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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

304–306

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Spindelböck, Josef

Titel/Untertitel:

Aktives Widerstandsrecht. Die Problematik der sittlichen Legitimität von Gewalt in der Auseinandersetzung mit ungerechter staatlicher Macht. Eine problemgeschichtlich-prinzipielle Darstellung.

Verlag:

St. Ottilien: EOS Verlag 1994. XVII. 313 S. 8o = Moraltheologische Studien, Syst. Abt. 20. Pb . DM 48,­. ISBN 3-88096-470-X.

Rezensent:

Martin Honecker

Die Studie von Spindelböck zum aktiven Widerstandsrecht wurde 1993 von der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien als Dissertation angenommen ("approbiert"). Es ist dies eine überaus fleißige, freilich auf eine moraltheologische Perspektive eingeengte Arbeit. Nach einer knappen "Einleitung" (1-13) in Fragestellung, Methode und Klärung grundlegender Begriffe (1. Gewalt, 2. Widerstand, 3. Tyrannenmord oder -tötung? 4. Revolution, 5. Legalität und Legitimität), die Bekanntes schul- und lehrbuchmäßig referiert, folgen zwei Hauptteile: Der umfangreiche "Problemgeschichtliche Teil" (14-185) gibt einen historischen Überblick, der wesentlich kürzere "Prinzipiell-systematische Teil" (186-259) die Auswertung. Der "Schluß" (260-266) faßt das Ergebnis knapp zusammen. Sachlich enthält die Arbeit kaum neue und weiterführende Einsichten. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis (273-304) und ein Sach- und Personenregister vervollständigen das Buch.

Den problemgeschichtlichen Teil eröffnen Kapitel zum Alten Testament und Judentum (14-16, nur kursorisch, insgesamt 2 1/2 Seiten) und zum Neuen Testament (16-33); Jesus war kein politischer Revolutionär; das Beispiel der Kaisersteuer wird erwähnt; Römer 13 ist Beleg für Staatsbejahung (25) und hat einen naturrechtlichen Hintergrund (28). Den Abschluß bildet ein knapper Blick auf Off 13 (30 f.). Auffällig ist, daß in Anmerkungen jeweils der lateinische Text der Bibelstellen zitiert wird. Das Ergebnis des bibeltheologischen Teils ist dürftig: es "scheint in schweren Konfliktsituationen ein aktives Widerstandsrecht nicht den Weisungen der Hl. Schrift zu widersprechen" (33). Hermeneutische Überlegungen fehlen. Das Ziel des biblischen Rückblicks dürfte es nur sein, die Unverzichtbarkeit des Naturrechts und einer authentischen Interpretation der Hl. Schrift im Licht der Tradition durch das kirchliche Lehramt zu beweisen. Die kirchengeschichtliche Übersicht beginnt mit den Kirchenvätern der vorkonstantinischen Zeit. Ein aktives Widerstandsrecht ist noch nicht nachweisbar.

Die Belege sind weithin anderen Autoren entnommen (z.B. für die Kirchenväter: B. Schöpf, Das Tötungsrecht bei frühchristlichen Schriftstellern bis zur Zeit Konstantins, 1958). Man vermißt im historischen Teil einen Abschnitt zum Einfluß antiker Schriftsteller auf das frühe Christentum (Tyrannenmord, Staatsverständnis).

Die Belege aus der Vor-, Früh- und Hochscholastik führen zu einem der Schwerpunkte des Buches zur Darstellung des aktiven Widerstandsrechts bei Thomas von Aquin, dem "Doctor echter katholischer Synthese" (74). Der Abschnitt über Thomas ist eingehend und differenziert (74-92). Die folgenden historischen Kapitel sind im Blick auf die spanische Spätscholastik (Francisco de Vitoria, gest. 1546, 96) ebenfalls ausführlich. Die Theorie des Jesuiten Mariana zum Recht auf Tötung des ungerechten Herrschers, wird apologetisch behandelt (107-109). Nur oberflächlich erörtert wird die Haltung der Reformatoren (109-115) und der Theoretiker des absolut souveränen säkularen Staates der Neuzeit (115-129: Hobbes, Rousseau, Montesquieu, Kant, Hegel). Das Faktum der Französischen Revolution von 1789 ist nicht erwähnt. Die Kasuistik Alfons Maria von Liguori’s (1696-1787) (124-129) leitet zum Konstitutionalismus des 19. Jh.s über. Zwischen 1789 und der Zeit nach 1933 (Widerstand im totalitären Staat) klafft eine Lücke. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Staatsterror (133-144) ­ in diesem Zusammenhang wird auch Bonhoeffer kurz erwähnt (136 f.) ­ wird der Beitrag der päpstlichen Soziallehre seit Leo XIII. (1878-1903) dargestellt.

Nach Thomas von Aquin bieten die Texte zum "aktiven Widerstandsrecht" im Sozialen Lehramt der Kirche von Leo XIII. bis zu Johannes Paul II. (145-185) den zweiten Schwerpunkt der Dissertation. Diese Zusammenstellung von päpstlichen Äußerungen ist nützlich. Auffallenderweise spricht der Vf. freilich vom "sozialen Lehramt" der Päpste und nicht vom "politischen" Lehramt und vermeidet den Terminus "politische Theologie"; würde nämlich das Wort politisch gebraucht, dann käme auch eine Nähe zur neueren (katholischen) politischen Theologie zum Vorschein. Wie situationsbedingt und von der Bewertung von Zeitereignissen abhängig auch die päpstlichen Stellungnahmen sind, verdeutlichen freilich die Texte. Die Enzyklika "Firmissimam constantiam" an die Bischöfe Mexicos vom 28.3.1937 wird zurecht der Vergessenheit entrissen (152-157). Die diplomatische Stellungnahme Roms zum Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 (165-168) ist heruntergespielt. Populorum Progressio von 1968 enthält kein prinzipielles Recht auf Revolution (175). Betont wird mit Johannes Paul II. die Absage an eine Logik der Gewalttätigkeit (180 f).

Mit dem Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 (183 f.) liegt die Lehrgrundlage vor, die im 2. Teil systematisch entfaltet wird: die naturrechtlichen Konstituenzien (187 ff.), die aristotelisch-scholastische Lehre der Volkssouveränität (205 ff.), die Legitimation aktiven Widerstands als Ausübung eines gemeinsamen Notwehrrechts des Staatsvolkes (209 ff.), erlauben ein Widerstandsrecht. Dabei sind ethische Kriterien zu beachten (223 ff.), wie Merkmale des Despotismus, Akzeptanz durch das Volk, Recht auf Verteidigung, keine Anwendung in sich schlechter Mittel, Einsatz von Gewalt als ultima ratio, Erfolgsaussicht, gemäß einem "Effektivitätsprinzip in naturrechtlichem Verständnis" (245). Der prinzipiell-systematische Teil legt eine zeitlose moraltheologische Kasuistik vor. Das Lehramt hat deshalb eine wichtige Funktion bei der Beurteilung einer Widerstandssituation, weil nach ihrem spezifischen Selbstverständnis die katholische Kirche die wahre Kirche Jesu Christi ist (251). Die Gewissensentscheidung der direkt Verantwortlichen ist freilich unvertretbar (256) und es bleibt ein nicht-kalkulierbares Restrisiko der unmittelbar handelnden Akteure.

Die Arbeit ist ein Dokument, das belegt, daß auch ein konservativer und integralistischer Katholizismus sich auf die sittliche Berechtigung aktiven Widerstandes zu berufen vermag. Die moraltheologische Argumentation dieser Studie ist freilich wenig befriedigend, weil schon in der Fragestellung verengt. Es wird der Anschein erweckt, als gebe es zeitlos gültige Regeln politischen Handelns und Urteilens. Die Verschiedenartigkeit politischer und historischer Kontexte ist dadurch ausgeklammert. Das Problem des Widerstandes wird nur als geistig-moralische Frage betrachtet. Auch die rechtswissenschaftliche Diskussion, die wesentliche Beiträge geleistet hat, wird nicht berücksichtigt. Je nach Kontext ist die Ausgangslage jedoch sehr unterschiedlich; Staatsverständnis, politische Verfahren (Demokratie) und polische Überzeugungen (Menschenrechte) veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte. Gründe und Anlässe, Träger, Mittel (z.B. Schußwaffen, Schwerter, Atomwaffen) und Erfolgsaussichten eines Widerstandes wechselten. Ob es um Okkupation durch eine fremde Macht, um Revolution und Bürgerkrieg, um Diktatur oder um den Kampf für nationale Selbstbestimmung geht, wäre zu bedenken. Gelegentlich schimmert durch die Arbeit durch, wie kontextabhängig selbst das Urteil des kirchlichen Lehramtes war (93-95: Johannes Parvus und das Konstanzer Konzil; 107-109: Die Stellung der Päpste zur monarchomachischen These Marianas; 152-156: Pius XII. und die mexikanische Regierung 1937; 165-168: Pius XII. zum Attentat am 20. Juli 1944). Die Arbeit zieht daraus freilich keine grundsätzlichen Schlüsse. Naturrecht und authentische lehramtliche Interpretation geben die unveränderlichen Urteilskriterien vor. Die Arbeit ist überaus belesen und fleißig, im moraltheologischen Ansatz jedoch einer neuscholastischen Tradition verpflichtet, die politische und historische Analysen außen vor läßt. Evangelische Ethik wird hingegen stärker betonen, wie situationsbedingt und abhängig von politischen Konstellationen und Lagen die Bewertung eines aktiven Widerstands ist und deshalb eine pluralistische Perspektive einzubringen haben. Im Ergebnis besteht zwischen evangelischer Ethik und katholischer Moraltheologie unverkennbar Konvergenz, auch wenn die theologische Grundlage nach wie vor unterschiedlich bleibt.