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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1307–1311

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schliesser, Benjamin

Titel/Untertitel:

Was ist Glaube? Paulinische Perspektiven.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2011. 127 S. 21,0 x 14,0 cm = Theologische Studien. Neue Folge, 3. Kart. EUR 13,80. ISBN 978-3-290-17803-1.

Rezensent:

Jörg Dierken

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Körtner, Ulrich H. J.: Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2010. 99 S. 21,0 x 14,0 cm = Theologische Studien. Neue Folge, 1. Kart. EUR 13,80. ISBN 978-3-290-17800-0.
Schweitzer, Friedrich: Menschenwürde und Bildung. Reli­-giöse Voraussetzungen der Pädagogik in evangelischer Perspektive. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2011. 111 S. 21,0 x 14,0 cm = Theologische Studien. Neue Folge, 2. Kart. EUR 13,80. ISBN 978-3-290-17801-7.


Verlagspolitik ist immer auch ein Stück Zeitgeschichte. Der Theologische Verlag Zürich schreibt sie, indem seit 2010 die alte, 1938 von Karl Barth begründete und von ihm nahestehenden Herausgebern durch die Zeiten betreute Reihe Theologische Studien in neuer Folge erscheint. Sie knüpft an das Format kleinerer, markanter Studien aus dem Gesamtgebiet der Theologie an, setzt aber inhaltlich andere Akzente. Während auf dem Klappentext älterer Theologischer Studien zu lesen war, dass sie durch »wissenschaftliche An­strengung« »der Kirche helfen [sollen]: zur Erkenntnis ihres Grundes und ihrer Bestimmung, zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung, zur Freude an der ›Menschlichkeit Gottes‹« (ThSt 104, 1970, Nachdr. Hefte 1 u. 20), geht es nun um die Kommunikation zwischen »aktueller Fachwissenschaft« und einer »theologisch interessierten Leserschaft«. Im Fokus stehen »aktuelle öffentlichkeits- und gesellschaftsrelevante Themen«. Auf dem »Stand der […] Fachdebatte« präsentiert, sollen sie zugleich »zur theologischen Gegenwartsdeutung« beitragen (Klappentext ThSt.NF, 1). Die Herausgeber versammeln dazu etablierte Autoren und Autorinnen, geben aber auch jüngeren Stimmen Raum.
Im ersten Band entwirft der Wiener Systematiker Ulrich H. J. Körtner ein Verständnis von reformatorischer Theologie, das auch im 21. Jh. orientieren soll. Historische und begriffsgeschichtliche Streiflichter fokussieren verschiedene Bedeutungen des Reformatorischen. Gemeinsame Schnittpunkte seien die Abstellung von Missständen durch Rückkehr zu ursprünglichen Normen und ein Primat des Geistes Gottes gegenüber menschlichem Handeln. Als zentrales Kriterium gilt die »Rechtfertigungslehre« mit ihrer »be­dingungslosen Vorgabe des Heils« und der »klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und tätigen Wesen des Glaubens« mit einem entsprechenden Verhältnis von »Soteriologie und Ethik« (26). Gegenüber vielfältiger neuzeitlicher Infragestellung des Recht fertigungsgedankens fokussiert Körtner Phänomene der »Tribu­-nalisierung der modernen Lebenswelt«, um im Gegenzug eine »ethische Theologie […] der durch die Gottesrelation bestimmten menschlichen Lebensführung« zu entwerfen (34 ff.40). Im Un­terschied zu dem gleichnamigen Konzept von T. Rendtorff geht es bei Körtner darum, dass Gott sich in seinem Handeln am Menschen rechtfertigt und dessen Handeln bestimmt. Basal für die Lebensführung seien die rezeptiven und passivischen Lebensdimensionen, und die Ethik wird zu einer »Ethik des Lassens« (43). Sie lasse Gott und Mitmensch sie selbst sein und konkretisiere sich in Erbarmen und Verzeihen. Auch die in der Rechtfertigung zugeeignete Freiheit wird von der »passivische[n] Grundstruktur« des Glaubens her gedacht; sie befreie aus der »selbstverschuldeten Un­freiheit der Sünde« und verleihe eine das »Gravitationszentrum des Menschen« tragende »Gewissheit« (59.53.58). Produktive Implikationen zeigt Körtners auf Rezeptivität gestimmte Interpretation der Rechtfertigungslehre im Kontext hermeneutischer Fragestellungen. Vor dem Hintergrund der antirömischen Spitzen des evangelischen Schriftprinzips entfaltet Körtner seine rezeptionsästhetische Pointe der Inspirationslehre: Der Akzent verschiebt sich von der Textproduktion hin zum »impliziten Leser« biblischer Texte, der im Kontext der kirchlichen Interpretationsgemeinschaft »vom Geist Gottes im Akt des Lesens« inspiriert werde (78). Die alte Inspirationslehre wird im Lichte moderner Hermeneutik behutsam umgeformt, dennoch bleibt der Leser an den hinter dem Text ste henden Gott gebunden. Abschließend verhandelt Körtner unter dem Titel »Reformation und Moderne« (79 ff.) die vielfältigen Nachwirkungen und Renaissancen reformatorischen Denkens. Gegenwärtig könne und solle es zu einer »Metakritik der Moderne« und ihrer »kritischen wie technokratischen Rationalität« beitragen (88 f.). In Verbindung mit Programmen einer »reflexiven Modernisierung« solle unter vorsichtiger Revision der These vom epochalen Bruch der Aufklärung möglichen Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Moderne nachgegangen werden, um die reformatorische Kritik an spätmittelalterlichen Verhältnissen in die Frage nach einer »andere[n] Moderne« zu überführen (90). Deren ethische Konturen bleiben indes recht blass. Der Größe des »Auftrag[s]« protestantischer Kirchen, »zur Überwindung der inhumanen Folgen neuzeitlicher Rationalität« in den Bereichen »der Politik und der Ökonomie beizutragen« (ebd.), entspricht kaum ein zur Einlösung erforderlicher Konkretionsgrad.
Im zweiten Band knüpft der Tübinger Praktische Theologe Fried­rich Schweitzer dezidiert an das moderne Konzept der Menschenwürde an und macht es für ein protestantisches Bildungskonzept fruchtbar. Wie ein knapper Durchgang durch die Geschichte evangelischen Bildungsdenkens zeigt, ist damit eine Zäsur gegenüber dem auch das reformatorische Denken bestimmenden Motiv, dass der Mensch wegen seiner Sündhaftigkeit erziehungsbedürftig sei, gesetzt. Vervollkommnung hin zur schöpfungstheologisch und soteriologisch begründeten Gottebenbildlichkeit, dem theologischen Pendant zum Menschenbild des Würdekonzepts, bestimmte erst bei Comenius das evangelische Bildungsverständnis. Das be­reits bei Luther greifbare Ziel einer elementaren Schulbildung für alle wurde mit der aufklärerischen Pädagogik zum Staatsziel. Gegen deren Nützlichkeitsorientierung kam es in der Schleiermacherschen Tradition zur Akzentuierung ethischer Individua­litätsbildung. Das aktuelle Thema Bildungsgerechtigkeit sieht Schweitzer bereits in Wicherns »Rettungshauspädagogik« antizipiert. Im Kontext gegenwärtiger Debatten fokussiert Schweitzer den Gedanken der Befähigungsgerechtigkeit. Als »dynamischer Begriff« könne er evangelisches Bildungsdenken mit einem vom Menschenwürdeprinzip gebotenen Gleichheitsideal verbinden (34). Dem in der Menschenwürde ebenfalls verankerten Motiv der (Religions-)Freiheit werde durch religiöse Bildung Rechnung ge­tragen, die nicht auf das Christentum einzuengen sei. Schweitzer zieht Linien zu »interreligiöse[r] Bildung« und zum entsprechenden »Dialog« (43ff.). Die Linie der Überlegungen ist innovativ, aktuell und plausibel. Worin jedoch der zur Begründung von religiöser Bildung beanspruchte systematische »Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Transzendenz« genau besteht (38), bleibt weiter zu erkunden. Zudem kann angesichts der spannungsvollen Geschichte von Menschenrechtsdenken und Theologie gefragt werden, ob der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung tatsächlich der »Zentralfokus evangelischen Bildungsdenkens« ist – oder erst werden soll (48). Gerade angesichts der negativen Religionsfreiheit dürfte dem modernen Recht größeres Gewicht als der Theologie bei der Implementierung des Menschenwürdeprinzips zugekommen sein. Auch in Schweitzers Systematisierung der historischen Befunde zu »Theologische[n] Voraussetzungen« des Konnexes von Menschenwürde und Bildung (51 ff.) bleiben historische und aktuelle Konfliktzonen eher am Rand. Ob sich tatsächlich eine »ziemlich direkte wirkungsgeschichtliche Linie zwischen dem ersten Kapitel der Bibel und modernen demokratischen Auffassungen beobachten lässt« (54), sei dahingestellt. Der Gottebenbildlichkeitstopos hätte sich in konstruktiver Spannung zur Logik des Bilderverbots deuten lassen, um die Offenheit menschlicher Bildungsprozesse zu symbolisieren. Dass Bildung den ganzen Menschen in seiner Individualität betrifft, nicht auf Vollkommenheit zielt, allen Menschen und mithin auch Behinderten zukommen soll, gegebenenfalls kontrafaktisch zur sozialen Teilhabe befähigen möge und die Eigenart von Kindern berück-sichtigen muss, expliziert Schweitzer zu Recht als Grundlinie eines heutigen evangelischen Bildungsdenkens. Sie leitet auch seinen Diskurs mit der gegenwärtigen Pädagogik. Schweitzer streicht über den Konnex von Menschenwürde und Bildung Ähnlichkeiten zwischen Theologie und Pädagogik heraus, betont aber auch die Grenzen mancher Konzepte. Als Beispiel mag die »Success-Formel« eines instrumentellen Bildungsdenkens dienen (85), das etwa über die OECD auch in die deutsche Bildungspolitik hineinreicht. Schweitzer betont, dass »religiöse oder weltanschauliche Wahrheitsansprüche« sich letztlich der »erziehungswissenschaftlichen Beurteilung [entziehen]« (88) – so sehr die Menschenwürde und das in ihr fundierte Bildungsdenken auch religiös motiviert sind und Menschenwürde schon daher selbst zum Thema religiöser Bildung werden soll. Reflexivität gehört eben zu Bildungsprozessen hinzu, in Programmatik wie Performanz. Die Reformulierung der Prinzipien evangelischen Bildungsdenkens im Zeichen der Menschenwürde ist ein konstruktiver Ausgriff, trotz mancher Rückfragen angesichts allzu glatter Identifizierungen.
Demgegenüber ist der dritte Band um Traditionalität bemüht. Als bisher jüngster Autor der neuen Reihe fokussiert der Zürcher Neutestamentler Benjamin Schliesser »Paulinische Perspektiven« auf die Frage »Was ist Glaube?«. In jeweiligem Dreiklang von »Forschungsgeschichte«, »Exegese« und »Verstehenshorizont« geht er in parallel aufgebauten Kapiteln verschiedenen Relationen und Dimensionen des Zentrums der christlichen Religion nach. Nach einer »systematisch-theologischen Einordnung« (13 ff.) wird Glaube als »Identitätskriterium einer Gemeinschaft« (27 ff.) und als »göttliche Geschehenswirklichkeit« (34 ff.) beschrieben sowie in seinem Verhältnis zu »Vernunft« (42 ff.), »Wille« (69 ff.) und »Gefühl« (88 ff.) erörtert. Glaube bezeichne die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde und schaffe Abgrenzung gegenüber Un­gläubigen. Er sei auf das göttliche Heilsgeschehen bezogen und versetze in »eschatologische Existenz« (37). Er umfasse zwar »Fürwahrhalten« wie »Überzeugtsein« und besitze auch eine kognitive und kommunikative Dimension, aber seine fiduzialen und personalen Momente gipfelten angesichts des Bekenntnisses zu Tod und Auferstehung Christi ›für unsere Sünden‹ in der Aufnahme in den »Wirklichkeitsgehalt der Heilstatsachen«, die »auf gleicher Stufe mit dem Glaubensinhalt steht« (59.66). Das verwickelte Problem von fides qua creditur und fides quae creditur wird angerissen, aber nicht durchdacht. Das Verhältnis des Glaubens zum Willen kommt in den traditionalen Figuren »Entscheidung« und »Gehorsam« zur Sprache, die Schliesser um einen als »Liebe« verstandenen »neue[n] Gehorsam« ergänzt (71 ff.78 ff.). Das Kriterium der Liebesethik sei ein Leben »in Entsprechung zum Christusgeschehen« (86). Die emotiven Dimensionen des Glaubens werden schließlich nach den Schemata des »mystische[n] Erleben[s]« sowie des »Vertrauen[s]« und der »Gewissheit« sortiert (92 ff.101 ff.). Es gehe um einen »ganzheitliche[n] Lebensakt«, der »die Existenz bleibend auf ein personales Gegenüber ausrichtet« (105). Abschließend fasst Schliesser den Glauben als ein im Neuen Testament entdecktes »Existential des Menschseins«, das allerdings von der bereits im Alten Testament thematischen Heilsgeschichte her zu verstehen sei (116). Der im Neuen Testament bezeugte »Neueinsatz im Heilshandeln Gottes« sei im Modell von »Emergenz« zu verstehen, und ihm entspreche die »›Neuschöpfung‹ des Menschen im Glauben« (116 f.). Ob diese Darlegungen zum Zentrum des christlichen Religionsvollzugs wirklich neu sind und ein gesellschaftsrelevantes Thema aufgreifen, darf gefragt werden.
Dass die Neue Folge der Theologischen Studien in knapper Form den Austausch von akademischer Theologie und interessierter Leserschaft befördern will, ist begrüßenswert. Ob es immer auch der Stand der Fachdebatte ist – sofern sich dieser in der Theologie exakt identifizieren lässt –, sei dahingestellt. Im Blick auf das Ziel, zur theologischen Orientierung angesichts gesellschaftlich relevanter Themen beizutragen, könnte mehr riskiert werden.