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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1354–1356

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hardtwig, Wolfgang, u. Philipp Müller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 314 S. m. 14 Abb. 23,2 x 15,5 cm. Geb. EUR 39,99. ISBN 978-3-525-30007-7.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Aus Anlass des 200. Geburtstages von Johann Gustav Droysen (6. Juli 2008) sind eine ganze Reihe wichtiger Studien zu Leben und Werk des bekannten preußischen Historikers erschienen (vgl. u. a. Horst Walter Blanke [Hrsg.]: Historie und Historik. 200 Jahre Johann Gustav Droysen, Köln u. a. 2009; Wilfried Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008; Klaus Ries [Hrsg.]: Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers, Stuttgart 2010; Falko Schnicke: Prinzipien der Entindividualisierung. Theorie und Praxis biographischer Studien bei Jo­hann Gustav Droysen, Köln u. a. 2010). Dies gilt auch für den lesenswerten, von den beiden Berliner Historikern Wolfgang Hardtwig und Philipp Müller herausgegebenen Sammelband Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, der aus einer Tagung an der Humboldt-Universität zu Berlin im Mai 2008 aus Anlass dieses Geburtstages hervorgegangen ist.
Gegenstand der Tagung war aber nicht die geschichtstheore­tische Theoriebildung und die Geschichtsschreibung Droysens (Droy­sens Arbeit wird nur in einem Beitrag von Wilfried Nippel, Droysens »Hellenismus« – eine uneingelöste Perspektive, thematisiert), sondern die welthistorischen Ge­schichtsentwürfe, die an der Berliner Universität im Zeitraum von 1800 bis 1933 konzeptualisiert wurden. Diese Begrenzung der Fragestellung auf die Universität und ihre Lehrstuhlinhaber hat allerdings zur Konsequenz, dass wichtige Gelehrte, die von ihrem weltgeschichtlichen Denkansatz her sicherlich hätten berücksichtigt werden müssen, wie etwa der Privatgelehrte Alexander von Humboldt oder Karl Marx, der in Berlin an seiner Dissertation gearbeitet hat und eine Habilitation plante, keine Berücksichtigung erfahren.
Der Band zeichnet sich durch einen systematischen Zugriff aus, der eine Vergleichbarkeit der einzelnen Beiträge erlaubt. Zu bedauern ist allerdings, dass ein geplanter Beitrag über Ernst Troeltschs Konzept einer europäischen Kulturgeschichte nicht zustande ge­kommen ist.
Lange Zeit schien es aus geschichtsphilosophischer Sicht un­möglich geworden zu sein, ein ganzheitliches, d. h. weltgeschichtliches Geschichtsmodell zu denken. Aber nicht nur theoretische Gründe sprachen gegen welthistorische Geschichtsentwürfe, auch inhaltliche wie der Umfang des Themas. »Zudem schien jeder solche Versuch in verdächtiger Nachbarschaft zu der überkommenen Einstellung zu stehen, dass sich das Prinzip der Universalgeschichte aus einer Mission der westlichen Welt ergebe« (10). Umso bemerkenswerter ist zweifelsohne die in jüngster Zeit zu erkennende Wiederkehr weltgeschichtlicher Arbeiten, die die Kritik an den traditionellen westlich zentrierten Geschichtsmodellen aufnehmend die Geschichte global deuten und »transkulturelle Wechselwirkungen als Faktoren einer zunehmend globalen Vernetzung« (11) un­tersuchen. Exemplarisch für diese Globalgeschichte steht das Werk von Christopher Bayly, The Birth oft he Modern World 1780–1914. Global Connections and Comparisons, aus dem Jahre 2004.
Der von Georg Simmel beschriebene geschichtstheoretische An­satz, nach dem aus der »Totalität des realen Lebens« (9) die irrelevanten Fakten ausgesondert und die verbliebenen zu einer sinnstiftenden Einheit verbunden werden, hat bekanntermaßen eine eurozentrische Perspektive welthistorischer Geschichtsentwürfe zur Folge gehabt. Dies führte dazu, dass sich im zweiten Viertel des 19. Jh.s die Weltgeschichte zu einer »Weltgeschichte Europas« (13) entwickelte, der die Geschichte der außereuropäischen Welt aus dem Blickfeld geriet, wie der Historiker Jürgen Osterhammel be­reits 1994 überzeugend nachwies. An die Stelle dieser eurozentrischen Geschichtsdeutung ist heute eine Debatte über die Multipolarität universalhistorischer Deutungen der Menschheitsgeschichte getreten, die eine kritiklose Fortsetzung dieses Eurozentrismus verbietet. Diese neue Stufe der Reflexion über universalgeschichtliche Entwürfe legt es nahe, sich auch eingehender mit den eurozentrischen Geschichtsmodellen des 19. Jh.s zu beschäftigen, um so die spezifisch geschichtliche Entwicklung der universalgeschichtlichen Deutung der Menschheitsgeschichte sinnvoll in den aktuellen Diskurs einzubringen. Dies leistet ganz unzweifelhaft für die Berliner Universität der vorliegende, 13 Studien umfassende Band.
In seinem lesenswerten Beitrag untersucht Klaus Ries Fichtes Reden an die Deutsche Nation, aus den Jahren 1807/08, die der spätere Gründungsdirektor der Berliner Universität unter den Augen der französischen Besatzungssoldaten hielt. Ries plädiert zu Recht dafür, die Reden stärker aus der Tradition von Fichtes Schrift Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters zu deuten und damit auch dem in dieser Schrift vertretenen Universalismus in den Reden mehr Bedeutung einzuräumen.
In seiner von Karl Marx aus entwickelten Deutung von Hegels Philosophie der Geschichte rekonstruiert Heinz Dieter Kittsteiner das Geschichtsdenken des bekannten Berliner Philosophen. Be­kanntlich wandert bei Hegel der Geist von Asien nach Europa als dem Endpunkt der Geschichte. In seinem Beitrag stellt Kittsteiner dann auch die Frage, ob eine Hegel-Interpretation denkbar wäre, bei der der Geist wieder zu seinem geographischen Ausgangspunkt zurückkehren könnte. Kittsteiner beantwortet diese Frage mit Blick auf die aktuelle Entwicklung des Kapitalismus mit einem klaren Ja.
Christoph Markschies untersucht Adolf von Harnacks Schrift Das Wesen des Christentums. Nach Markschies dient bei Harnack alle »universalgeschichtliche Arbeit in der Kirchengeschichte« dem Ziel, »die Heimlichkeiten der Geschichte aufzudecken« (248). D. h. Kirchengeschichte kann nur in ihrer Verbindung mit dem allgemeinen Gang der Dinge verstanden werden. Dennoch weist Harnack der Universalgeschichte »nur einen Platz am Katzentisch, gleichsam als Hilfswissenschaft zur besseren Beschreibung des Wesens des Christentums, als Vorstufe zur Entdeckung von Heimlichkeiten« (249) zu.
Der Nationalökonom Werner Sombart beschäftigte sich zeitlebens mit den Folgen des modernen Kapitalismus. In seinem lesenswerten Beitrag verdeutlicht Friedrich Lenger, dass sich bei Sombart unter dem Eindruck des 1. Weltkriegs eine grundlegende Veränderung des Denkens vollzog. Für ihn stand fest, dass die »Ausplünderung dreier Erdteile« (277) eine notwendige Voraussetzung des Kapitalismus in Europa war. Als Konsequenz der Kriegserfahrungen sah er dann eine Verschiebung des Kapitalismus auf die »farbigen Rassen« voraus. Dieser Übergang stimmte ihn froh, »weil dann eine kräftige Reagrarisierung Europas unumgänglich werde« (286).
Neben den beiden Philosophen, dem Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und Werner Sombart werden noch der Kunsthistoriker Franz Kugler, der Geograph Carl Ritter sowie die Historiker Droysen, Hans Delbrück, Eduard Meyer, Dietrich Schäfer, Otto Hintze, Kurt Breysig und Leopold von Ranke behandelt.
Ohne wesentlich Neues zu bringen, vermittelt der zu besprechende Band doch eine Fülle von Informationen auf engem Raum, räumt mit einigen Missverständnissen auf und bringt interessante Anstöße zur weiteren Diskussion.