsgeschichtlicher Abriss zum Hintergrund der Waldenserbewegung vom 12. bis zum 19. Jh., der mit Ansätzen einer identitätsgeschichtlichen Diskussion gekoppelt ist (78–149). Die schiere Länge dieser historischen Hinführung, ihr oftmals wertender Charakter und ihre zahlreichen Verkürzungen gegenüber der hinreichend vorhandenen Überblicksliteratur werfen trotz expliziter Rechtfertigungen M.s (vgl. 30.47) allerdings die Frage nach deren konkretem Mehrwert auf: Anstelle einer kondensierten, trennscharf auf die zu Beginn der Studie formulierten kultur- und erziehungswissenschaftlichen Untersuchungsfragen zugeschnittenen Einbettung liefert M. hier über weite Strecken ebenjene umfangreiche historisch-religiöse Darstellung, deren Überwindung er eingangs noch in Aussicht stellte.
Der eigentliche Hauptteil der Arbeit setzt mit einem um­-fang­reichen Kapitel zur Ansiedlungsproblematik (171–236) sowie einem– angesichts der diesbezüglichen Schwerpunktsetzun-gen– er­staun­lich kurzen Abschnitt zur Bildungs- und Schulfrage (237–260) ein. Unterbrochen durch eine Diskussion der fortschreitenden Se­gregation der Waldenser (261–283) wird hiernach in knapper Ab­-folge jeweils ein Kapitel Andreas Keller, Hofrat von Mylius sowie der Aufhebung der Privilegien gewidmet (284–325). Kellers Kritik an der »anomischen Tendenz im Zusammenleben der Waldenser« (275) sieht M. nicht flächendeckend bestätigt – konkrete Quellenverweise für diese Einschätzung liefert er allerdings nicht. Angesichts der Tatsache, dass Mylius’ Bericht eine wesentliche Quelle der Arbeit ausmacht, fällt dessen Besprechung äußerst kurz aus – und erschöpft sich weitgehend in einer groben Einordnung und integrationspolitischen Bewertung des Fragenkatalogs der Waldenser-Kommission. Inklusive einer überblicksartigen Auflistung der Fragen füllt die betreffende Analyse wenig mehr als fünf Druckseiten (308–313). Einige ebenso folgenschwere wie gewagte Hypothesen, die M. aus den Fragen der Deputation ableitet, können auf derart engem Raum freilich keine eingehende Begründung finden.
Dem Aspekt der Sprache wird gegen Ende der Arbeit zu Recht ein eigenes Kapitel gewidmet (326–346), bevor M. die Geschichte der württembergischen Waldenser im abschließenden Ergebnis auf zwei holzschnittartige Abschnitte herunterbricht: die »Zeit der frühen Einwanderung und Etablierung« (349) sowie die »Phase nach der Aufhebung der Privilegien ab 1823« (350). Ebendort, wo eine schärfere kulturhistorische Differenzierung und Aufgliederung einen veritablen Mehrwert hätte erbringen können, rekapituliert die Studie mithin weitgehend bekannte Erkenntnisse der allgemeinen Waldenser- und Migrationsforschung. Wie und bei wem sich die Integration konkret in welchem Tempo vollzog, wird im Verlauf der Studie bestenfalls schlaglichtartig beleuchtet. Im Resümee gehen derartige Fragen schließlich vollends unter.
Insgesamt gesehen erweist sich auch der theoretisch-methodische Unterbau als problematisch: Zwar werden im Verlauf der Untersuchung einige wesentliche Standpunkte und Ansätze relevanter Theorieschriften von Emile Durkheim, Norbert Elias, Ro­bert K. Merton, Talcott Parsons und Pierre Bourdieu referiert (insbesondere 42–66). Es fehlt allerdings ein konkretes analytisches In­strumentarium, mit dessen Hilfe die herangezogenen Quellen systematisch hätten erschlossen und ausgewertet werden können.
Trotz der breiten Quellengrundlage, die M. für sich postuliert, bleiben viele Aussagen daher im Konkreten weitgehend unbelegt. So charakterisiert M. die württembergischen Waldenser als »eine relativ geschlossene, religiöse Personengruppe mit klarem Herkunfts- und Habitusprofil« (27), ja bescheinigt ihnen ein »fast autopoietisch wirkende[s] Gesellschaftssystem« (28) – ohne eine hinreichende Herleitung dieser Einschätzungen zu liefern. Derartige Aussagen anhand der untersuchten Quellen umfassend zu belegen, wäre freilich wesentliche Aufgabe einer kulturwissenschaftlichen Grundlagenarbeit gewesen. Dabei wäre nicht nur die Frage in den Vordergrund gerückt, ob »die« württembergischen Waldenser in der Tat nach außen über mehr als ein Jahrhundert als »abgekapselte, hermetische« Gruppe gelten können, sondern auch, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, von »den« Waldensern als einer nach innen homogenen Gruppe zu sprechen. Leider wird die wichtige Grundfrage nach der Diversifizierung der unterschiedlichen Waldenserkolonien aber erst im letzten Viertel der Arbeit aufgeworfen (vgl. 266 f.271 f.) und auch dort kaum hinreichend behandelt. Gerade für die von M. so betonte Integrationsdebatte wäre in Verlängerung dieser Kritik auch die Frage interessant geworden, in­wiefern die Unterschiede der Waldenserkolonien untereinander gegen Ende des 18. Jh.s nicht gar größer waren als die Unterschiede der einzelnen Waldenserkolonien zu ihrem jeweiligen Umfeld.
Abschließend bleibt – trotz grundsätzlich wichtiger Bemühungen– nur ein ernüchterndes Fazit. Generell erweist sich der ausufernde Untersuchungszeitraum »von ca. 1680 bis ca. 1830« (31) als allzu weit gefasst, um die angestrebte Detailanalyse kulturwissenschaftlich-soziologischer Integrationsfragen vornehmen zu können – nicht weniger dadurch, dass auch »die Ursprungsgeschichte aus dem 12. Jahrhundert« (31 f.) sowie die nachfolgenden »Jahrhunderte der Verfolgung« (31) thematisiert werden und ein Großteil der Arbeit den weiter oben beschriebenen Meinungsbeiträgen zur Integrationsdebatte verpflichtet ist.
Der Umstand, dass die Belebung und Mythisierung des waldensischen Erbes wiederholt von außen stattfand, wird zwar erwähnt (vgl. 138 ff.), bleibt aber weitgehend unterreflektiert. Fragen der Selbst- und Fremdzuschreibung werden lediglich oberflächlich angerissen – und im Rahmen der Sprachdebatte fällt die Differenzierung zwischen der französischen Sprache und »okzitanischem Provençal« (332) der Waldenser über weite Strecken nicht explizit genug aus. Insgesamt bleiben M.s Ausführungen oftmals schemenhaft bis plakativ, mitunter auch sachlich ungenau.
Zur Behebung des Defizits einer kulturwissenschaftlichen Erforschung der Integration der waldensischen Glaubensflüchtlinge im Herzogtum Württemberg kann die Studie M.s daher in der Summe kaum Wesentliches beitragen: Sie wirft zwar viele wichtige Fragen auf, verfolgt aber letztlich zu viele disparate Einzelziele und bleibt in ihrer analytischen Methodik zu unsystematisch und oberflächlich, um differenzierte Ergebnisse hervorbringen zu können. Das Warten auf eine hinreichende kulturhistorische Durchdringung der Ge­schichte der Waldenser in Württemberg hält damit weiter an.