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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1339–1341

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hagenow, Stephan

Titel/Untertitel:

Heilige Gemeinde – Sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums.

Verlag:

Tübingen: Francke 2011. XIII, 350 S. 22,0 x 15,0 cm = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 54. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-7720-8419-5.

Rezensent:

Paul Metzger

Viele Bilder, die sich als Forschungsmythen entlarven lassen muss­ten, halten sich trotzdem weiter beharrlich, weil sie entweder bestimmten Interessen dienen oder einem Ideal entsprechen, das in der Frühzeit verankert wird, um in der Gegenwart als Vorbild zu dienen. Dass die Christenheit im frühen Christentum eine Einheit darstellte, zu der man wieder zurückfinden müsse, ist so ein Bild, das immer wieder gerne gezeichnet wird. Dass die ersten Christen eine sündlose Gemeinschaft darstellten, ist das Bild, das sich Stephan Hagenow in seiner Heidelberger Dissertation (Betreuer: Klaus Berger) aus dem Jahr 1996 vorgenommen hat und an den Quellen überprüft. Für die Publikation wurde die Untersuchung vollständig überarbeitet.
H. widmet sich der grundsätzlichen Frage, ob Christen nach ihrer Taufe bzw. nach ihrer Bekehrung sündigten und wie dies vor allem von Paulus theologisch reflektiert wurde. Er zieht das Ge­schichtsbild in Zweifel, wonach es eine sündlose Anfangszeit der Kirche gegeben habe, und sieht die Ansicht verfehlt, »es habe im Urchristentum ein Sündlosigkeitsideal gegeben« (8). In einem knappen Forschungsüberblick verortet er seine Arbeit jenseits von seiner Ansicht nach verfehlten Beschreibungen paulinischer Ethik (»Indikativ – Imperativ«) und anachronistischen Zugriffsweisen (»Buße«; »Kirchenzucht«) auf das Thema. Er will »einen Beitrag zur Analyse der für Paulus grundlegenden Denkkategorien im Um­gang mit der ›Sünde der Christen‹« (23) vorlegen, was ihm sicherlich auch gelingt.
Die Untersuchung stellt in einem ersten Teil »die traditionsgeschichtlichen Denkhorizonte« (25) und Deutekategorien bereit, die Paulus durch seine jüdische Sozialisierung vorfindet und aufnimmt. H. wendet sich den nachexilischen Propheten, den sog. Pseudepigraphen und der Weisheitsliteratur zu und zeigt, dass diese Texte keine »abstrakte Sündlosigkeit« (63) kennen. Wichtig für Paulus scheint die Erkenntnis zu sein, dass sich zwar ein scharfer Gegensatz zwischen Menschen, die der Glaubensgemeinschaft angehören, oder denen, die es nicht tun, zeigen lässt, dass aber die Gruppe, zu der man selbst gehört, nicht durch eine absolute Sündlosigkeit geprägt ist. Mit dieser Vorgabe nimmt die Arbeit bereits wesentliche Ergebnisse vorweg, da der Apostel nach H. diese Sichtweise übernimmt. Die eigene Gruppe konstituiert sich also nicht durch ihre Sündlosigkeit, sondern unterliegt mit ihren Sünden anderen Bedingungen und steht trotz ihrer Sünden in einem anderen Heilsstand.
Dieses Denkschema sieht H. auch bei den frühen Briefen des Apostels angewandt und führt im zweiten Teil der Arbeit vor, wie der »frühe« Paulus Konflikte in der Gemeinde angeht. Die Untersuchung fasst hier den 1Thess und die beiden Korintherbriefe ins Auge und stellt das »Heiligkeitsdenken« (75) des Paulus in den Mittelpunkt der Diskussion. Für Paulus sei der »Herrschaftswechsel« (153) von den Götzen hin zu Christus zentral, da der Mensch so in den Heilsbereich Gottes komme. Hier nimmt H. erkennbar Grundeinsichten der »New Perspective on Paul« auf, wenn er die »neue Gemeinschaft im Vordergrund« (154) des paulinischen Interesses sieht: »Weder die Art des Aufnahmeritus oder die kulturelle Herkunft, noch der Status der Mitgliedschaft, noch das gegenwärtige Engagement des Einzelnen sind für den Apostel theologisch von Interesse.« (154) Erst dann, wenn die Heiligkeit der Gemeinde durch die Sünde des Einzelnen bedroht sei, müsse gehandelt werden. An dieser abstrakt klingenden und sehr umfassenden Bestimmung entzündet sich ein gewisser Zweifel: Wie ist die Grenze zu bestimmen, an der ein dezidiert theologisches Interesse beginnen soll, und kann methodisch das theologische Interesse von dem des Gemeindemissionars abgegrenzt werden? Eine nähere Bestimmung der Begrifflichkeit wäre an dieser Stelle hilfreich gewesen, da es nicht so recht einleuchtet, wie der »Realist« Paulus es sich vorstellt, dass die »neue Identität« des Christen »sich erst noch im Alltag beweisen« (155) muss, wenn das Individuum doch eigentlich nicht interessiert. Die Spannung zwischen dem uninteressanten Verhalten des Einzelnen und der unantastbaren Heiligkeit der Gemeinde müsste m. E. an dieser Stelle noch konkreter in den Blick genommen werden.
Eine zweite Anfrage ist die Bestimmung des Stellenwertes der Taufe beim »frühen« Paulus. Für H. belegen die spärlichen Bezug­nahmen in 1Thess; 1Kor und 2Kor »die untergeordnete Stellung der Tauftheologie« (157), woraus die These abgeleitet wird, Paulus sei weder am Ritual an sich noch an der Verbindung von Wasser- und Geistestaufe interessiert. Die Frage ist nun, ob der Befund nicht auch dadurch erklärt werden kann, dass in den konkreten Gemeindesituationen keine ausgeführte Tauftheologie vonnöten war.
Richtig an H.s Ausführungen ist aber trotz dieser Anfrage sicherlich, dass die Taufe »nicht automatisch eine Immunisierung gegen Sünde« leistet (159), so dass auch Paulus sich der Situation gegenüber verhalten muss, dass der neue Mensch trotzdem sündigt. Praktisch erwarte Paulus also gar nicht, dass der neue Mensch nicht sündigt, sondern sehe dies fast als normal an. Eher umgekehrt erwiesen die Gemeindeglieder durch ihr Verhalten, dass sie an der Heiligkeit der Gemeinde Anteil hätten (159). Der Akzent liegt nach H. also vollkommen auf dem Gedanken der Heiligkeit eines Kollektivs, zu dem sich der einzelne Christ durch sein Verhalten bekennen müsse.
Im dritten Teil wendet sich H. dem Römerbrief zu und unterscheidet zwischen diachroner und synchroner Perspek­tive auf die Sünde, die deutlich zu trennen seien. Diachron gelte eine »absolute Freiheit von der Sünde« (204), doch bleibe der Mensch immer noch im Bereich der Sünde und liefe Gefahr, ihr zum Opfer zu fallen. Synchron sei er damit nur relativ frei. Während der »frühe« Paulus das Heiligkeitsdenken im Mittelpunkt sehe, zähle nun vor allem die »Christusbindung« »als entscheidende Deutekategorie« (205).
Der vierte Teil weitet den Blick in die paulinische Theologie und verortet das Thema der Arbeit im Spannungsfeld von Eschatologie und Christologie. Für den Christen gelte: »Der Eintritt in das Reich Christi durch Taufe und Geistempfang garantiert noch keine Aufnahme in das endgültige Reich Gottes, vor dessen Vollendung noch die Verantwortung des Einzelnen im Gericht liegt.« (244) Eine Heilsgewissheit kennt Paulus laut H. demnach nicht. Deshalb be­darf es auch des Gebets, »eine der stärksten Waffen im Kampf gegen die Sünde« (249), um die relative Freiheit der Christen zu erhalten und sich gegen die Bedrohung der Sünde zu wehren. Folgerichtig beschäftigt sich H. deshalb in Teil 5 der Arbeit mit der stellvertretenden Gebetserrettung im Neuen Testament und kommt zu dem Ergebnis, dass die Christen durch das Gebet »einander zum Heiland« (309) werden.
Systematisch fasst ein letzter Teil die Ergebnisse der Arbeit zu­sam­men und weist Perspektiven auf, die in der gegenwärtigen Dis­kussion um sündige Christen hilfreich sein können. Vor allem der Hinweis, dass Sünde gegenwärtig nicht individuell verengt gedacht werden sollte, sondern eher als »Störung und Bedrohung des Sozialgefüges« (316), kann wichtige sozialethische Impulse be­wirken.
Insgesamt lädt die Arbeit zum Nachdenken über das Ge­schichtsbild, über den Stellenwert der Rechtfertigungslehre, die ungeeignet sei, das Problem sündiger Christen zu bewältigen (322), und über das ekklesiologische Verhältnis von Individuum und Ge­meinschaft ein.