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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1326–1328

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Steiger, Johann Anselm, u. Wilhelm Kühlmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst. Hrsg. in Verbindung m. U. Heinen.

Verlag:

Berlin/Boston: de Gruyter 2011. XI, 541 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 118. Geb. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-026651-1.

Rezensent:

Ivaylo Naydenov

Im März 2010 fand im Gothaer Forschungszentrum für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien (Universität Erfurt) eine Jona-Tagung statt. Als Ergebnis dieses interdisziplinären Seminars, dessen Hauptthema »die heterogenen Adaptionen der Jona-Erzählung in unterschiedlichen Medien« darstellten, ist im Jahr 2011 der Sammelband »Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst«, herausgegeben von Johann A. Steiger und Wilhelm Kühlmann, er­schienen. Es handelt sich dabei um eine Fortsetzung der Bände »Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit« (2005) und »Golgotha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit« (2008).
Das kleine Jonabuch, ein Muster narrativer Erzählkunst im Alten Testament, gilt in der Bibelwissenschaft als crux interpretum für verschiedene Fragestellungen. Noch um das Jahr 400 n. Chr. schrieb der berühmte Kirchenvater Hieronymus im Vorwort zu der Auslegung des Jonabuches: »Ich weiß, dass alte Kirchenmänner, griechische wie lateinische, über dieses Buch viel gesagt haben, und dass die Aussagen durch die vielen Erörterungen weniger erhellt als vielmehr verdunkelt worden sind, so dass ihr Kommentar selbst wieder einen Kommentar nötig hat und der Leser von ihnen unsicherer scheidet, als er war, bevor er darin las« (S. Eusebii Hieronymi. Commentariorum in Jonam Prophetam, liber unus. Prologus. Patrologiae tomus XXV, col. 1117, die Übersetzung nach: Maier, G.: Der Prophet Jona. Wuppertaler Studienbibel, 1976, 13). Es ist daher nicht erstaunlich, dass der Prophet Jona als »problematisch« gilt, welches auch die Wahl des Titels durch die Herausgeber des Sammelbandes erklärt – »der problematische Prophet«.
Die Intention des Bandes wird deutlich von den Herausgebern definiert: die Wirkung des Jona-Erzählstoffes vom antiken Chris­tentum bis in die Literatur des 21. Jh.s zu rekonstruieren sowie darzustellen, inwiefern die vom Neuen Testament selbst initiierte typologische Exegese der Jona-Erzählung sowohl Epochen als auch Konfessionen beeinflusste. Und diese Intentionen wurden erreicht.
Das alttestamentliche Buch Jona umfasst 48 Verse in vier Kapiteln, in denen ein Prophet, ein Hafen, ein Schiff, ein Meer, eine große Stadt und kleine Schatten beschrieben werden. Und irgendwo dort steht der Exeget, und vor ihm öffnen sich verschiedene Ho­-rizonte, viele Ansichtspunkte, widersprüchliche Gedanken und Ideen. Und damit alles noch schwieriger und sogar unmöglich zu analysieren wird, bleibt diese schriftliche Prophetie nicht an einem Platz, sondern ist abhängig von der historischen Dynamik im Geiste der klassischen Weisheit: Habent fata sua libelli (manu-scripta).
Fast drei Jahrtausende ist das Jonabuch in Bewegung, zieht von Bibliothek zu Bibliothek, von Genisa zu Genisa, von Altar zu Altar, wo es geliebt und genutzt, verboten und verstoßen wird, und bei jeder Veränderung seines Platzes ändern sich auch die Ansichten und Kenntnisse zu ihm, zu seiner Wirkung und seinem Verstehen. Letztendlich stellt das Buch nicht fest, wie groß der Fisch, sondern wie groß Gott ist.
Der Leser dieses Sammelbandes geht zusammen mit Jona durch die Geschichte und erlebt die Vielfältigkeit seiner Gestalt in den verschiedenen Epochen. Er trifft Jona in der Zeit der Kirchenväter durch den klassischen Kommentar des Theodor von Mopsuestia, wo immer wieder das Problem der Bedeutung der Jona-Gestalt diskutiert wird – Jona, ein Muster der Versöhnung, oder Jona, das Vorbild der Auferstehung Christi?
Die Exegese Luthers, die tief in der Auslegungsgeschichte der Alten Kirche wurzelt, stellt die Jonageschichte in einer stark typologisch-christologischen Version dar, und Calvins Jona-Kommentar zeichnet sich durch theologische Großzügigkeit aus und be­schreibt Jona als Propheten, der sein Werk für Gott und Kirche unter den Israeliten schafft.
Wir treffen die Jona-Gestalt als Verkünder göttlicher Heilsbotschaften und als Vorläufer Christi und der Päpste an auf den von Michelangelo gemalten Decken der Kathedralen. Und von den Kanzeln wird oft und gern über Jona gepredigt (vgl. Gregor Strigenitz’ Jona-Predigt – ein homiletisches Schmuckstück).
Für die Zeit der Reformation, als über volkssprachliche litera­rische Unterhaltungsformen (Lieder und Theateraufführungen) der Inhalt der Heiligen Schrift interpretiert wurde, ist die Gestalt des Propheten besonders interessant und wurde dementsprechend viel genutzt – in den Werken von Hans Sachs, in Henrich Hudemanns Jonas-Epos, das die deutschsprachige Literatur damals modernisiert hat, und bei Caspar Bruelows Jona. Eine neue Herausforderung für die vergleichende Mythenforschung ist die Erklärung der heidnischen Mythen im Lichte der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte, was der Leser dieses Sammelbandes in Martin Opitz’ Kommentar zu Hugo Grotius’ Jona-Gedicht erfahren kann.
Die lyrische Dichtung und auch die Prosa zeigen deutlich, dass die Jona-Gestalt im 20. Jh. für bestimmte politische, religiöse, phi­losophische oder persönliche Fragenkomplexe geeignet ist. Der typologische Bezug zu den Ereignissen im Neuen Testament ist nicht mehr so stark von Interesse, sondern eher die Historie, die im Alten Testament als Quelle für göttliche Moral und menschliche Ethik beschrieben ist.
Außerhalb des Kontexts der deutschsprachigen Werke, wahrscheinlich auch deswegen am Ende des Bandes, stehen zwei Artikel, die das Jonabuch im Licht der fremdsprachigen Literatur betrachten – die Erzählungen über Moby Dick und Pinocchio. Provozierend klingt die Zusammenfassung des Artikels über die Figuren Jona und Pinocchio, der beschreibt, dass Jona durch Pinocchio zu einem populären Mythos geworden sei, »auch wenn er so seinen Namen und seine Komplexität verloren hat«. Hermann Melvilles Moby Dick spiegelte zum ersten Mal in der anglo-amerikanischen Literatur die Rätselhaftigkeit des Erzählstoffes im Jonabuch.
Die Herausgeber des Sammelbandes bieten am Ende auch eine Arbeitsbibliographie der Jona-Quellen, die nicht Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und die seit der Reformation erschienene Literatur im deutschsprachigen Raum präsentiert.
Der vorgestellte Sammelband ist eine Begegnung mit dem wirkenden Jona und bestätigt die Worte von Schalom Ben-Chorin: »Das Buch Jona […] gehörte immer zu den populärsten Teilen der hebräischen Bibel im Judentum […] Der Gleichnischarakter dieser spannenden kleinen Novelle ist für jedermann offensichtlich. Für das Kind kann das Buch Jona ein schönes Märchen, für den reifen Menschen ein Beispiel seines eigenen Lebens in der Flucht vor Gott und für die jüdische Gemeinde ein Paradigma ihrer geschichtlichen Sendung [sein], der Israel nicht immer gerecht wurde […] Unerschöpflich ist offenbar diese kleine biblische Erzählung, die auf den ersten Blick so anspruchslos wirkt. Zeit und Ewigkeit, Israel und die Völker, der Einzelne und das Weltgeschehen spiegeln sich in ihr« (Ben-Chorin, S.: Jona – Prophet unserer Zeit, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Nr. XXIX, 1974, 5).