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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

300–302

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hütter, Reinhard

Titel/Untertitel:

Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik In der Gegenwart.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1993. Xll, 303 S. 8o = Evangelium und Ethik, 1. Kart. DM 52,­. ISBN 3-7887-1448-4.

Rezensent:

Hartmut Kreß

In dieser Erlanger Diss. wird das Anliegen einer "kirchlichen Ethik" programmatisch zur Sprache gebracht. Dies erfolgt mit Hilfe einer Darstellung der Ethikkonzepte Karl Barths (25-105)und des vom Methodismus geprägten amerikanischen Theologen Stanley Hauerwas (107-265). Vorab (2 ff.) greift H. als philosophischen Bezugspunkt die Moraltheorie Alasdair MacIntyres auf, die im übrigen auch bei Hauerwas eine große Rolle spielt. H. knüpft an MacIntyres kulturpessimistische Thesen an, die das Scheitern der Aufklärung und einen "Verfall der Tugend" in der Moderne behaupten, und stützt seine eigenen Überlegungen, die die Eigenart der theologischen Ethik betreffen, auf MacIntyres Kritik an der neuzeitlichen, rational begründeten, allgemeinen Ethik.

Nun fordert die von MacIntyre vertretene Verfallstheorie, die nicht nur die moderne bürokratisierte, ökonomisierte Gesellschaft, sondern auch die von der Aufklärung angeleitete neuzeitliche Ethik einer Fundamentalkritik unterzieht, eigentlich zu einer differenzierten Auseinandersetzung heraus. Es ließe sich geltend machen, daß z.B. Kants Universalisierungspostulat oder die neuzeitliche Menschenrechtsidee sowie das moderne Bemühen um rationale ethische Begründungen heute, in einer pluralistischen Gesellschafts- und Weltordnung, unverzichtbarer denn je sind. H. sieht freilich von einer kritischen Erörterung der Position MacIntyres ab (vgl. 3). Vielmehr nutzt er sie für seine eigene Leitidee, der zufolge die theologische Ethik gerade keiner allgemeinen, universalen ethischen Rationalität, sondern statt dessen nur ihrer eigenen kirchlichen Tradition verpflichtet sei (6). Seinerseits führt H. die theologische bzw. die kirchliche Ethik auf den Begriff des Handelns Gottes zurück. Gottes Handeln und christliches menschliches Handeln werden von ihm in einem "Beieinander" gesehen und durch die chalcedonensische Logik von Einheit und Unterschiedenheit miteinander verknüpft (279). Die kirchliche Ethik versteht er als Paraklese, der es um Trost und Mahnung und um den Hinweis auf Gottes Heil schaffendes Handeln geht (267 ff.). Die Dogmatik wird der Ethik logisch vorgeordnet (277). Das Handeln Gottes im Gottesdienst, in Wort und Sakrament, bildet die Grundlage der kirchlichen Ethik. Diese sei den neuzeitlichen Begründungsaporien der Ethik enthoben (285).

Diese Leitgedanken treten in H.s zusammenfassender Rahmenüberlegung zutage (1-24; 267-285). Die Darstellung von Barth und Hauerwas (und auch der Exkurs über den katholischen Exegeten G. Lohfink [152-185]) ist ihnen zugeordnet. Zu Barth gibt H. vor allem die Erwählungslehre (KD II/2) sowie die Versöhnungslehre, besonders die Tauflehre (KD IV) wieder. Dabei liegt H. an einer Zuspitzung der Pneumatologie auf die Ekklesiologie: "Es gilt, über Barth hinausgehend zu fragen, ob es nicht die Verheißung gibt, daß sich Gott mit seinem Handeln im Geist an ein bestimmtes kirchliches Handeln bindet" (27). Gelegentlich deutet H. vorsichtige Kritik an Barth an: Barths Rede vom Gericht Gottes über Israel im Rahmen der Erwählungslehre sei "nicht unproblematisch" (39, 40).

Nun wird man viel deutlicher, als dies bei H. der Fall ist, einräumen müssen, daß die im Jahr 1942 erschienenen Formulierungen Barths, die von Israels "Widersetzlichkeit" und "sektiererischer Selbstbehauptung" oder von der "gespensterhaften Gestalt der Synagoge" (KD II/2, 230) sprachen und die Israel im Zeichen des strafenden Gerichtes Gottes deuteten, theologisch und zeitgeschichtlich höchst bedenklich waren. Was die Ethiktheorie selbst anbetrifft, läßt H. die neuere kritische Auseinandersetzung mit Barth, etwa den Einwand Trutz Rendtorffs gegen die "apodiktisch-autoritative" Struktur von Barths dogmatischer Ethikbegründung, beiseite.

Die angelsächsische theologische Ethik ist im deutschen Sprachbereich recht unbekannt. Daher ist die ausführliche Darstellung der Ethikkonzeption Hauerwas’ im vorliegenden Buch verdienstvoll und sinnvoll. H. erläutert Hauerwas’ Reflexion der moralischen Bedeutung religiöser Überzeugungen (123-132) und entfaltet Hauerwas’ story-Konzept, das den Menschen als story und die Kirche als eine Gemeinschaft mit einer Leitstory auslegt (132-151). Indem christliche Überzeugungen eine narrative Qualität besitzen und die Geschichte des Handelns Gottes erzählen, rufen sie zur Nachfolge auf und leiten sie zur Kirche hin (149 f.). H. betont die Bedeutung von Taufe und Abendmahl bei Hauerwas; hier wird die Geschichte Jesu nicht nur erzählt, sondern dargestellt (214). Die Kirche soll der Welt ein lebendiges Beispiel der Friedfertigkeit geben (227, 236) und sich als Diskursgemeinschaft begreifen (254).

Die gründlichen Darstellungen in dieser Diss. verdienen Anerkennung. Das vom Vf. herausgestellte Konzept eine kirchlichen Ethik regt den Rezensenten jedoch zu Rückfragen an. 1. Natürlich muß sich die theologische Ethik stets im Rückbezug auf die eigene christliche und kirchliche Tradition verstehen; denn von dieser her gewinnt sie überhaupt erst ihr gedankliches und inhaltliches Profil. Jedoch muß in der Gegenwart im Auge behalten werden, daß die theologische Ethik nicht nur innertheologisch bzw. innerkirchlich plausibel sein sollte; vielmehr muß sie auch an gesamtgesellschaftlich überzeugungsfähigen Argumentationen Interesse haben. Ein Denkansatz, der sich als "Ethik der kirchlichen Vollzüge", nämlich als Ethik der Sakramente, des Predigens, der Kirchenzucht (!), der Ehe versteht (216 f.), läuft jedoch Gefahr, zu innerkirchlichen Engführungen zu verleiten, alltagsweltliche Bezüge und außerkirchliche Herausforderungen der Ethik zu vernachlässigen sowie die Notwendigkeit einer allgemein plausiblen, rationalen und kommunikablen Argumentation der theologischen Ethik innerhalb der pluralistischen Gesellschaft beiseitezuschieben. 2. Die Ethik ist eine Handlungswissenschaft, in der Probleme "weltlichen" Handelns und der Alltagsrealität thematisch werden. Deshalb sollten, neben den theologisch-ekklesiologischen Grundlegungsfragen, die Sozialgestalt, die lebensweltliche Ausstrahlungskraft und die faktische Stellung der Kirche in der säkularisierten, pluralistischen Gesellschaft von vornherein eigens mitbeachtet werden. 3. Wenn unter Rückgriff auf chalcedonensische Begrifflichkeit ­ das Handeln der Christen und der Kirche als ein "Beieinander" von Gottes und menschlichem Handeln gedeutet wird (279), bestehen die Gefahren einer theologischen Überhöhung und Übersteigerung oder auch einer Überforderung des Handelns von Christen. Kehrt hier nicht ­ in abgeänderter Form ­ die problematische Aussage Barths wieder, der Christ verfüge über eine "bessere" ethische "Erkenntnis" als der Nichtchrist? 4. Es müßte näher entfaltet werden, wie auf der Grundlage einer kirchlichen Ethik, die sich als story-Konzept oder als "narrative Kasuistik" versteht (239 ff.), konkrete Entscheidungskonflikte gelöst und operationalisierbare Handlunaskriterien gewonnen werden können