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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1328–1330

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sundkvist, Mikael

Titel/Untertitel:

The Christian Laws in Paul. Reading the Apostle with Early Greek Interpreters.

Verlag:

Joensuu: University of Joensuu 2008. 316 S. 24,9 x 17,6 cm = University of Joensuu Publications in Theology, 20. Kart. EUR 23,76. ISBN 978-952-219-104-5.

Rezensent:

Martin Meiser

Seit dem uns fassbaren Beginn altkirchlicher Paulusexegese ist umstritten, ob Paulus den Begriff νόμος an manchen Stellen im allgemeinen Sinne von »Ordnung«, »Regel« auffasst oder ob durchgehend ein Bezug zur Thora gegeben und wie dieser zu beschreiben ist. Mikael Sundkvist geht in seiner hier vorliegenden Dissertation, von Lauri Thurén betreut, der Frage nach, wie sich Gal 6,2; 1Kor 9,21; Röm 3,27 und Röm 8,2 diesbezüglich dem paulinischen Gesetzesverständnis einordnen lassen, und votiert – das sei jetzt schon gesagt – prinzipiell im letzteren Sinne. Nach dem einleitenden me­thodologischen Kapitel (11–50) wird zunächst die moderne Dis­kussion geboten (51–127), dann die altkirchliche Rezeption der genannten Passagen (128–281), bevor der Vf. seine Ausführungen abschließend bündelt (282–292).
Im Methodenkapitel rechtfertigt der Vf., dass er altkirchliche Exegese einbezieht. Grundlegend ist die Überzeugung, dass die Unterlegenheit altkirchlicher Exegese in diachronen Fragen voll kompensiert wird hinsichtlich der synchronen Betrachtung der biblischen Texte (23); auch altkirchliche Autoren sahen sich vor die Aufgabe gestellt, vermeintlich widersprüchliche Aussagen eines Autors auszugleichen. Dabei zeigt sich der Vf. durchaus problembewusst, etwa in der Warnung davor, die Frage nach dem Literalsinn mit der heutigen Frage nach dem historisch Ursprünglichen zu verwechseln (33). In der Diskussion darüber, ob die verschiedenen patristischen Literaturgattungen verschiedene Exegesen generieren (Simonetti) oder nicht (Young), schließt er sich der letztgenannten Position an (36) – für die von ihm bearbeiteten Problemstellen dürfte das richtig sein; generell würde ich anders votieren. Der Vf. beschränkt sich auf griechische Texte (nützlich ist die Übersicht, 38–50): Die Bearbeitung lateinischer oder syrischer Texte würde Reflexionen über die Komplexität des Übersetzens und der möglichen neuen Konnotationen des Begriffes »Gesetz« nach sich ziehen, die der Vf. aus Gründen der Arbeitsökonomie nicht leisten kann (36) – für eine Dissertation ist das in Ordnung. Die Hauptthese ist: »By demonstrating that the laws are ambiguous allusions to the Mosaic Law, both confirming and rejecting this law, the po­lemical explanation can render Paul’s use of ›law‹ more comprehensible.« (287)
Der Thorabezug ist, so der Hauptteil über die moderne Auslegung, im Fall von Gal 6,2 durch die enge Korrespondenz zu Gal 5,14 begründet, im Fall von 1Kor 9,21 durch die Analogie zur Wendung »Gesetz Gottes«. Der Zusatz »Christi« an beiden Stellen ist nicht auf einzelne Jesusworte (so überzeugend: 61–63) oder auf Jesu Verhalten insgesamt zu beziehen (so weniger überzeugend: 64–68), aber auch nicht, so der Vf. wiederum korrekt, nur in polemischer Ab­sicht formuliert: In beiden Fällen bezieht sich die Wendung auf ein von Paulus positiv bewertetes Verhalten. Die Wendung »Gesetz des Glaubens« in Röm 3,27 bezieht sich auf die Thora, die selbst die Rechtfertigung aus dem Glauben ankündigt (Röm 4); das ausgeschlossene »Rühmen« ist das der Juden nach Röm 2,17.23. Rechtfertigung durch Glauben fungiert, so der Vf. eher beiläufig, als Einlassbedingung ins Gottesvolk (81), die »Werke der Thora« sind die von der Thora geforderten Werke, aber nicht mit Dunn auf Sab­- bat-, Speise- und Reinheitsvorschriften einzugrenzen. Warum der Vf. seine Hauptthese wie oben angegeben formulieren musste, wird an Röm 8,2 deutlich, in dessen Kontext in Röm 7–8 Paulus so­wohl seine bisherige Infragestellung der Thora als Weg der Rechtfertigung als auch ihre Heiligkeit verteidigt. Einerseits schreibt der Vf.: »Life according to the order of Adam is replaced by the order of Christ and the Spirit. Rom 8.2 refers to this very replacement« (107), wodurch νόμος, der Syntax und dem Kontext geschuldet, im Sinne von »Ordnung, Regel« verstanden wird. Andererseits liest man später: »The Christian Laws affirm that God’s Law is spiritual and intended to promote life« (113). Der Vf. verweist auf den Unterschied zwischen reference und sense: Paulus schafft ambigue Wendungen, in denen aus Gründen der Syntax wie des Kontextes sich νόμος auf etwas anderes als die Thora bezieht, wo aber der sense von νόμος mit dem sense der Thora koinzidiert. Paulus will damit beides beanspruchen, die Unabhängigkeit von der Thora und die Affirmation der Thora (121).
Im altkirchlichen Teil fragt der Vf. zunächst nach den Rezeptionen der Wendung »Gesetz Christi« und dem möglichen Konnex zur Thora. Diesen Konnex hat Euseb von Emesa gezogen, nicht aber Johannes Chrysostomus und Theodor von Mopsuestia; das ist in der Emphase beider Autoren auf der christlichen Gesetzesfreiheit begründet, auch sehen beide Autoren in Gal 6,2 wie selbstverständlich christliche Normen angesprochen, die keiner weiteren Erklärung bedürfen. Zu 1Kor 9,21 stellt der Vf. bei Origenes, comm. in Mt XVII 32, heraus, dass er ebenfalls die Treue zur Thora wie die Distanzierung von ihr betont (147). Da, wo die genannte Wendung auf einzelne Jesusworte bezogen wird (z. B. bei Theodoret von Kyros), ist auf Joh 13,34; Lk 17,4 u. a. verwiesen. Das Motiv der Nachahmung Christi begegnet zu Gal 6,2 nur indirekt (172) und fehlt bei 1Kor 9,21 fast völlig (175).
Zu Röm 3,27 konzentriert sich der Vf. im Weiteren auf Origenes und Johannes Chrysostomus. Den Unterschied zwischen beiden (und den von ihnen begründeten Schulen) beschreibt der Vf. so, dass Origenes nach dem Tiefensinn des einzelnen Textelements, Johannes Chrysostomus nach der narrativen Kohärenz des ganzen Abschnittes fragt (187). Origenes versteht das »Gesetz des Glaubens« als zeitloses Prinzip, illustriert durch die Sünderin von Lk 7,36–50 und den Schächer am Kreuz (Lk 23,39–43). Johannes Chrysostomus liest Röm 2–4 als an die Adresse der nicht an Jesus glaubenden Juden gerichtet – seine Erfahrungen mit der Attraktivität der ört lichen Synagoge für einige seiner Christen dürften dafür Pate gestanden haben (200). Dass Paulus den Glauben ebenfalls Gesetz nennt, dient dazu, den Schein der Neuheit zu vermeiden (hom. in Rom. 8,3) und, so der Vf., den Juden die Akzeptanz seiner Botschaft leichter zu machen.
Bei Röm 8,2 konzentriert sich der Vf. zunächst wieder auf Origenes, dessen Dreifachstrategie er so beschreibt: Origenes systematisiert den verschiedenartigen Gebrauch von νόμος bei Paulus; er fragt nach einem angemessenen geistlichen Verständnis des Be­griffes und liest Röm 7–8 als Beschreibung des moralischen Fortschrittes des Menschen. Diodor und Johannes Chrysostomus be­ziehen Röm 8,2 auf die Taufe, die (vgl. Röm 8,4) zu einem Leben gemäß dem δικαίωμα = dem τέλος der Thora, d. h. in Sündlosigkeit verpflichtet (231); dabei wird νόμος allgemein im Sinne von Regel verstanden (238, wie schon bei Clemens von Alexandria, 256); trotzdem fehlt der Thorabezug nicht: »the ›law of Spirit‹ achieves the aim of the Mosaic Law« (241, bezogen auf Johannes Chrysostomus, hom. in Ioh. 14,2), ersetzt aber als »christliches Gesetz« die Thora (242).
Das Buch verlangt dem Leser einiges an Konzentrationsleistung ab; die Gedankenfolge hat sich mir nicht immer von selbst er­schlossen; die Darbietung des Materials wäre manchmal umzuordnen. Das sachliche Gewicht der durch die sog. New Perspective (wieder) aufgeworfenen Fragen sollte deutlicher markiert werden.
Ein Gewinn aber sind die eindringenden Textanalysen vor allem altkirchlicher Passagen. Ich teile mit dem Vf. die Einsicht, dass die Kenntnisnahme altkirchlicher Exegese auch für neuzeitliche Bibelauslegung förderlich sein kann – selbst da, wo man sich ähnlich wie mehrfach der Vf. (z. B. 196.200.212.219.221.248) kritisch von ihr distanzieren muss. So ist zu hoffen, dass er mutatis mutandis (s. o.) weitere Arbeiten dieses Typus vorlegen wird.