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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1295–1308

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Hans Weder

Titel/Untertitel:

Theologie als Wissenschaft*

»Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat.«1 Dieser ebenso lakonische wie auch präzise Vorwurf galt einer Theologie, die sich im Haus der Wissenschaften gut eingerichtet hatte. Seit der Aufklärung waren Theologen we­sentlich beteiligt an der Entwicklung der philologischen und historischen Methoden sowie der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik. Obwohl die Theologen im Haus der Wissenschaften rauen Gegenwind vorhersahen, hatten viele von ihnen unerschrocken an der Modernisierung dieses Hauses mitgewirkt. In die grundlegendste Aporie wurde die Theologie dadurch geführt, dass in diesem Hause die Wirklichkeit ohne den leisesten Duft von Theologie beschrieben wird, wie Franz Overbeck völlig zu Recht diagnostizierte.2 Wollte sich die Theologie in der Universität häuslich einrichten, musste sie sich ebenjener säkularen Konstruktion von Wirklichkeit unterwerfen, die Ernst Troeltsch für die histo­-rische Methode durch die drei Prinzipien der Kritik, der Analogie und der Korrelation präzise definiert hatte.3

1. Die wissenschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit


Das Prinzip der Kritik besagt, dass alles, was zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht wird, dem kritischen Urteil der Vernunft unterworfen wird und also keine Autorität beanspruchen kann.4 Kann es bestehen, erlangt es Geltung, kann es nicht bestehen, wird es verworfen. Welchen Sinn aber hat es, vom höchsten Gott zu reden, wenn die Vernunft die höchste Richterin auch über diesen Gott ist? Das Prinzip der Analogie besagt, dass alles, was wissenschaftlich untersucht wird, nach Maßgabe der eigenen Erfahrung oder der als sicher bezeugten Erfahrung anderer erkannt wird. Dadurch wird der Vergleich zum entscheidenden Erkenntnismittel. Wie kann da von einem Ereignis wie der Auferstehung Jesu sinnvoll die Rede sein, das schon nach dem Verständnis der ersten Beteiligten als ein unvergleichliches Widerfahrnis zu betrachten ist? Das Prinzip der Korrelation schließlich besagt, dass die gesamte Wirklichkeit als ein lückenloser Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, von Bedingungen und Folgen verstanden wird. Das begründet die prinzipielle Weltlichkeit von Natur und Ge­schichte. Wie aber kann in diesem Kontext das Wort »Gott« sinnvoll gebraucht werden?

Das ist das Grundgerüst des Hauses der Wissenschaften. In diesem Haus droht die Theologie entweder ihren Gegenstand zu verlieren oder aber ihr Hausrecht zu verwirken. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Entwicklung der modernen Wissenschaften, an welcher die Theologie maßgeblich mitgewirkt hatte, diese zu­gleich in eine gewisse Verlegenheit brachte.

Man könnte dasselbe auch universitätsgeschichtlich ausdrü-cken: Die Theologie gehört zu den entscheidenden Faktoren, welche überhaupt zum Bau des Hauses der Wissenschaften geführt haben.5 Sind doch viele der großen Universitäten Europas aus Einrichtungen wissenschaftlicher Theologie hervorgegangen. Nicht die geringste unter ihnen ist die Universität Zürich, deren Vorgängerin und Wegbereiterin die durch Huldrych Zwingli gegründete theologische Schule war. Dass die Universität, deren Wegbereiterin die Theologie ist, diese in Aporien führt, gehört zur Ironie der Ge­schichte.

2. Die echte Bedrängnis der Theologie


Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob die bedrängende Verlegenheit von außen käme, indem der Theologie das Recht abgesprochen wird, sich überhaupt Wissenschaft zu nennen. Ein rühriger Vertreter der ebenso rührigen Giordano-Bruno-Gesellschaft bringt es auf den Punkt: Die Theologie beschäftigt sich mit der christlichen Religion; die Religionen sind generell beliebig, da sie keinen Bezug zur Realität haben; hätte die Religion einen Realitätsbezug, könnte es nur eine religiöse Wahrheit geben. Also kann der genannte Vertreter zusammenfassend festhalten, »dass es sich bei der Theologie nicht um eine Wissenschaft handelt. Sie hat keinen anderen Zugang zur Wahrheit oder zur Realität, sondern sie hat dazu überhaupt keinen Zugang. […] Aus diesen Gründen sollte die Theologie als Lehrfach an den Universitäten abgeschafft werden, denn hier werden Steuergelder in eine Pseudowissenschaft gesteckt.« 6 Wüsste man nicht, dass die Giordano-Bruno-Gesellschaft nichts vom Heiligen hält, könnte man diese Argumentation mit dem Prädikat heiliger Einfalt auszeichnen. Und wäre dies das Problem, könnte zum Beispiel der Kanton Zürich noch viel mehr Steuergelder sparen, als dies durch die Abschaffung der Theologie möglich wäre. Die Produktion – um nur ein Beispiel zu nennen – von Tausenden von Romanen und Zehntausenden von lyrischen Texten pro Jahr dokumentiert deren Beliebigkeit und also deren fehlenden Zugang zur Realität oder gar zur Wahrheit; also könnten die gesamten Literaturwissenschaften ohne Verlust eingespart werden.

Ungleich viel ernster wird das Dilemma der Theologie, wenn sie den Vorwurf ernst nimmt, den Rudolf Bultmann zu Beginn des 20. Jh.s der liberalen Theologie machte. Ihre gute Position in der Wissenschaft hatte die liberale Theologie der Tatsache zu verdanken, dass sie die historische Analyse an die Stelle der theologischen Reflexion setzte. Sie sprach in der Tat nicht mehr von Gott, sondern vom ge­schichtlichen Wandel der menschlichen Gottesvorstellungen, nicht mehr von der Verkörperung göttlicher Kreativität im Menschgewordenen, sondern von der Lehre des religiösen Genies Jesus von Nazareth, die dem Glauben der Gegenwärtigen als Orientierung diente. Die absolute Wahrheit, an die sich zu binden die vornehmste Eigenschaft einer jeden Religion ist, wurde ersetzt durch eine Vielzahl von geschichtlichen Wahrheiten, deren Geschichtlichkeit nichts anderes als deren Relativität mit sich brachte. Die wissenschaftliche Theologie des 19. Jh.s hätte sich in der Diagnose Bultmanns gut wiedererkannt: Sie sprach in der Tat nicht von Gott, sondern vom Menschen, von seinem religiösen Genie, von seinen Gottesgedanken, von seinem wohltuend-unheimlichen Schauder in der Begegnung mit dem Heiligen. Aber sie hätte diese Diagnose nicht als Vorwurf, sondern als Anerkennung aufgefasst.

Nimmt die heutige wissenschaftliche Theologie Rudolf Bultmanns Vorwurf an die liberale Theologie ernst, gerät sie in ein Dilemma: Einerseits unterzieht sie sich mit gutem Grund der säkularen Konstruktion der Wirklichkeit, andererseits aber verunmöglicht diese einen sinnvollen Gebrauch des Wortes »Gott«. In den religiösen Texten, mit denen sie sich beschäftigt, ist auf pointierte Weise von Gott die Rede.

Um dem Dilemma zu entgehen, könnte sich die Theologie darauf beschränken, diese Texte nach allen Regeln der Kunst, philologisch, motivanalytisch, historisch, und was dergleichen Fragestellungen mehr sind, zu bearbeiten. Ein großer Weggenosse des großen Theologen Rudolf Bultmann hat von diesem Konzept gesagt, es sei eine Beschäftigung mit den Rätseln der Urkunden. Und den wissenschaftlichen Theologen hat er den folgenden Satz ins Stammbuch geschrieben: »Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein!«7 Im Vorwort zur zweiten Auflage des Römerbriefkommentars machte Karl Barth geltend, die zeitgenössische Theologie sei wissenschaftlich auf halbem Weg stehen geblieben: Wer sich ernsthaft mit den Rätseln der Urkunden beschäftigt, stößt unweigerlich auf die in diesen Urkunden thematisierte Sache. Erst wenn man durch die Rätsel der Urkunden zum Rätsel der Sache vorstößt, hat die Wissenschaft ihren state of the art erreicht. »Bis zu dem Punkt muß ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe, wo ich es also nahezu vergesse, daß ich nicht der Autor bin, wo ich ihn nahezu so gut verstanden habe, dass ich ihn in meinem Namen reden lassen und selber in seinem Namen reden kann.«8

Die Sache, von der hier die Rede ist, hat elementar mit dem zu tun, was wir bis heute mit dem Wort »Gott« meinen. Sich mit dieser Sache zu befassen, ist eine unumgängliche Forderung an die Wissenschaftlichkeit der Theologie. Im Haus der Wissenschaften aber ist nicht Gott, sondern die Welt die Sache, die zu erforschen ist und deren Rätsel zu lösen sind. Und dennoch darf die Theologie jene Sache, die mit dem Wort »Gott« gemeint ist, nicht aus ihren Räumen vertreiben. Sie muss neben dem Rätsel der menschlichen Worte über Gott, der menschlichen oder allzu menschlichen Gottesbilder, der menschlichen Ahnungen vom Göttlichen, sie muss neben all dem die Frage nach Gott wachhalten, und dies nicht nur wegen der Existenz religiöser Texte der Vergangenheit, sondern mindestens ebenso sehr wegen der Tatsache, dass auch gegenwärtig mehrere Milliarden Menschen auf diesem Planeten vom Wort »Gott« Ge­brauch machen. Es wäre unklug und unwissenschaftlich, mit dem Nachdenken über ein Wort aufzuhören, das dermaßen oft und oft dermaßen problematisch im Gebrauch steht. Die Theologie kann deshalb der Bedrängnis im Haus der Wissenschaften nicht ausweichen wollen.

Doch vielleicht sollte die Theologie diese aporetische Existenz nicht nur beklagen. Vielleicht tut es ihr gut, in dieser Bedrängnis zu existieren. Vielleicht ist dies eine aussichtsreiche Bedrängnis, welche die Theologie nachdenklicher macht. Und vielleicht wäre die Bedrängnis, welche die Theologie erfährt, sogar lehrreich für die andern Wissenschaften in der Universität. Das 19. und 20. Jh. sind gekennzeichnet durch eine radikale und grundlegende Reflexion über Methoden und Erkenntnistheorie der Theologie. Diese Reflexion hat ihr gutgetan, und sie täte noch mancher Wissenschaft gut, die sich unumstritten und selbstverständlich im Haus der Wissenschaften befindet.

3. Zufällige Geschichtswahrheiten


Die Theologie, die sich primär mit den vielfältigen Gestalten der christlichen Religion beschäftigt, gerät noch in einer anderen Weise in Spannung zur Wissenschaft. Denn sie beschäftigt sich mit Inhalten und Erfahrungen, die grundsätzlich als historische Zufälle zu betrachten sind. Im Falle des Christentums steht im Zentrum ein einziger, großer Zufall der Menschheitsgeschichte, nämlich das Auftreten des Jesus von Nazareth. Er hat zur Entstehung des Neuen Testaments geführt. Und das Neue Testament bezieht sich auf einen anderen großen Zufall, nämlich die Religion Israels, die in der Hebräischen Bibel ihre Reife und Vollendung fand und die als Altes Testament in die christliche Bibel aufgenommen und also mehr als alle andern religiösen Traditionen der Zeit gewürdigt wurde.

Will die Theologie dieser Zufälligkeit treu bleiben, was sie aus Gründen ihrer wissenschaftlichen Redlichkeit tun muss, gerät sie in Konflikt mit den Wissenschaften, die in aller Regel am Einzelfall nicht interessiert sind, sondern vielmehr an Theorien, welche für eine möglichst große Zahl von Einzelfällen gelten (eine Ausnahme stellt vielleicht die analytische Psychologie dar, welche nichts anderes als den Einzelnen zu verstehen sucht). »Die Wissenschaft hat kein Interesse mehr«, so lautet die treffende Diagnose Bultmanns, »am Faktischen, Kontingenten, sondern am Allgemeinen und versteht das Einzelne als Fall des Allgemeinen.« 9 Diese Disposition der Wissenschaft ist wohl in den Naturwissenschaften dominant, doch hat sie sich in letzter Zeit auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften in markanter Weise verbreitet. Selbst wo man etwa Texte von Hölderlin wissenschaftlich bearbeitet, sucht man stets Parallelen zur einzelnen Aussage oder Metapher, um diese dann in eine Art Allgemeinheit einordnen zu können. Die Theologie kann diesen Weg nicht gehen, hat sie doch als ihre Sache den großen Zufall des Jesus von Nazareth oder die vielen kleineren Zufälle der Entdeckung des Heiligen in aller Welt und in allen Zeiten. Die Theologie hat aus diesem Grund eine ganz besondere Beziehung zum Einzelphänomen.

Die Wissenschaft richtet ihr Interesse nicht auf den Einzelfall, sondern auf die Theorie, welche eine möglichst große Anzahl von Einzelfällen unter sich zu begreifen vermag. Sie hat zu diesem Zweck das Experiment entwickelt, das jederzeit verfügbare Er­kenntnisse liefert, die jedem beliebigen Subjekt einsichtig sind, sofern es über die notwendige Intelligenz verfügt. Sie hat das Experiment an die Stelle der Erfahrung gesetzt. Der Zufall ist eine der größten Provokationen der Wissenschaft, weil er sich dem theoretischen Zugriff widersetzt; er irritiert die theoretische Vernunft, es sei denn, es gelinge ihr, ihn wiederum in eine übergreifende Theorie zu integrieren und damit unschädlich zu machen.

Nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für den Menschen scheint der Zufall etwas zu sein, das überwunden werden muss.10 Die griechische Tugend der ἁματαιότης,11 der Unabhängigkeit vom μάταιον, vom Nichtig-Zufälligen, spricht hier eine deutliche Sprache. Dasselbe zeigt auch die weithin akzeptierte Religionstheorie Hermann Lübbes, wonach Religion wesentlich als »Kontingenzbewältigungspraxis« verstanden wird.12 Im Zusammenhang des christlichen Glaubens, dessen Wesen ja gerade darin besteht, sich auf den großen Zufall des Christus zu konzentrieren, taugt eine solche Religionstheorie allerdings wenig. Religion ist hier nicht Bewältigung, sondern äußerste Steigerung der Kontingenz: In der zufälligen Erfahrung, die mit Jesus Christus zu machen war, wird das Endgültige wahrgenommen. Das ist der innere Duktus des Johannesprologs, der den unvordenklichen Logos mit dem Fleischgewordenen im Vordergrund der Welt identifiziert, um die Erfahrung der Gnade, die mit diesem Jesus zu machen war, angemessen zu würdigen. 13

Gotthold Ephraim Lessing hat diese Problematik in einem folgenreichen Essay mit dem Titel »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« mit dem lapidaren Satz umschrieben: »Das ist: Zufäl-lige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.«14 In der Tat! Doch die Frage ist, ob die Wahrheit des Glaubens überhaupt im Modell der notwendigen Vernunftwahrheiten zu begreifen ist. Notwendige Vernunftwahrheiten brauchen überhaupt keine Erfahrungs-Beweise, sie ergeben sich mit Notwendigkeit aus der Vernunft. Die Wahrheit, von der der Glaube lebt, ist von wesentlich anderer Art: Nicht tiefgründiger Spekulation verdankt sie sich, sondern Ereignissen im Vordergrund der Welt. Sie gleicht den Wahrheiten, die sich der Lebenserfahrung verdanken und die, im Unterschied zu experimentellen Erkenntnissen, nicht jederzeit verfügbar sind.

Wie eine Theologie aussehen könnte, die im geschichtlichen Zu­fall entdeckt, was Gott und die Welt im Innersten zusammenhält, kann nach Bultmann beim ersten Theologen des Christentums, dem Apostel Paulus, gelernt werden. »Die geschichtliche Stellung des Paulus ist dadurch bezeichnet, daß er, im Rahmen des hellenistischen Christentums stehend, die theologischen Motive, die im Kerygma der hellenistischen Gemeinde wirksam waren, zur Klarheit des theologischen Gedankens erhoben, die im hellenistischen Kerygma sich bergenden Fragen bewußt gemacht und zur Entscheidung geführt hat und so […] zum Begründer einer christlichen Theologie geworden ist.«15 Während das Kerygma zur Sprache bringt, was im Gegenüber zum Christus entdeckt worden ist, macht Paulus den entscheidenden Schritt von der Verkündigung zur Reflexion, von der Botschaft zu deren Explikation.

Was hier auf dem Spiel steht, ist allerdings kein Spezialproblem der Theologie. Mit den heute so genannten humanities teilt die Theologie die Besonderheit, dass ihr Erkenntnismittel nicht das Experiment ist, sondern der Stoff, seien dies Texte, Bilder oder Symbole, der aus den Erfahrungen mit dem Geist und dem Leben in allen seinen Schattierungen gewonnen ist. Diese Wissenschaften spekulieren nicht über theoretische Wahrheiten, sondern sie denken über Lebenswahrheiten nach. Diese Reflexion ist auf den Stoff des Lebens angewiesen und auf das Verstehen, das sich im Leben konkret ereignet und der Wissenschaft wiederum Stoff zum Nachdenken gibt.

Um dem besonderen Charakter des paulinischen theologischen Denkens auf die Spur zu kommen, weist Bultmann auf den Unterschied zwischen Paulus auf der einen Seite und den griechischen Philosophen und modernen Theologen auf der anderen Seite hin. Im Unterschied zu diesen hat Paulus »seine Gedanken über Gott und Christus, über Welt und Mensch (nicht) theoretisch und zu­sammenhängend in einer selbständigen wissenschaftlichen Schrift entwickelt«.16 Seine Theologie liegt vielmehr in der Form von Briefen vor; diese Form wiederum ist ein Indiz dafür, dass sie aus dem aktuellen Anlass geboren und unter dem Druck der Situation entstanden ist. Das disqualifiziert die Einsichten in keiner Weise, denn es ist eine ebenso seltsame wie fragwürdige Vorstellung, die Wahrheit sei nur in der Abgehobenheit der kühlen Rechner zu finden und nicht im Handgemenge des Lebens. Die griechische Philo­-sophie, so die Diagnose Bultmanns, ist ein Konstrukt des theo­-re­tischen Denkens, welches die in der Welt begegnenden Phänomene zu einem System objektiviert. Demgegenüber verfährt die Theologie des Paulus ganz anders: Das »theologische Denken des Paulus« ist keine theoretische Konstruktion, sondern es erhebt »nur die im Glauben als solchem enthaltene Erkenntnis zur Klarheit bewußten Wissens17 Der Glaube ist das Gottesverhältnis, das im Neuen Testament recht eigentlich entdeckt worden ist.18 Als solcher ist der Glaube »nicht ein Weltphänomen«, sondern ein unverfügbares »Geschehen in der Existenz, eben gläubiges, durch die Offenbarung bestimmtes Existieren«.19

Unverfügbar ist der Glaube, weil er durch Offenbarung entsteht, durch eine Klarheit der Erkenntnis, die sich im Augenblick einstellt und an ihn gebunden bleibt. Als existentielles Ereignis, das durch den Bezug der Transzendenz zur Immanenz geschaffen wird, ist der Glaube nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Theologie. Wohl aber ist in diesem bestimmten Existieren ein ebenso bestimmtes Verstehen beschlossen, ein neues Verstehen von Gott, Welt und Menschen. Was der Glaube zu verstehen gibt, stellt den Stoff für die theologische Reflexion dar, welche jene Erkenntnis in die Klarheit bewussten Wissens überführt. »Der Akt des Glaubens ist zugleich ein Akt des Erkennens, und entsprechend kann sich das theologische Erkennen nicht vom Glauben lösen.« 20 Die Theologie beruht demnach auf einem Phänomen, das zwar in der Welt vorkommt, ihr aber dennoch nicht verfügbar ist.

Dieser auf das Ereignis gegründeten Konstitution der pauli­nischen Theologie ist es zu verdanken, dass sie – im Unterschied zur griechischen Philosophie und wohl auch zu manchen Spielarten moderner Theologie – kein spekulatives System ist, kein System von Gedanken, die sich aus logischen oder andern Axiomen herleiten lassen. Die Philosophie beginnt gleichsam mit nichts und entwickelt eine Theorie des Seienden, die nach wie vor auch eine Theorie (oder wenigstens das Postulat) eines philosophischen Gottes einschließen kann (ihre umfassendste Gestalt hat die theoretische Philosophie wohl in Hegels Philosophie des Geistes gewonnen). Demgegenüber handelt die Theologie des Paulus nicht von Gott an sich, sondern von dem im Ereignis der Begegnung mit dem Menschen die Wirklichkeit betreffenden Gott. In Bultmanns Terminologie gesagt: »Sie handelt von Gott nicht in seinem Wesen an sich, sondern nur so, wie er für den Menschen, seine Verantwortung und sein Heil, bedeutsam ist.« 21 Bedeutsam ist Gott insofern, als er dem Menschen begegnet, an ihm wirkt, ihn rettet oder richtet. Dementsprechend handelt die Theologie »nicht von der Welt und vom Menschen, wie sie an sich sind, sondern sie sieht Welt und Mensch stets in der Beziehung zu Gott«.22

Damit ist eine Betrachtungsweise von Mensch und Welt gegeben, die sich prinzipiell von jeder anderen im Haus der Wissenschaften gepflegten Betrachtungsweise unterscheidet. Paulus bringt den Zusammenhang zwischen der Erkenntnis des Christus und derjenigen der Menschen auf den Begriff: »Darum kennen wir von jetzt an niemanden mehr nach dem Fleisch; auch Christus – sollten wir ihn auf diese Weise gekannt haben – kennen wir jetzt nicht mehr so.«23 Der Wechsel der Erkenntnis wurde geschaffen durch jenes überraschende Ereignis vor Damaskus, als Paulus des göttlichen Glanzes auf dem Gesicht des Gekreuzigten gewahr wurde.24 Paulus bringt diese Erfahrung in Zusammenhang mit einer göttlicher Kreativität, die aus Gottlosen Gerechte macht, die den Toten neue Lebendigkeit gibt und die Nicht-Seiendes ins Sein ruft (Röm 4,17). Was er im Vordergrund der Welt erfahren hatte, ließ Paulus von einer Kreativität sprechen, die auf die hintergründigste Frage des Menschen eine Antwort gibt: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?

Der Unterschied der Theologie zu den positiven Wissenschaften besteht darin, dass sie nicht wie diese das Seiende beschreibt und erklärt, sondern dass sie das Seiende im Licht göttlicher Kreativität und damit in einer prinzipiell anderen Perspektive zum Thema macht. Ingolf Dalferth hält im Blick auf das Gegenüber von Heidegger und Bultmann, beziehungsweise das Gegenüber von Philosophie und Theologie fest, dass die Theologie weder Philosophie noch positive Wissenschaft ist. Im Unterschied zur Philosophie, die ontologisch vorgeht, ist die Theologie eine »positive Wissenschaft« 25, sofern sie von Ereignissen und Texten ausgeht, die in der Welt des Seienden vorkommen. Im Unterschied zu den positiven Wissenschaften aber ist die Theologie nicht mit der erklärenden Beschreibung des Seienden beschäftigt. Gerade in dieser »doppelten Differenz« kommt nach Dalferth die Pointe der Theologie heraus: »Theologie ist weder Wissenschaft unter Wissenschaften noch Konkurrentin der Philosophie. Beide sind dem Wirklichen verpflichtet, zu dem sie gehören. Der Theologie aber geht es um das Mögliche. Sie ist weder ontische noch ontologische Wissenschaft, sondern – wenn überhaupt – Möglichkeitswissenschaft26 Theologie handelt allerdings von einem Möglichen, das nicht durch die Wirklichkeit definiert ist, etwa im Sinne dessen, dass das Mögliche das ist, was noch nicht wirklich ist, aber aufgrund eines wirklichen Trends möglich ist.27 Sie handelt von einem Möglichen, das die große Alternative zum Wirklichen darstellt und deshalb in jedem Augenblick ins Wirkliche einkehren kann. Sie handelt von einer kreativen Möglichkeit, welche das Wirkliche in jedem Augenblick verwandeln kann. Dieses Mögliche kann allerdings auch verpasst werden und so von der Zukunft direkt in die Vergangenheit übergehen, ohne die Gegenwart berührt zu haben (anschaulich wird dieses Phänomen in der Erfahrung verpasster Gelegenheiten). »Die Welt ist mehr als das«, so lautet die zur paulinischen Theologie genau passende Diagnose Dalferths, »was der Fall ist, das Leben mehr als das, was wir aus ihm machen, beides mehr, als in Wissenschaften und Philosophie zur Sprache kommt.« 28 Wenn die Theologie dies betont, versteht sie alles »im Licht der stillen Kraft des Möglichen […] Sie spricht von keiner anderen Welt als dieser, sondern von dieser Welt anders«29, indem sie – mit dem zitierten Wort des Paulus gesprochen – nichts mehr »nach dem Fleisch« versteht, nichts mehr auf seine weltliche Gegebenheit und Wirklichkeit reduziert, sondern alles »nach dem Geist« versteht, nämlich unter der Perspektive, dass es eine lebendig machende Kreativität gibt. Dabei verletzt die Theologie die wissenschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit nicht: Sie spricht vom Menschen so, dass er nicht auf das reduziert wird, was er in der Welt ist oder aus sich machen kann; sie hält angesichts der Wirklichkeit zugleich die Möglichkeit einer kreativen Erneuerung offen, die sich weder der Wirklichkeit noch dem Werk des Menschen verdankt. Sie spricht von Phänomenen der Welt so, dass diese zum Bild für das Mögliche werden. Sie spricht vom Wachstum, dessen Rätsel wissenschaftlich gelöst sein mögen, so, dass sein Geheimnis entdeckt werden kann. Sie er­schließt die selbstwachsenden Kornfelder als Bild des Reiches voll endeter Kreativität.30 So sehr die Theologie in einer säkularen Denk-Welt arbeitet, so wenig ist sie es dieser Denkwelt schuldig, alles auf Weltlichkeit zu reduzieren. Es steht ihr frei, in den Bildern der Welt das Bild des Reiches Gottes zu entdecken.

4. Wahrheit


Auch wenn es ein klares Selbstmissverständnis einer Religion ist zu behaupten, sie allein besitze die Wahrheit, ist es eine nicht geringere Torheit zu behaupten, die Religion sei nicht auf Wahrheit bezogen, sondern auf subjektive Meinungen oder unverbindliche religiöse Gefühle. Im Gegenteil, Religion ist, wo immer sie sich ernst nimmt, auf absolute Wahrheit bezogen. Religion ist, mit den Worten des Heidelberger Katechismus gesagt, bezogen auf das, was des Menschen Trost ist im Leben und im Sterben. Die wissenschaftliche Theologie muss diesen Wahrheitsbezug der Religion respektieren, auch wenn ihr dies weitere Schwierigkeiten bringt im Haus der Wissenschaften, wo es immer nur um Wirklichkeit oder um relative Wahrheit gehen kann.

Leicht könnte sie diese Schwierigkeiten vermeiden, wenn sie sich auf die bloße Deskription von religiösen Vorstellungen zu­- rückzöge, ein Konzept von Theologie, das sich an ein spezielles Konzept von Religionswissenschaft anlehnt. Doch Deskription, sei sie religionswissenschaftlich oder theologisch, ist noch keine Wissenschaft. Das ist die Arbeit von Konservatoren, die in Museen selt­-same Dinge ausstellen, die dann als erratische Blöcke in unserer Wirklichkeit stehen oder die uns vor Augen führen, wie unwissend unsere Vorfahren doch noch gewesen sein mögen. Vermeiden könnte die Theologie die genannten Schwierigkeiten auch da­durch, dass sie sich – wie bestimmte Konzepte von Religionswissenschaft – auf die Produktionsbedingungen oder die Funktion von Religion zurückzieht. Soziologisch betrachtet kann dann ein Text wie der Logoshymnus des Johannesevangeliums auf das exklusive Bewusstsein der Gemeinde zurückgeführt werden, die ihn gedichtet hatte, oder auf den Willen dieser Gemeinde, sich mittels eines solchen Textes Identität im sozialen Handgemenge zu verschaffen.31 So interessant die Erforschung der Produktionsbedingungen und der Funktion religiöser Texte ist, so wenig statthaft ist die funktionale Re­duktion der Religion.

Eine Wissenschaft, die der Auseinandersetzung mit der Sache aus dem Wege geht, würde Bultmann als »organisierte Flucht des Menschen vor sich selbst« bezeichnen,32 eine Kritik, die auf besondere Weise die Theologie trifft, die es mit existentiellen Grundfragen des Menschseins zu tun hat, aber auch eine kritische Anfrage an die andern in der Universität versammelten Wissenschaften bedeutet. Dazu Bultmann: »Ein echtes Wissen kann es nur geben, wo es durch seinen Gegenstand bestimmt ist, und wo Wahrheit die Erschlossenheit des Gegenstandes bedeutet.«33 Und deshalb ist auch die Wissenschaft dann wahrhaftig, wenn sie sich mit ihrem Gegenstand auseinandersetzt, statt ihn bloß zu beschreiben wie ein museales Ausstellungsstück.

Wo aber die Auseinandersetzung mit der Sache beginnt, kann man der Wahrheitsfrage nicht mehr ausweichen, der Frage also, ob der Gegenstand wissenschaftlich so gesehen wird, wie er ist. Die Theologie hatte Methoden entwickelt, die der Sache überhaupt eine Chance geben gegen das sich alles einverleibende Ich. Sie hat eine methodische Kapazität entwickelt, Texten und Gedanken als fremden Gästen Einlass zu gewähren, ohne sie entweder abzuweisen oder ins Einheimische zu assimilieren. Noch weiter pflegt die Theologie allerdings zu gehen, wenn sie nach der Tragweite dessen fragt, was uns diese fremden Gäste für den Zugang zum wahren Leben (oder wie Bultmann in Anlehnung an Heidegger sagen würde: zur eigentlichen Existenz) zu sagen haben. 34 Weil die Theologie (und darin ist sie bedeutend radikaler als die meisten anderen auf Re­ligionen bezogenen Reflexionsformen) sachkritische Fragen stellt, ist es kein Zufall, dass die größten Religionskritiker gerade Theologen wie Feuerbach waren.

Kraft der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Glaubens ist die Theologie darauf angewiesen, dass ihr Gegenstand sich zeigt. Die Theologie hat es mit Wahrheiten zu tun, die weder durch das Ex­-periment noch durch den Syllogismus der Vernunft herbeigezwungen werden können. Sie erscheinen von sich aus. In religiöser Co­dierung heißt dieses Sich-Zeigen Offenbarung, in säkularer Codierung könnte man sie eine Entdeckung nennen, eine Entdeckung von Dingen, die niemand gesucht hat und die von sich aus gekommen sind. Im Unterschied zur experimentellen Erfahrung, die sich ihre Gegenstände jederzeit verfügbar machen kann, muss die Theologie Methoden entwickeln, die so etwas wie ein Warten auf das Sich-Zeigen ihres Gegenstandes darstellen. In der Sprache der Gleichnisse heißt dieses Phänomen Wachsamkeit (mit dem Verb ἀγρυπνεῖν zum Ausdruck gebracht, das für das wachsame Schlafen wilder Tiere auf dem Feld gebraucht wird). Transponiert auf die Wissenschaft heißt das, auf das durch invasive Methoden bewerkstelligte vereinnahmende Begreifen der Dinge verzichten und die Aufmerksamkeit für das kultivieren, was sie von sich aus zu verstehen geben. Kraft der Unverfügbarkeit ihres Gegenstandes ist die Theologie besonders angehalten, diese Kultur des Wartens zu entwickeln. Doch vielleicht könnte das Warten auf das, was die Dinge von sich aus zu verstehen geben, auch andere Wissenschaften be­reichern.

Der Stoff der Theologie ist das, was der Glaube zu denken gibt. Als Sprachvorgang betrachtet vollzieht sich nach Dalferth das wissenschaftliche Verstehen Gottes als ein Verstehen der Art und Weise, »in der wir faktisch von Gott sprechen«. Dieses Wissen ist »nur konkret über eine deskriptive Analyse religiösen Sprachverhaltens zu gewinnen«.35 Das verlangt freilich eine substanzielle Präzisierung, wie Dalferth festhält: »Will diese [die sprachanalytisch vorgehende Wissenschaft] nicht der bloßen Normativität des Faktischen huldigen, muss sie allerdings das faktische Verstehen Gottes kritisch an dem messen, wie Gott verstanden werden muss, wenn wirklich Gott verstanden werden soll.«36

Damit ist die Frage nach einer Wahrheit gestellt, die absolut genannt zu werden verdient. Das Wort »Gott« stellt freilich sicher, dass niemand sich im Besitz dieser Wahrheit wähnen kann. Wie kann Absolutheit im Haus der Wissenschaften überhaupt zur Sprache kommen? Es gab eine Zeit, da wurde zum Beispiel das Chris­tentum aus dem Überblick über das Gesamt der Religionen als absolute Religion identifiziert, also als eine Art Superlativ neben dem Positiv und dem Komparativ: als wahrste neben den wahren und den wahreren Religionen. Dieses Verfahren scheitert – ganz abgesehen von der sprachlichen Schwierigkeit, das Wort »wahr« zu steigern – schon allein daran, dass es diesen Standpunkt über den Religionen wissenschaftlich gar nicht gibt. Und es scheitert gänzlich daran, dass das Absolute nicht als Steigerungsform des Relativen verstanden werden kann.

Im Neuen Testament begegnen wir einer anderen Weise, mit absoluter Wahrheit umzugehen. Paulus zum Beispiel denkt theologisch darüber nach, welches das angemessene Verhältnis des wirklichen Menschen zum wahren Gott ist. Paulus geht von der Einsicht aus, dass zwischen Gott und Mensch eine absolute Asymmetrie besteht. Deshalb muss das Verhältnis so gedacht werden, dass diese absolute Asymmetrie respektiert und dass zugleich genau durch sie ein echtes Verhältnis entsteht. Im Gottesverhältnis lauern stets zwei Gefahren: Die eine ist die, dass das Verhältnis durch den Menschen produziert wird. So wird Gott zum Produkt des Menschen gemacht, zum Beispiel in der Vorstellung, dass Gott den Menschen bestraft, wenn dieser sündigt, oder dass er ihn belohnt, wenn er Gutes tut. Die andere ist die, dass der Mensch kraft der göttlichen Übermacht übergangen wird, so dass es gar nicht zu einem Verhältnis zum Menschen kommt, zum Beispiel in der Vorstellung von einem apokalyptischen Herrscher, der alle in die Knie zwingt.

Sollen diese Abgründe gemieden werden, muss ein Verhältnis gedacht werden, das sich nichts anderem als der Realisierung der vollkommenen Asymmetrie zwischen Gott und Mensch verdankt. Ein solches Verhältnis gibt es: Es ist das Verhältnis zwischen dem Geber und dem Empfänger.37 Der Geber ist kategorial vom Empfänger verschieden, und dennoch wird das Verhältnis durch sein Geben konstituiert. Der Empfänger ist kategorial vom Geber verschieden, und dennoch ist sein Empfangen das, was den Geber Geber sein lässt. Paulus nennt dieses Verhältnis Glauben (πίστις) und hält fest, dass der Mensch dem göttlichen Gegenüber durch den Glauben und nur durch ihn gerecht wird.38 Dass Gott niemals zum Produkt des Menschen werden kann, wird bei Paulus dadurch sichergestellt, dass Gott auch den Gottlosen rechtfertigt.39 Damit unterstreicht er die Absolutheit des Gebens angesichts der absoluten Verweigerung des Empfangens. Gott rechtfertigt freilich den Gottlosen nicht so, dass er ihn in einen Gottesfürchtigen verwandelt, sondern vielmehr so, dass er seine Gottlosigkeit erträgt, ohne ihm die Lebensgrundlage zu entziehen. Im Auferstandenen, der Zeit seines neuen Lebens die Wundmale der Kreuzigung und also die Zeichen der menschlichen Gottlosigkeit am eigenen Leibe herumträgt, hat die kreative Gerechtigkeit dieses Gottes bleibende Ge­stalt gewonnen.

Damit ist so etwas wie die Reinheit des Glaubensphänomens herausgearbeitet. Wird Gott gedacht, wie er gedacht werden muss, muss er vollkommen kreativ gedacht werden. Dann kann der Glaube nicht etwas sein, das der Mensch Gott entgegenzubringen hat, damit er etwas anderes dafür bekommt. Der Glaube ist vielmehr das Gottesverhältnis, in welchem der Mensch Gott auch insofern Gott sein lässt, als er dieses Verhältnis als Gottes Werk und zugleich als sein eigenes Tun begreift. Erwirkt ist es von Gott, getan wird es vom Menschen, so wie der Tanz durch die Musik erwirkt und ganz vom Menschen getan wird. Das also wäre die Antwort des Paulus auf die Frage nach der absoluten Wahrheit des Gottesverhältnisses: Das Absolute wird nicht aus dem Vergleich mit dem Relativen erkannt, sondern aus der Klarheit, die es in sich selbst hat. Was rein ist, wird an der eigenen Reinheit erkannt, nicht aus dem Vergleich mit dem weniger Reinen.

Man könnte dieselbe Näherung an das Absolute in der Verkündigung Jesu beobachten. Ihm geht es – in der Bergpredigt – um die Frage, was wahre Zuwendung (ἀγάπη) ist (dort mit dem heute etwas kitschig klingenden Wort »Liebe« bezeichnet). Wenn du Zu­wendung denkst, so lehrt Jesus in Mt 5,43–48, dann kannst du sie nicht so denken, dass sie für die Nächsten gilt, während die Feinde gehasst werden.40 Wenn du Zuwendung denkst, musst du sie ohne Begrenzung denken, also so, dass sie auch vor den Feinden nicht Halt macht. Deshalb erreicht die Liebe in der Feindesliebe ihre innere Konsequenz und Reinheit. Weder verschiebt sie die Grenze zwischen Nächsten und Feinden noch verwandelt sie Feinde in Nächste, sondern sie gibt die Unterscheidung in Nächste und Feinde überhaupt auf. Auch hier gilt, dass das absolut wahre Verhalten nicht als Steigerung des Relativen zu begreifen ist. Auch hier wird die Absolutheit an der Reinheit erkannt, in welcher das Phänomen Liebe hier erscheint.

Nun ist allerdings auf ein eminent wichtiges Charakteristikum dieser absoluten Wahrheit hinzuweisen. So wie der Geber den Emp­fänger nicht übergehen kann, haben wir es hier mit einer Wahrheit zu tun, die auf Einverständnis angewiesen ist. Gleich dem zugespielten Ball, der auf Weitergespielt-Werden angewiesen ist, können die Wahrheiten des Glaubens oder der Religion nur exis­tieren, wenn sie auf das freie Ja des Menschen treffen. Und ein freies Ja kann es nur geben, wo das Nein seine Würde behält. Deshalb präsentiert die Theologie die Einsichten des Glaubens so, dass sie die Wahrheitsfrage unmissverständlich beantwortet und zu­gleich klarmacht, dass ihre Antwort nicht unumgänglich ist. Auch wenn das wahre Verhältnis zum Heiligen der Glaube ist, wird anderen Gestaltungen dieses Verhältnisses die Würde nicht abgesprochen.

Als Modell für diese Gestalt der Kommunikation können die Gleichnisse dienen, die mit rhetorischen Fragen oder offenen Schlüssen an die Angeredeten herantreten:41 Es ist klar, welche Antwort oder welchen Schluss sich das Gleichnis wünscht, aber es verzichtet vollkommen darauf, die Antwort oder den Schluss zu erzwingen. Es legt diese Antwort in die Hände der Angeredeten und überlässt es ihnen, die angefangene Geschichte zu Ende zu erzählen. Wenn die Theologie im Haus der Wissenschaften gelernt hat, dass ihre Einsichten nicht erzwingbar sind wie der Pythagoreische Lehrsatz, sollte sie dies nicht bedauern, sondern um ihrer eigenen Sache willen begrüßen. Den Trugschluss mancher Wissenschaftler, dass als beliebige Meinung zu gelten hat, was nicht erzwingbar ist, wird sie freilich nicht mitmachen, da sie Wahrheiten kennt, zu deren Wahrhaftigkeit gerade ihre Nicht-Erzwingbarkeit gehört. Wahrheiten solcher Art könnten auch in anderen Wissenschaften vorkommen und bereichern.

5. Schluss


Im Haus der Wissenschaften müssen sich alle ihrer eigenen Be­schränkungen bewusst sein. Wie die Musikwissenschaft Mozarts Jupiter-Symphonie nicht ersetzt, und wie die Literaturwissenschaft nicht an die Stelle von Eichendorffs »Schläft ein Lied in allen Dingen« treten kann, ersetzt auch die theologische Wissenschaft das Ereignis des Glaubens nicht. Wissenschaften können aber dazu da sein, den Sinn für die Wahrheiten des Lebens zu schärfen. Die Theologie kann die Aufgabe haben, aufmerksam zu machen auf die Tiefe jenes Redens von Gott, das nicht in ihrer Reichweite liegt. Bultmann nennt solches Reden ein »Reden aus Gott« und stellt es dem menschlichen Reden über Gott gegenüber. Die Theologie kann nichts daran ändern, dass des Menschen Rede stets »ein Reden über Gott [ist] und als solches, wenn es Gott gibt, Sünde, und wenn es keinen Gott gibt, sinnlos.«42 Aber sie kann Verständnis wecken für die auch im Haus der Wissenschaften geltende Konsequenz, die Bultmann aus jenem Sachverhalt zieht: »Ob es sinnvoll und ob es gerechtfertigt ist, steht bei keinem von uns.«43

Summary


Following up Rudolf Bultmanns’ criticism of 19th century’s liberal theology, this essay reflects on the position of the discipline of theology within the »House of Sciences«, the sciences’ construction of reality being characterised by secularism. The real challenge for theology is not caused by an external, secularistic criticism but rather by the intensive tensions between a secularistic construction of reality and a meaningful way of talking of God. In view of the indifference of modern science to the individual case, the question of the hermeneutic implications of a Christian theology arises, whose reflections on God are concentrated on the extraordinary accidental event of the coming of Jesus Christ. Further questions treated concern the relationship between the absolute (a concept without there is no serious religion) and the relativity of the real and the possibility to address the question of truth (to which every religion is related) within a context characterised by the limitation to »realities« and differing views. Theology will be science then by calling attention to the profoundness of that kind of talking of God which is beyond its reach.

* Der Text geht auf die Abschiedsvorlesung des Autors zurück, gehalten am 15. Dezember 2011 im Rahmen des Symposions mit dem Thema »Rudolf Bultmann – sein theologisches Vermächtnis« am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Fussnoten:

1) Rudolf Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 61966, 2.
2) Vgl. Franz Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlass herausgegeben von Carl Albrecht Bernoulli, 31973, 5. Dort lautet die Diagnose folgendermaßen: »Für Nachkommen der Aufklärer ist darin fortan nicht mehr der leiseste Duft von Theologie zu dulden.« Karl Barth betrachtet diese Überlegungen Overbecks als ein Plädoyer gegen die Selbstverständlichkeit, Theologe zu sein. Denn sie machen der Theologie klar, inwiefern sie, wenn sie sich einrichtet im Haus der Wissenschaften, zwar eine gewisse Selbstverständlichkeit gewinnt, dass sie aber gleichzeitig in den Strudel derselben Säkularisierung der Wissenschaft gerissen wird, in welcher sie ihres Gegenstandes verlustig geht (Karl Barth, Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie, in: Ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge II, 1928, 1–25, besonders 6).
3) Dazu und zum Folgenden Ernst Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Ders., Gesammelte Schriften 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 729–753. Die drei Prinzipien der Kritik, Korrelation und Analogie konstituieren jede Wahrnehmung von Wirklichkeit und stellen deren Weltlichkeit auf axiomatische Weise sicher. Die Situation der Neuzeit für den christlichen Glauben und die Theologie wird nach wie vor am präzisesten beschrieben bei Gerhard Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: Ders., Wort und Glaube I, Tübingen 31967, 1–49.
4) Diese Gegebenheit hat ihren klassischen Ausdruck in Kants Vorrede zur ersten Auflage (1781) der Kritik der reinen Vernunft gefunden (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft erster Teil. In: Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. III. Darmstadt 1983, 13): »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religionen, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.«
5) Dazu Rüdiger vom Bruch, Art. Universitäten I. Geschichtlich, in: RGG4 VIII, Tübingen 2005, Sp. 779–788.
6) So auf der Internetseite der genannten Gesellschaft (http://giordanobrunostiftung.wordpress.com/2009/04/23/warum-die-theologie-keine-wissenschaft-ist/).
7) Karl Barth, Vorwort zum Römerbrief, 2. Aufl., XII (in: Jürgen Moltmann [Hrsg.], Anfänge der dialektischen Theologie I, Karl Barth. Heinrich Barth. Emil Brunner, München 1966 [ThB 17], 111).
8) Karl Barth, a. a. O. [s. o. Anm. 7], XIII (in: Anfänge, 112).
9) Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller (Hrsg.), Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, 38.
10) Vgl. dazu Hans Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus. Ein Versuch, über den Geschichtsbezug des christlichen Glaubens nachzudenken, Göttingen 1981 (FRLANT 125), 85–93.
11) Zum Begriff ἁματαιότης vgl. die Definition der alten Stoiker bei Diogenes Laertius 7,47 = SVF II,130: ἀματαιότητα ἕξιν ἀναφέρουσαν τὰς φαντασίας ἐπὶ τὸν ὀπθὸν λόγον.
12) Dazu Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, in: Ders., Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, Düsseldorf/Wien 1980, 59–85, besonders 71 ff.
13) Dazu Hans Weder, Ursprung im Unvordenklichen. Eine theologische Auslegung des Johannesprologs, Neukirchen-Vluyn 2008 (BthSt 70), 96–124.
14) Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: A. Schilson (Hrsg.), Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8, Werke 1774–1778, Frankfurt am Main 1989, 440 f.
15) Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchgesehen und ergänzt von Otto Merk, Tübingen 1984 (UTB 630), 188.
16) Bultmann, Theologie (s. o. Anm. 15), 191.
17) Bultmann, ebd. (das Kursive im Original gesperrt).
18) Dazu Hans Weder, Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Glauben heute. Christ werden – Christ bleiben, Gütersloh 1988, 52–64.
19) Bultmann, Enzyklopädie (s. o. Anm. 9), 159.
20) Bultmann, ebd.
21) Bultmann, Theologie (s. o. Anm. 15), 191 f.
22) Bultmann, Theologie (s. o. Anm. 15), 192.
23) 2Kor 5,16 in der Übersetzung der Neuen Zürcher Bibel.
24) Vgl 2Kor 4,6 (Paulus bringt diese Erfahrung in Zusammenhang mit der Erschaffung des Lichts im Ursprung).
25) So Ingolf U. Dalferth, Weder Philosophie noch Wissenschaft, ThLZ 136 (2011), 1004, im Referat über einen Brief Heideggers an Bultmann.
26) Dalferth, Philosophie (s. o. Anm. 25), 1005 f.
27) Dazu Eberhard Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: Ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972 (BEvTh 61), 206–233. »Möglichkeit (kann) nicht mehr vom Begriff der Wirklichkeit her definiert werden […]: weder im Sinne einer als Anlage zum Wirklichen verstandenen Potenz und Tendenz noch im Sinne eines Seinsfaktors am Wirklichen« (226). Die Sprachform der Gleichnisse macht das Mögliche als schlechthinnige Alternative zum Wirklichen zum Thema: »Indem in solchen Sprachereignissen das Mögliche die Wirklichkeit unbedingt angeht, zwingt es den Menschen zum Streit um das, was wirklich ist« (231).
28) Dalferth, Philosophie (s. o. Anm. 25), 1006.
29) Dalferth, ebd.
30) Dazu Hans Weder, Metapher und Gleichnis. Bemerkungen zur Reichweite des Bildes in religiöser Sprache, ZThK 90 (1993), 382–408.
31) So zu beobachten bei Wayne A. Meeks, Die Funktion des vom Himmel herabgestiegenen Offenbarers für das Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde, in: Ders. (Hrsg.), Zur Soziologie des Urchristentums. Ausgewählte Beiträge zum frühchristlichen Gemeinschaftsleben in seiner gesellschaftlichen Umwelt (TB 62), München 1979, 245–283.
32) Bultmann, Enzyklopädie (s. o. Anm. 9), 39.
33) Bultmann, Enzyklopädie (s. o. Anm. 9), 42.
34) Dazu Bultmann, Enzyklopädie (s. o. Anm. 9), 47: »Beruht die Wahrheit der Erkenntnis in ihrer Allgemeingültigkeit darauf, daß der Gegenstand so gesehen wird, wie er ist, so läßt sich sagen, daß die ›Wahrheit‹ als Erschlossenheit des Gegenstandes einen Anspruch an die Erkenntnis erhebt; um einen Gegenstand zu erkennen, muß ich ihn so erkennen, wie er ist und sich zeigt.«
35) Ingolf U. Dalferth, Radikale Theologie. Leipzig 2010 (ThLZ.F 23), 64. Dalferth nennt diese Betrachtungsweise »sprachphänomenologisch« (ebd.).
36) Dalferth, ebd.
37) Zum Folgenden vgl. Hans Weder, Gesetz und Sünde. Gedanken zu einem qualitativen Sprung im Denken des Paulus, NTS 31 (1985), 357–376.
38) So zum Beispiel in der durch Paulus neu interpretierten Aussage, wonach Gott den Glauben Abrahams diesem als Gerechtigkeit angerechnet habe (Röm 4,3). Paulus hält also fest, dass Abraham dem göttlichen Gegenüber durch den Glauben als solchem gerecht geworden ist (vgl. auch Röm 4,9).
39) So zum Beispiel Röm 4,5 (ein ähnlicher Gedanke erscheint auch in Röm 3,21–26).
40) Dazu Hans Weder, Die »Rede der Reden«. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985, 52003, 136–152. In Mt 5,43–48 wird der entscheidende Schritt von der Nächstenliebe zur Liebe selbst oder zur wahren Liebe vollzogen.
41) Dazu Hans Weder, Erschaffung von Lebensraum. Der Ort der Angeredeten in den Gleichnissen Jesu, in: Annual of the Japanese Biblical Institute XXXIV–XXXVI, Tokyo 2008–2010, Tokyo 2011, 133–157.
42) Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 61966, 37.
43) Ebd.