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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1351–1354

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Pečar, Andreas

Titel/Untertitel:

Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534–1642).

Verlag:

München: Oldenbourg 2011. X, 487 S. m. Abb. 23,5 x 15,0 cm = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 69. Lw. EUR 64,80. ISBN 978-3-486-70101-2.

Rezensent:

Martin Ohst

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Chavura, Stephen A.: Tudor Protestant Political Thought 1547–1603. Leiden/Boston: Brill 2011. XIV, 252 S. 24,0 x 15,8 cm = Studies in the History of Christian Traditions, 155. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-20632-8.


Mit dem übergeordneten Sachinteresse an der Interdependenz von geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und den Gestalten ihrer intellektuellen Reflexion widmet sich die Dissertation von Stephen A. Chavura dem Gestaltwandel der politischen Sprache und des politischen Denkens im England der drei nacheinander regierenden Kinder Heinrichs VIII. Sie konzentriert sich dabei auf protes­-tantische Autoren der verschiedenen Schattierungen; deren altgläubige Kontrahenten kommen leider nur gelegentlich als Stichwortgeber zu Gehör. Ein kurzer, essayistischer Gang durch die wichtigsten Ereignisse der englischen Geschichte seit der Lossagung von der Obödienz unter die Römische Kirche (1534) steht am Anfang.
Unter Eduard VI. (1547–53) verfolgte die obrigkeitliche Religionspolitik eine konsequente Umsetzung reformatorischer Einsichten, Maria (1553–58) sah in ihrer ererbten Stellung als Oberhaupt der Kirche die Chance, England zum alten Glauben zurückzuführen. Elisabeth (1558–1603) betrieb eine protestantische Religionspolitik mit dem Ziel, möglichst allen Gruppen, die ihr Königtum und ihre Kirchenherrschaft anerkannten, in der erneuerten Kirche Raum zu bieten; die Protagonisten einer konsequenten Kirchenreform nach kontinentalen Mustern standen so vor der Alternative, Kompromisse zu schließen oder sich als Fundamentalopponenten geistig und politisch zu behaupten. Am Anfang stand also die Abkehr von einer als göttlich anerkannten Gesamtordnung der Gesellschaft in Staat und Kirche. Alle Beteiligten erhofften sich dabei neue Bewegungs- und Gestaltungsfreiheiten. Diese Hoffnungen und Ambitionen wandten sich dann jedoch alsbald widereinander.
Die einzelnen Konfliktkonstellationen entfaltet Chavura in einer Reihe von problemgeschichtlichen Gängen. Unter dem Titel »Order and Will in Tudor Thought« (39–88) zeigt er, wie sich im Wirkungsbereich reformatorischen Denkens der Stellenwert des Gottesgedankens für das politische Denken verschob: »Gott« ist nicht mehr die Chiffre für den transzendenten Urheber und Garanten einer statisch-hierarchischen Ordnung, sondern lebendiger, allwirksamer Wille, der seine Werke ändert, aber nicht seinen ewigen Ratschluss (vgl. Augustin, Conf. I,IV,4); seine lebendige Vorsehung ist im Umsturz ebenso am Werk wie in der Stabilität. Gottes Wille legt sich in der Geschichte selbst aus, paradigmatisch in der biblisch bezeugten. Diese also bietet Orientierung in einem Zeitalter sich wandelnder Ordnungen. Die Stichworte »Reason, Nature, and Natural Law« (89–150) indizieren hingegen zunächst einmal Reflexionsdefizite, besonders im Vergleich mit dem gleichzeitigen Aufschwung der Politik- und Gesellschaftstheorie in der Gesellschaft Jesu: Hier wurde das Naturrecht geschickt und entschlossen in den Dienst der Papstkirche genommen und zu einer unter Umständen tödlichen Waffe im Kampf um die Deutungs- und Legitimationshoheit politischer Herrschaft geschmiedet; da­gegen sticht deutlich der Gebrauch ab, den John Knox im Kampf gegen die beiden Marien auf den Thronen Englands und Schott lands vom Naturrechtsgedanken machte, zumal dann bei der Thronbesteigung Elisabeths ganz andere Argumente bemüht werden mussten. Die Suche nach »English Reformation Origins of Ab­solutism« (153–180) führt zu zweideutigen Ergebnissen: »The emphasis on pro­-videntialism was a two edged sword, now defending the higher powers, now attacking their pretensions.« (153) Die Loslösung der englischen Kirche aus der römischen Obödienz hatte die Souveränität des werdenden Staates und seiner monarchischen Spitze eindrucksvoll bestätigt; konsequente Protestanten zogen daraus allerdings die Folgerung, politische Machtausübung müsse sich nur des­to sorgfältiger von den Maßgaben des Wortes Gottes leiten lassen, die von dessen bevollmächtigten Auslegern zu erheben seien.
Diese puritanischen Prätensionen bezeichnet Chavura gern als »Hildebrandian«, also als Wiedergänger papstkirchlicher Weltherrschaftsansprüche aus dem Zeitalter des Investiturstreits. Ganz abgesehen davon, dass die gregorianischen Ideale zwar in England einen ihrer berühmtesten Märtyrer hatten, hier aber ansonsten ihrer Verwirklichung noch viel ferner blieben als anderswo: Solche Identifikationen sind dem genaueren Verstehen mindestens ebenso hinderlich wie der allzu monolithische, klotzige Begriff des »Mittelalterlichen«, mit dem Chavura gern arbeitet. Das letzte Kapitel (181–223) zeigt, wie sich sowohl im kirchlichen Puritanismus der elisabethanischen Zeit als auch im frühen Separatismus die Überzeugung her ausbildete, dass in der Kirche Führung nur im Konsens mit den Geführten legitim sein kann – ein Gedanke, der mit innerer Notwendigkeit auch auf das Gebiet der Politik herübergriff und dort schlecht mit den formelhaften Bekundungen des unwandelbaren Gehorsams gegen den von Gott eingesetzten Monarchen harmonierte. – Insgesamt stellt Chavura in seiner eher essayistisch gearbeiteten Untersuchung das politische Denken der Stuart-Zeit als eine Fülle von unausgereiften Impulsen und Versuchen dar. Literarisch geschickt weist er immer wieder vorgreifend auf Richard Hooker und Thomas Hobbes hin – in ihren geschichtsmächtigen Entwürfen, aber auch in den radikalen Aufbrüchen des 17. Jh.s sind, so die These, die Impulse der späten Tudor-Zeit im bekannten mehrschichtigen Sinne aufgehoben worden.
Die ganz vorzügliche Habilitationsschrift von Andreas Pečar widmet einem Segment aus dem breiten Spektrum von Chavuras Dissertation ihre ganze Aufmerksamkeit. In einer Reihe von historisch wohlfundierten Diskursanalysen erhellt sie die Rolle der Bibel in den politischen und kirchenpolitischen Debatten Englands und Schottlands in dem Jahrhundert zwischen dem Bruch Heinrichs VIII. mit Rom und dem Englisch-Schottischen »Bischofskrieg«, mit dem die Periode der Bürgerkriege ihren Anfang nahm. Ihre reiche Quellenbasis besteht aus Streit- und Flugschriften, politischen und kirchenpolitischen Traktaten und Predigten sowie aus den wissenschaftlichen Referenzgrößen dieser Texte. Vordergründig entzündeten sich die Debatten an Fragen der Kirchenorganisation und -verfassung: Mit dem Leitbild einer bischöflich organisierten Kirche unter der Herrschaft von Krone (und Parlament) konkurrierte die Vorstellung einer sich von unten aus den Gemeinden aufbauenden presbyterial-synodalen Kirchenstruktur, aus deren Leitungs gremien heraus Staat und Gesellschaft insgesamt die biblisch le-gitimierten Maximen ihrer Organisation und ihres Handelns empfangen sollten. So entstanden ganz unterschiedlich gestaltete ge­sellschaftspolitische Entwürfe, und die Grundorientierungen prägten sich auch außenpolitisch aus:
Die Presbyterianer Englands traten zumal seit 1618 für eine von konfessionellen Gesichtspunkten geleitete Außenpolitik ein, während Jakob VI./I. und zeitweilig sein Sohn Karl I. sich auch andere Optionen für Bündnisse vorbehielten. Die Fronten und die Kämpfe verliefen in Schottland und England charakteristisch unterschiedlich: Im Nordreich hatten die schwachen Regierungen der Maria Guise und Maria Stuart die Ausbildung der presbyterianischen Kirk of Scotland ermöglicht, ihren Anhängern auch auf dem Kontinent war sie mustergültig. Aber Jakob VI./I. brachte sie seit 1584 in zähem Kampf unter bischöflich-königliche Herrschaft. In England war genau das die seit Elisabeth I. stabilisierte Grundordnung, die allerdings von den Presbyterianern mit unterschiedlichen Graden an Radikalität infrage gestellt wurde. Die Debatten zwischen den Exponenten der konträren Gestaltungsoptionen wurden auf un­terschiedlichen Schauplätzen mit unterschiedlichen Argumentationsarsenalen geführt. Neben dem positiven Recht ( Common Law) und dem Naturrecht sowie maßgeblichen Überlieferungen der klassischen Antike (Civic Humanism) stand die Bibel im Brennpunkt der Auseinandersetzungen: Die Grundannahme der Bibel­autorität war zwischen den Parteien unumstritten, und so wurden biblische Zitate und Reminiszenzen als Waffen genutzt, ja, sofern man auf dem Boden der Schriftautorität widereinander kämpfte, war die Bibel gleichsam Kriegsschauplatz. Und so war sie zugleich auch Kampfobjekt, die Gegner kämpften nämlich um die Deutungshoheit über sie. Diese Beanspruchungen der Bibel, die sich in ikonographischen Ausstattungen sowie in ganz unterschiedlichen Lese- und Verstehenshilfen Ausdruck verschafften, brachten je­weils »ihre« Bibel hervor. P ečar zeigt das an der Great Bible Heinrichs VIII. (126–132) und der King James Bible (308–311), welche der Bibel schon in der Ikonographie der Titelkupfer ihren Ort in der vom König geleiteten Nationalkirche anwiesen, ebenso wie an der Geneva Bible (157–161), welche als »Statutenbuch der Krone« (161), also als Grundordnung einer von der presbyterianisch-synodal verfassten Kirche geleiteten Gesellschaft, Gehorsam fordert. Ein Seitenblick auf die von katholischen Exulanten auf dem Kontinent erarbeitete »Douai-Version« hätte dieses Bild wohl noch eindrück­licher gestaltet.
Von hier aus fällt ein bezeichnendes Licht darauf, dass Jakob VI./I. von Jugend auf als exegetisch-theologischer Schriftsteller an die Öffentlichkeit trat und gar noch bei Lebzeiten eine Gesamtausgabe seiner einschlägigen literarischen Werke veröffentlichen ließ. Er folgte mitnichten bloß frommem oder gelehrtem Mitteilungsdrang, sondern versicherte sich öffentlichkeitswirksam der Grundlagen seiner Herrschaft: Indem er schon in jungen Jahren eine schottische Übersetzung von Ps 104 vorlegte und hernach immer wieder verlauten ließ, er plane eine Gesamtausgabe der Psalmen, ließ er »einfließen, daß er sich in Davids Fußstapfen wähnte: als König, aber zugleich auch als Oberhaupt der Kirche, eine Rolle, die David in seiner Funktion als Prophet zugleich zufiel, und in der Ja­kob seinem alttestamentlichen Vorläufer nur zu gerne nacheifern wollte« (193). Später allerdings, als er aus machtpolitischen Überlegungen ein Bündnis mit Spanien in Betracht zog, statt seinem Schwiegersohn, dem pfälzischen Kurfürsten und böhmischen Win­terkönig, zur Hilfe zu eilen, fiel ihm diese sakrale Übersteigerung seiner Herrschaft, von Kritikern gegen ihn gewandt, schmerzhaft auf die Füße (340 f.).
So war es immer wieder das Amt des Königs mit seinen Rechten und deren Grenzen, dessen kontroverse Deutungen jeweils im Zentrum der konträren politischen Theologien auf biblischer Basis standen. Hat das Königtum seine Grundlage in der Erwählung des Volkes durch Gott und einem aus dieser erfließenden wechselsei­tigen Verpflichtungsverhältnis (covenant/Bund), an dessen Vor­-gaben, welche durch die Theologen präsent gehalten werden, der Mo­narch sich zu orientieren hat, so dass er widrigenfalls seiner Herrschaft verlustig geht? Oder ist der König der ein für allemal von Gott selbst eingesetzte Herrscher, für sein Handeln allein diesem und keiner menschlichen Instanz Rechenschaft schuldig? Beide Positionen, die potentiell monarchomachische wie die deutlich den Absolutismus vorbereitende, ließen sich biblisch-theologisch belegen. Beide beriefen sich sogar auf dieselben biblischen Texte: 1Sam 8,10–19 wurde als Warnung vor einem entarteten Königtum angeführt, aber auch als kompendiarische Zusammenfassung der legitimen Rechtsansprüche eines Monarchen benutzt. Mag hier der gesunde exegetische Menschenverstand noch kopfschüttelnd vor einem Meisterstück advokatorischen Scharfsinns stehen, so ist die Sachlage in anderen Fällen erheblich weniger klar: Ist Josia (1Kön 22f.; P ečar verwendet durchgängig die originelle Namensform »Hosia«) ein Herrscher, der seine Amtsgewalt in selbstlosem Gehorsam in den Dienst prophetisch legitimierter Religionskritik stellt, oder lässt sich an ihm vielmehr ablesen, dass grundsätzlich das Religionswesen dem Königsrecht untersteht? Der in Wahrheit treibende, entscheidende politische Gestaltungswille offenbart sich im Rückbezug auf seine Legitimationsinstanzen, aber er verbirgt sich doch auch immer hinter ihnen. Am deutlichsten tritt er jeweils dort zutage, wo er unterschiedliche Legitimationsinstanzen und Argumentationsebenen einander zuführt bzw. in­einan­derlaufen lässt; hierfür gibt Pečar wichtige Beispiele (237.272 f.). Seine Untersuchung erweitert unsere Kenntnis der politischen Debattenkultur im England und Schottland der Frühen Neuzeit erheblich. Es fällt auch neues Licht auf die Vorgeschichte der mo­dernen Staats- und Gesellschaftstheorien; immer wieder lässt Pečar gleichsam an den Rändern Richard Hooker und Thomas Hobbes zu Wort kommen. Last but not least: Theologisch suggeriert diese vielgestaltige Heerschau von buntscheckigen Spielarten poli­-tischen Bibelgebrauchs eine knappe, eindeutige Antwort auf Luthers rhetorische Frage: »Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?«