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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1347–1349

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Welborn, Larry L.

Titel/Untertitel:

An End to Enmity. Paul and the »Wrongdoer« of Second Corinthians.

Verlag:

Berlin/Boston: de Gruyter 2011. XXVIII, 570 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 185. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-026327-5.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Die Fragen, was bei dem in 2Kor 2 und 7 erwähnten Besuch des Paulus in Korinth eigentlich schiefgelaufen ist und wer mit dem »Un­rechtstäter« (ὁ ἀδικήσας, 7,12) gemeint ist, haben schon viele beschäftigt. Noch nie wurden sie aber so detailliert behandelt wie in dieser neuen Monographie mit 480 Textseiten. Die Voraussetzungen und Gründe, der Verlauf und die Überwindung dieses Konflikts (auf Letzteres bezieht sich der schöne Titel, der von einem Sohn des Autors stammt) werden hier minutiös rekonstruiert, wozu besonders soziale und rhetorische Konventionen der griechisch-römischen Welt herangezogen werden. Auch wenn Larry L. Welborn immer wieder den hypothetischen Charakter seines Unternehmens betont, ist er doch ziemlich sicher, den Gegner des Paulus sogar mit Namen identifizieren und die Geschichte dieser Feindschaft, die s. E. aus einer Freundschaft entstanden war und wieder zu einer Freundschaft wurde, zutreffend nachzeichnen zu können. Ein spannendes Programm!
In einem Vorwort (XIX–XXVIII) entfaltet W. seine Sicht der Entstehung der Korintherkorrespondenz. 2Kor besteht demnach aus fünf ursprünglich selbständigen Briefen, deren chronologische Reihenfolge folgendermaßen bestimmt wird: Brief A: 2Kor 8; Brief B: 2Kor 10–13 (der Tränenbrief); Brief C: 2Kor 2,14–6,13; 7,2–4; Brief D: 2Kor 1,1–2,13; 7,5–16; Brief E: 2Kor 9. Auch 1Kor ist nach W. keine Einheit, sondern aus drei Briefen zusammengesetzt: Brief A: 1Kor 10,1–22; 6,12–20; 10,23–11,34; Brief B: 1Kor 7–9; 12–16; Brief C: 1Kor 1,1–6,11. W. gibt offen zu, dass diese Rekonstruktionen hypothetisch sind. Er hofft, dass die Leserinnen und Leser in seinem Buch einen Beitrag sehen, der ebendiese Reihenfolge der Briefteile wahrscheinlich macht. Damit wird bereits ein Problem deutlich, das in allen Teilen des Buchs begegnet: Es wird eine historische Abfolge postuliert, die sich nicht nur, aber doch wesentlich darauf stützt, dass sie plausibel wirkt. Man muss anerkennen, dass W. immer wieder darauf hinweist, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte. Aber er verlässt sich doch sehr stark auf die intrinsische Überzeugungskraft seiner Rekonstruktionen. Gerade in der Frage der Einheitlichkeit der Korintherbriefe hätte man in einem Buch mit diesem Umfang eine eingehendere Diskussion erwarten können, denn zum einen hängt an dieser literarkritischen Entscheidung die gesamte Argumentation, zum anderen läuft W.s Entscheidung dem gegenwärtigen exegetischen Trend deutlich zuwider, der 1Kor als einheitlich und 2Kor als eine Kompilation aus nur zwei Briefen (wenn nicht sogar als einheitlich) ansieht.
Nach der Formulierung des Vorhabens in Kapitel 1 (1 f.) beschäftigt sich Kapitel 2 (3–22) ausführlich mit der Forschungsgeschichte. W. zeichnet den Weg nach, wie sich die Exegese allmählich von der traditionellen Gleichsetzung des Unrechtstäters von 2Kor 2; 7 mit dem inzestuösen Gemeindemitglied von 1Kor 5 verabschiedete. Er teilt die heute weithin vertretene Überzeugung, dass der Un­rechts­täter ein korinthisches Gemeindemitglied war, das gegen­-über Paulus bei dessen zweitem Besuch ein Unrecht beging, das mit Geld zu tun hatte und von der Gemeinde zum Teil mitverantwortet wurde.
Kapitel 3 (23–211, ohne weitere Untergliederungen!) ist eine intensive Analyse und Interpretation von praktisch jedem Text in 2Kor, der direkt oder indirekt zu einer Identifizierung des Unrechts­täters beitragen kann. Das Ergebnis: Er war eine sozial hochstehende Person, die über beträchtlichen Einfluss in der Gemeinde verfügte und früher mit Paulus befreundet gewesen war. Er trat bei dessen zweiten Besuch öffentlich gegen ihn auf und warf ihm eine Veruntreuung der Kollekte vor.
Ein Beispiel für die Art der Argumentation, mit der W. zu diesem Ergebnis kommt: Paulus verwendet in 2Kor 2 und 7 auffällig häufig Wörter vom Stamm λυπ-. Diese Wortwahl verrät nach W. mehr, als bisherige Kommentatoren bemerkt haben. Wenn Schmerz (λύπη) zugefügt wird, ist s. E. in der Regel ein soziales Gefälle im Spiel. Derjenige, der Schmerz zufügt, hat die Macht dazu. Wenn Paulus und der Unrechtstäter Schmerz empfinden, weist das auch auf den Kontext einer Freundschaft hin. Mit Belegen aus Aristoteles, Plutarch und aus dem epistolographischen Handbuch von Libanius will W. nachweisen, dass gerade Freundschaften der Ort sind, wo das Verhalten der Beteiligten besonders intensiven Schmerz zufügen kann. Die Argumentation ist bei W. natürlich viel detaillierter, aber es bleibt ein Unbehagen. Sind solche Entsprechungen wirklich deutlich und aussagekräftig genug, um so weitreichende Schlüsse zu ziehen?
Mit sozialen und rhetorischen Konventionen, die in den genannten Interaktionen am Werk waren, setzt sich das vierte Kapitel (212–287) auseinander. W. bietet eine ausführliche Behandlung des sog. non-naming, also der offensichtlichen Strategie des Paulus, seine Gegner nicht – schon gar nicht namentlich – zu identifizieren, sondern von ihnen nur sehr allgemein zu sprechen.
In Hinblick auf den Unrechtstäter, so W., wandte Paulus diese Taktik an, um die Möglichkeit einer zukünftigen Versöhnung offenzuhalten. Das non-naming ist also ein weiteres Indiz dafür, dass Paulus und der Unrechtstäter zuvor Freunde gewesen waren. Deshalb ist es für W. naheliegend, dass der frühere Freund unter den neun korinthischen Christen ist, deren Namen Paulus in 1Kor 16 und Röm 16 nennt. Diese Namen geht er mit dem bisher ermittelten Profil des Unrechtstäters (hoher Status und Einfluss, sozial Paulus übergeordnet, Selbstbewusstsein der Christuszugehörigkeit, Vorliebe für die Botschaft der Rivalen, gute Bildung, Patronat im Verhältnis zu den Rivalen [233 f.]) der Reihe nach durch (234–282) und gelangt (nach einer ausführlichen Untersuchung des berühmten Titels des Erastus in Röm 16,23 [260–279]) zu dem Ergebnis, dass Crispus, Gaius, Stephanas und Erastus in die engere Wahl kommen. Dabei bleibt er aber nicht stehen: Eine Entscheidung ist s. E. möglich. Er verweist auf die soziale Konvention, eine Versöhnung durch einen Akt der Gastfreundschaft zu zelebrieren. Diesen Akt sieht er darin, dass Paulus bei seinem dritten Besuch in Korinth bei Gaius logierte (Röm 16,23). Der Unrechtstäter war also Gaius.
Das »Prosopography« betitelte fünfte Kapitel (288–379) sammelt alle direkten und indirekten Informationen, die uns über diesen Gaius zugänglich sind. Wenn Gaius die »ganze Gemeinde« (die W. auf ca. 100 Personen schätzt) beherbergte, muss er ein großes Haus gehabt haben. W. untersucht die archäologischen Möglichkeiten, die Lage dieses Hauses zu bestimmen, und hält eine domus in dem Stadtviertel östlich des Theaters für die wahrscheinlichste Lösung. Die Rolle des Gaius als Gastgeber beim Herrenmahl und als Patron der christlichen Gemeinde, evtl. auch der Gegner des Paulus in 2Kor, wird ebenso sorgfältig analysiert wie seine (zu vermutende) Unterstützung des Apollos und damit seine Verwicklung in den Parteienstreit von 1Kor 1–4.
Das letzte, sechste Kapitel (380–481) rekonstruiert die »Geschichte einer Freundschaft«, der Freundschaft nämlich zwischen Paulus und Gaius, die zunächst durch das Auftreten des Apollos belastet wurde und sich später durch das Auftreten der Fremdmissionare aus 2Kor zu einer Feindschaft entwickelte. Durch den Tränenbrief, die drei folgenden Briefe (s. o.) und seinen dritten Besuch gelang Paulus die Versöhnung. Hier sind die Aufteilung der Korintherbriefe und ihre chronologische Reihung natürlich von besonderer Bedeutung.
Das Buch ist in der Fülle seiner Gelehrsamkeit beeindruckend. W. besitzt eine profunde Kenntnis der griechisch-römischen Literatur und ist in der Lage, die Korintherkorrespondenz in einen weiten Kontext einzuordnen. Natürlich gibt es in einem derart beziehungsreichen Werk eine Reihe von Aussagen, die Kritik herausfordern. Manches wurde schon genannt. Ein zentraler Kritikpunkt ist die Anfrage, ob das Vertrauen W.s auf die Tragfähigkeit seiner Rekonstruktionen nicht manchmal zu weit geht, auch wenn er immer wieder versichert, sich ihres hypothetischen Charakters bewusst zu sein.
Ein Beispiel: Der Titel οἰκονόμος τῆς πόλεως (Röm 16,23) wird ausführlich diskutiert. Das Ergebnis ist, dass Erastus vermutlich mit dem inschriftlich bezeugten Aedil zu identifizieren, also der Oberschicht zuzuweisen sei (279 f.). Diese Vermutung wird nun mit einer weiteren kombiniert: Im Anschluss an Theißen und de Vos sieht W. die Grüße des Erastus in Röm 16,23 als angehängt – Erastus sei als Klient des Gaius bei diesem gerade zu Besuch gekommen. Wenn nun schon Erastus zur Oberschicht gehört habe, erlaube das einen Schluss auf den noch höheren Status des Gaius (376). Eine solche Kombination von Vermutungen ist gefährlich. Noch problematischer ist m. E., dass W. wesentliche Voraussetzungen für seine Analysen, nämlich die Aufteilung und Reihenfolge der korinthischen Briefe und die Identifikation der Gegner in 2Kor, nicht einmal selbst begründet, sondern aus älteren Forschungsbeiträgen übernimmt, die heute noch weniger konsensfähig sind als zur Zeit ihrer Entstehung.
Diese kritischen Bemerkungen ändern nichts daran, dass W. eine Fülle von neuen und provozierenden Einsichten eröffnet, die die Debatte um die Korintherkorrespondenz beleben werden. Nicht zuletzt die langen formellen (301–320.336–355) und informellen Exkurse (89–101.106–114.260–279.292–298) sind Fundgruben für alle, die am antiken Kontext des Neuen Testaments interessiert sind. Auch wer manche Deutungen oder sogar die Hauptthese des Buches nicht nachvollziehen kann, wird W. dafür dankbar sein.