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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1265–1267

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weigl, Norbert

Titel/Untertitel:

Liturgische Predigt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Eine Untersuchung zur Messfeier in der Sonntagspredigt anhand der Zeitschrift ›Der Prediger und Katechet‹.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2009. 546 S. 22,0 x 14,0 cm = Studien zur Pastoralliturgie, 21. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-7917-2185-9.

Rezensent:

Alexander Deeg

»Liturgische Predigt« ist ein Phänomen, das vielfältig und auf äußerst unterschiedliche Weise durch die Geschichte der Kirche hin­durch bis in die Gegenwart begegnet, und zugleich ein gegenwärtiges Desiderat der Forschung. Norbert Weigl legt mit seiner 2008 angenommenen und 2009 erschienenen Münchner Dissertation eine auf stupender Literaturkenntnis basierende, gründlich gearbeitete, materialreiche Untersuchung zu dem Thema vor. Ein annähernd 90-seitiges (!) Literaturverzeichnis eröffnet die Erarbeitung; 2117 Fußnoten auf 530 hervorragend redigierten Textseiten unterstreichen die Akribie W.s.
Methodisch setzt W. mit einer terminologischen Klärung zum Begriff der »liturgischen Predigt« ein (Teil A), um dann im Hauptteil (Teil B) Predigten zu untersuchen, die in der Zeitschrift »Der Prediger und Katechet«, der ältesten Predigtzeitschrift im katholischen Raum, zwischen 1964 und 2006 veröffentlicht wurden. In einem knappen Schlussteil (Teil C) werden »Spielarten und Voraussetzungen einer liturgischen Predigt« auf wenigen Seiten zusam­menfassend vorgestellt.
Der Begriff »liturgische Predigt«, so zeigt W. in einem ersten Kapitel (110–130), ist in seiner Verwendung im 20. Jh. keineswegs eindeutig. Er konnte in der liturgischen Bewegung schlicht die Predigt innerhalb der Liturgie meinen, dann aber auch für Auslegungen liturgischer Texte bzw. Schriftpredigten mit Bezug zu liturgischen Themen stehen. Mit Odo Casel und Romano Guardini ist eine Fokussierung auf die »mystagogische Predigt« im Anschluss an die Alte Kirche verbunden. Das Zweite Vatikanische Konzil kennt den Begriff »liturgische Predigt« in seinen Texten nicht, verstärkt aber das Ziel der Mystagogie als »Erschließung der liturgischen Riten und Texte zur Förderung der bewussten Teilnahme am liturgischen Vollzug« (143; vgl. insgesamt Kapitel 2, 131–144). In den seitdem vergangenen ca. 40 Jahren erkennt W. kaum noch eine lebhafte Diskussion zum Thema »liturgische Predigt«. Erst jüngst rückte die Frage neu ins Bewusstsein (Kapitel 3, 144–168). W. selbst versteht »liturgische Predigt« als eine Predigt, »die in der gefeierten Liturgie (Formalkriterium) auf der Grundlage der liturgischen (biblischen und nicht-biblischen) Texte oder der liturgischen Riten (Basiskriterium) die gefeierte Liturgie selbst zum Thema macht (Inhaltskriterium), liturgische Texte und Riten auslegt, verschiedene theologische Dimensionen der liturgischen Feier erklärt und als mystagogische Predigt die Gläubigen in ihrem Mitvollzug stärkt (Zielkriterium)« (503 f.; vgl. auch Kapitel 4, 169–171). Solche Predigt analysiert W. anhand des Materials aus »Der Prediger und Katechet«, wobei er nach methodischen Vorbemerkungen (Kapitel 5, 172–182) zunächst die »homiletische Begleitung der Liturgiereform« (Kapitel 6, 182–245) in den Blick nimmt, dann Predigten ana lysiert, die »liturgische Texte und Riten der Messfeier als Predigtgrundlage« verwenden (Kapitel 7, 245–343), und schließlich der »inhaltliche[n] Erschließung der Messfeier durch die Predigt« nachgeht (Kapitel 8, 344–502).
Es wäre vermessen, die Ergebnisse der Erarbeitung in Kürze benennen zu wollen. W.s Arbeit bietet beinahe auf jeder Seite interessante Details zu einzelnen Facetten liturgischer Predigt. Daher verweise ich nur summarisch auf vier Aspekte: 1. Die vorliegende Arbeit erweist ihre besondere Stärke darin, dass sie nicht nur klären hilft, was »liturgische Predigt« bedeutet, sondern – sozusagen auf der »Rückseite« dieses Ansatzes – im Medium der Predigtanalysen eine Rezeptionsstudie der liturgischen Ergebnisse des Zweiten Vatika­nischen Konzils bietet. Nicht selten zeigt sich W. ernüchtert; eine vertiefte Durchdringung der Anliegen der Liturgiereform lasse sich in den Predigten oftmals nicht nachweisen; die »Liturgiereform wurde in erster Linie äußerlich vollzogen« (244). 2. Gleichzeitig offenbart W.s Dissertation eindrucksvoll, wie sich liturgiewissenschaft­liche Reflexionen zu einem ›gemeindlichen‹ und in den Gemeinden kommunizierten Liturgieverständnis verhalten. Wenn es auch et­was problematisch erscheint, dass W. an mehreren Stellen von der »eigentliche[n] Bedeutung« (vgl. nur 506) liturgischer Texte und Sequenzen spricht und damit eine zu knapp begründete Norma­tivität der Deutung beansprucht, so weist er doch zu Recht auf den wunden Punkt hin, dass sich die Komplexität des liturgietheolo­gischen und -wissenschaftlichen Diskurses keineswegs in den liturgischen Predigten niederschlägt – und noch weniger in den Ge­meinden ›ankommt‹. Er verweist damit auf ein fundamentales Vermittlungsproblem, dem weitere liturgiedidaktische Reflexion zu be­gegnen hat. 3. Durch W.s Studie wird es möglich, die Auswirkungen theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Entwicklungen auf das Liturgieverständnis nachzuverfolgen. So ist es z. B. augenfällig, dass die Opfer-Terminologie zur Deutung der Eucharistie, die noch in der ersten Hälfte der 1960er Jahre dominierend begegnet, ab dem Ende dieses Jahrzehnts kaum noch verwendet wird (416–434). Das von W. vorgelegte Material bietet – über die Auswertungen W.s hinausgehend – noch reichlich Potential, solchen Wechselbeziehungen nachzugehen. 4. Der vielleicht fundamentalste Umbruch in den vergangenen 40 Jahren tritt – von W. an mehreren Stellen beobachtet (vgl. 160.257.334–341 u. ö.) – mit der Einführung der neuen Leseordnung (OLM) 1969/70 ein. W. zeigt eindrucksvoll, wie sich nun das Verständnis des textus sacer, der nach SC 52 Grundlage der Predigt in der Messe sein soll, verschiebt und einseitig auf die Heilige Schrift fokussiert wird. Damit aber erscheint es für viele, so argumentiert W., weit weniger naheliegend, eine liturgische Predigt als Auslegung der und Einführung in diese Texte zu halten.
Bedauerlich ist lediglich, dass W. die Predigten fast ausschließlich inhaltlich erschließt. Die Sprachgestalt hingegen kommt kaum in den Blick. Dies erweist sich vor allem deshalb als unbefriedigend, da W. – in Aufnahme seines Lehrers Wilfried Haunerland – erkennt, dass die Liturgie in ihrer Sprachgestalt der Poesie vergleichbar sei (vgl. 245 f.). Damit ist auf den fundamentalen Zusammenhang von Form und Inhalt verwiesen, und es stellt sich die Frage, inwiefern (d. h. auch und vor allem: in welcher sprachlichen Gestalt) eine liturgische Predigt solche Texte erklären und in sie einführen kann. Gerade dann, wenn sich – wie W. betont – liturgische Predigt nicht zu einer »metarituelle[n] Besprechung der Li­turgie« (154) verwandeln darf, ist näher zu bedenken, welche sprachliche und dramaturgische Gestalt liturgische Predigt in der Vergangenheit gewonnen hat und künftig annehmen sollte. Teilweise deutet sich an, wie anregend solche Untersuchungen sein könnten – etwa dort, wo W. erkennt, dass der umfassende Charakter liturgischer Anamnese in Predigten sprachlich und sachlich auf »Erinnerung« bzw. »Wiederholung« reduziert wird (vgl. 410–413) und dass die Metapher der »Einladung« seit den 1980er Jahren in Predigten vermehrt auftaucht und nicht das zu fassen vermag, was theologisch als »Nachfolge Christi« zu beschreiben ist (vgl. 484 f.). Die Zusammenführung von homiletischem und liturgischem Dis­kurs, die im Begriff der liturgischen Predigt angelegt ist, steht auch nach W.s Studie noch aus.
So sehr W.s Untersuchung zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme aufgrund einer materialreichen Einzeluntersuchung ist, so stellt sie doch zugleich ein Plädoyer für die Weiterführung bzw. Neuentdeckung der liturgischen Predigt dar. Diese ordnet W. zu Recht in eine »mystagogische Gemeindepastoral« (Haunerland) ein – und beschreibt damit eine Aufgabe, die sich für die katholische Kirche ebenso stellt wie für evangelische Kirchen. Eine ökumenische Weiterführung des vorgelegten Ansatzes unter stärkerer Einbeziehung genuin homiletischer Kategorien legt sich nahe. Den Grundstein, an dem die Forschung nicht mehr vorbeigehen kann, hat W. auf eindrucksvolle Weise gelegt.