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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1324–1326

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schipper, Jeremy

Titel/Untertitel:

Disability and Isaiah’s Suffering Servant.

Verlag:

Oxford/New York: Oxford University Press 2011. XI, 168 S. 20,2 x 13,5 cm = Biblical Refigurations. Kart. £ 14,99. ISBN 978-0-19-959486-3.

Rezensent:

Edgar Kellenberger

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Yong, Amos: The Bible, Disability and the Church. A New Vision of the People of God. Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2011. XIII, 161 S. 22,8 x 15,2 cm. Kart. US$ 20,00. ISBN 978-0-8028-6608-0.


Aus dem wachsenden Feld der Disability Studies ist auf zwei zeitgleich erschienene biblische Studien hinzuweisen, die trotz geringem Seitenumfang ein großes Feld abschreiten und dabei zukunfts­trächtige theologische Impulse vermitteln. Beide Autoren publizieren seit Jahren zur Thematik und zeigen ein hohes methodologisches Bewusstsein. Obwohl sie von ihrem biographischen Umfeld her eine besondere Sensibilität für körperliche und geistige Behinderung transparent machen, ist ihre wissenschaftliche Argumentation für jedermann zugänglich.
J. Schipper, Associate Professor of Hebrew Bible an der Temple University in Philadelphia, befragt die vielfältige Auslegungsgeschichte des leidenden Gottesknechts unter einem interessanten Aspekt: Wie gingen Juden und Christen – seit den alten Übersetzungen bis heute – mit denjenigen Aussagen in Jes 53 um, die möglicherweise auf eine Behinderung des Knechts hindeuten (»von Gott geschlagen, zermalmt« usw.)? Kapitel 1 weist hin auf die eklatanten exegetischen Folgen, ob man Behinderungen als medizinisches Phänomen definiert oder ob man sie als kulturelles Konstrukt der damaligen Gesellschaft bzw. als soziale Erfahrung der Behinderten in den Blick nimmt. Auf dieser Grundlage widmet sich Kapitel 2 der Semantik der betreffenden Aussagen in Jes 53. Unter Berücksichtigung weiterer alttestamentlicher und altorientalischer Texte wird herausgearbeitet, dass hier reale körperliche Behinderungen als gesellschaftliche Erfahrung geschildert werden, ohne dass uns der Blick auf eine medizinische Diagnose möglich wird. Kapitel 3 zeigt, wie bereits die alten Übersetzungen sowie die typologische Exegese die Sicht auf einen behinderten leidenden Knecht weitgehend verschwinden lassen und stattdessen unreflektiert einen Nichtbehinderten ( able-bodied) voraussetzen. Kapitel 4 weist dies im gründlichen Abschreiten der unterschiedlichen Auslegungstypen nach, wobei auch zu allen Zeiten eine schmale Minderheit von Auslegern die Sicht eines behinderten Knechts vertritt. Eine knappe conclusion wertet die Ergebnisse aus und zeigt auf, dass die meisten Auslegungen wundersame brave new worlds without disability schaffen. Dahinter verbergen sich gesellschaftlich normative Wertvorstellungen, welche die Sicht auf den biblischen Text empfindlich einschränken. Die Hartnäckigkeit solcher unreflektierten Einflüsse muss uns Exegeten grundsätzlich zu denken geben – wohl nicht nur im Blick auf Jes 53. Darauf den Finger zu legen, ist Schippers Hauptverdienst. Leider noch zu wenig geklärt werden von ihm die theologischen Konsequenzen seiner Sicht eines behinderten Knechts.
Dass eine behindertengerechte Exegese wesentliche Konsequenzen für sämtliche theologischen Disziplinen zeitigt, ist hingegen das brennende Anliegen des Buches von A. Yong, Professor of Theology an der evangelikalen Regent University in Virginia. Dieser kreative Dogmatiker pfingstlicher Richtung verarbeitet eindrücklich einzelne Beobachtungen von Fachexegeten zu einer weitgreifenden und innovativen theologischen Schau, ohne den Blick auf deren Realisierung auf Erden zu vernachlässigen. Kapitel 1 wendet eine Hermeneutik des Verdachts originellerweise auf die Bibelleser an: Die gängige Interpretation der einschlägigen Bibeltexte sei an der göttlichen Aufhebung menschlicher Behinderungen interessiert und verstärke dadurch weiterhin – wenn auch ungewollt und unbedacht – die Marginalisierung heutiger behinderter Menschen. Kapitel 2 weist auf wenige alttestamentliche Ge­genbeispiele hin, wo Gottes heilvolles Handeln einem bleibend behinderten Menschen gilt, so z. B. dem hinkenden Jakob/Israel. Und während der gequälte Hiob sich mit einem Chaos-Drachen vergleicht (Hiob 7,12), erklären Gottes Schlussreden die Monstrosität von Leviathan und Behemot als Höhepunkt seiner Schöpfung.
Kapitel 3 bringt Beispiele aus Evangelien und Apg: Der äthiopische Eunuch wird – entgegen Dtn 23,1 – ins Volk Gottes integriert, ohne dass sein Körper »geheilt« würde (analog Jes 56,3–5; Jer 31,8 f.; Mi 4,6 f.); ebenso betrifft die Restituierung des Zachäus nicht dessen Kleinwüchsigkeit, sondern die Vergebung von bereuten Sünden, womit Lk 19 die gängige antike Wertung der Physiognomie unterläuft. An Heilungserzählungen zeigt Yong, wie leichthin die Ausleger – entgegen dem neutestamentlichen Wortlaut – Verbindungen zwischen Blindheit und Finsternis bzw. zwischen Behinderung und Sünde schaffen. Mit der Vision, dass Apg 2 alle Beeinträchtigten wie alle Völker und Sprachen mit einschließt, leitet Yong über zum charismatischen Modell bei Paulus (Kapitel 4). Dessen subversive Theologie der Schwäche (astheneia), die in ihren biographischen Faktoren eventuell auf eine Art Behinderung hinweist, verbindet sich mit seinem charismatischen Gemeindeaufbau: Gerade denjenigen Gliedern, die als schwach oder unansehnlich gelten, kommt umso größere Beachtung zu (1Kor 12,22 f.). Darüber hinaus wagt Yong, wenn auch »mit Furcht und Zittern«, aus den Aussagen über Gottes Torheit und die Weisheit der Welt (1Kor 1,18–25) eine Auslegung, welche auch intellektuelle und geistige Behinderung mit einschließt – mit weitreichenden kreuzestheologischen und ekklesiologischen Konsequenzen. Yong verbindet hier kühne Theologie mit sympathischer Vorsicht, Umsicht und Transparenz seiner Argumentation. Dabei bleibt er frei von jeglicher Apologetik der Behinderung, und es eröffnen sich neue Chancen für die gesamte Kirche.
Kapitel 5 bringt ebenso kühne Sichten auf das Eschaton. Hier präzisiert Yong die ausführlichen Überlegungen seiner vorgängigen Monographie »Theology and Down Syndrome« (2007): Sollen wir wenigstens im Eschaton auf eine »Heilung« aller Behinderten hoffen (so die gängige Meinung) – und damit die Existenz dieser Menschen einmal mehr grundlegend abwerten? Doch was hat es zu bedeuten, dass der Christus mit dem Makel seiner Nägelmale auferstanden ist? Eine Barthsche Christologie fortführend (KD IV/1 § 59), plädiert Yong nicht für eine Eliminierung, sondern für eine verherrlichende Umwertung der leiblichen Schwachheit in Chris­tus als dem Anfang und Ende. In diesem Kontext versteht er auch das verheißene »Abwischen aller Tränen« (Offb 21).
Die beiden Autoren Schipper und Yong beschreiten je einen eindrücklichen Weg von den anthropologischen Rändern zum Herzen der Theologie. Sie folgen dabei elementaren biblischen Vorgaben, wie sie noch in vielen Texten auf unsere Neuentde-ckung warten.