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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1273–1275

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Willems, Joachim

Titel/Untertitel:

Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptualisierungen – Unterrichtsmethoden.

Verlag:

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 289 S. 21,0 x 14,8 cm. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-531-18389-3.

Rezensent:

Manfred L. Pirner

Bei dem Buch handelt es sich um die praktisch-theologische Habilitationsschrift des Autors, der an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig ist. Joachim Willems geht von dem empirischen Befund aus, dass über die Hälfte der Deutschen religiöse Vielfalt als Problem ansehen – und von der, ebenfalls empirisch gestützten These, dass dies nicht so sein muss, womit die Herausforderung für Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Bildung benannt ist: Die Menschen benötigen, so W., interreligiöse Kompetenz(en), zu deren Förderung die öffentlichen Schulen einen wesentlichen Beitrag leisten können. »Interreligiöse Kompetenz wird dabei verstanden als die Kompetenz bzw. Kompetenzen, die notwendig sind, damit Personen interreligiöse Überschneidungssituationen bewältigen können.« (13) – Wissenschaftstheoretisch verortet sich die Arbeit im Schnittfeld zwischen Pädagogik (vor allem interkulturelle Pädagogik) und Theologie (vor allem kulturtheologische Ansätze). Durch die Aufnahme des Konstruktivismus-Diskurses will sie über den bisherigen kulturtheologischen Mainstream hinaus »weitere Anschlussmöglichkeiten zwischen Theologie und Kulturwissenschaften sowie in die Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft hinein er­öffnen« (17).
Dementsprechend geht es in Teil I um eine »Konstruktivistische Theorie des Interkulturellen und Interreligiösen«. Den Vorrang der sozial- und kulturwissenschaftlichen vor der theologischen Perspektive in der Arbeit begründet W. damit, dass »Religion, wenn sie in der Schule thematisiert wird, ›als Kultur‹« zur Sprache kommt (26). Dies gelte auch für die primäre Bezugsreligion des (konfessionellen) Religionsunterrichts. Ein eigenes Kapitel im ersten Teil widmet sich dem Verhältnis von Konstruktivismus und Theologie (Kapitel 3, 81 ff.). Hier wird die konstruktivistische Perspektive vor allem als hilfreiche Außenperspektive auf Religion, die zur Unterscheidung der verschiedenen Sprachebenen bzw. Ordnung der Diskurse beiträgt, betrachtet. Als eine solche stelle sie auch den binnentheologischen Diskurs nicht infrage. Für den Religionsunterricht bedeute das, dass die Perspektivität sowohl einer konfessionellen Binnensicht als auch einer vergleichenden Außensicht von Religion(en) jeweils in ihren Charakteristika und Voraussetzungen altersgemäß zu verdeutlichen sind.
Entscheidende Weichenstellungen zur Konzeptualisierung von interreligiöser Kompetenz erfolgen als »Vorüberlegungen« im Teil II in Auseinandersetzung mit der erziehungswissenschaftlichen sowie fachdidaktischen Bildungsstandard- und Kompetenz-Dis­kussion und der religionspädagogischen Diskussion um interreligiöses Lernen. W. plädiert hier vor allem dafür, zwischen solchen Kompetenzmodellen zu unterscheiden, die der Planung und Durch­führung von Unterricht verpflichtet sind, und solchen, die der Kompetenzevaluation durch empirisch validierte Testverfahren dienen. Genau diese Unterscheidung setzt er selbst in Teil III, Kapitel 8 der Arbeit um: Er bietet hier zunächst ein »Komponentenmodell interreligiöser Kompetenz zur Strukturierung von Unterricht« und dann ein weiteres »zur empirischen Testung von interreligiöser Kompetenz«, die in Kapitel 9 ergänzt werden durch Überlegungen zu Entwicklungsstufen und Niveaustufen interreligiöser Kompetenz. Es überrascht – angesichts von W.s Mitarbeit im Berliner DFG-Projekt zu Bildungsstandards für den Religionsunterricht – nicht, dass das vorgestellte Komponentenmodell am Berliner Modell religiöser Kompetenz orientiert ist und dementsprechend die drei Bereiche »interreligiöse Deutungs- und Urteilskompetenz«, »interreligiöse Partizipations- und Handlungskompetenz« sowie »interreligiös relevante Kenntnisse« ausweist (168 f.). Interreligiöse Kompetenz wird nun zusammenfassend definiert als die Fähigkeit, »sich in einer religiös pluralen Welt zu orientieren und in ihr zu handeln« (165).
In Teil IV werden nun noch einmal die grundlegende Frage nach der Verortung interreligiöser Bildung in den Schulfächern sowie die korrespondierende Frage nach den Bezugswissenschaften aufgenommen. W. wendet sich dagegen, das interreligiöse Lernen nur dem Religionsunterricht zuzuschreiben, und will es stattdessen auch in anderen Unterrichtsfächern, insbesondere auch in den Ersatz- bzw. Alternativfächern zum Religionsunterricht berück-sichtigt wissen. Mit diesem Zielhorizont bricht er in einer systematischen Verhältnisbestimmung von Binnen- und Außenperspektiven von Religion deren Zuordnung zu Theologie einerseits und Religionswissenschaft andererseits als zu vereinfachend auf und zeigt, dass es in beiden Disziplinen eher um ein charakteris­tisches Ineinander von Binnen- und Außenperspektiven geht, das konsequenterweise sowohl den konfessionellen als auch einen religionskundlichen Religionsunterricht kennzeichnen sollte.
Schließlich werden in Teil V der Arbeit in Aufnahme von Methoden des interkulturellen Trainings Anregungen für entsprechende interreligiöse Lernprozesse gewonnen.
Fazit: Die Arbeit setzt auf mehreren Feldern des thematisierten Gegenstandes weiterführende Akzente, die vor allem durch spe­zifische (meist kultur-)theoretische Differenzierungsleistungen an­regend sind. Auffällig ist, dass die religionspädagogische Diskussion um interreligiöses Lernen nur begrenzt inhaltlich aufgenommen wird; stärker werden Bezüge zur Erziehungswissenschaft und zu den anderen Fachdidaktiken aufgesucht. Auch theologische Perspektiven bleiben merkwürdig zurückhaltend. So kommt z. B. der in der jüngeren theologisch-religionspädago­gischen Diskussion so wichtige Gedanke, dass jede Religion auch aus sich heraus Ansätze und Motivationen für interreligiösen Dialog generieren muss, wenn dieser gelingen soll, bei W. kaum zur Geltung. Für wegweisend halte ich insbesondere seine Neubestimmungen des Verhältnisses von Binnen- und Außenperspektiven im konfessionellen und nicht-konfessionellen Religionsunterricht, die Ausweitung der Aufgabe interreligiösen Lernens auf alle Unterrichtsfächer sowie die Unterscheidung zwischen handlungsorientierenden und testbezogenen Kompetenzmodellen. Das entwickelte Modell interreligiöser Kompetenz mit seiner bis in die Methodik ausgezogenen Fokussierung von »Überschneidungssituationen« verdient m. E. Aufmerksamkeit, und – wie die gesamte Arbeit – eingehende Diskussion.