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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1264–1265

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Maier, Alexander

Titel/Untertitel:

Bildung im Drama. Nikolai Grundtvigs Praktische Theologie – wegweisend für eine solidarische Gestaltung von Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Würzburg: Echter 2011. 365 S. 23,3 x 15,3 cm = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 82. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-03362-0.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Die bei Ottmar Fuchs entstandene und 2009 von der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommene Studie von Alexander Maier rekonstruiert das Werk des dänischen evangelischen Theologen Nikolai Grundtvig im Blick auf seine Impulse für ein christlich grundiertes Bildungsverständnis der Gegenwart.
Zunächst werden (im Sinne der Foucaultschen »Archäologie«) das Leben Grundvigs und sein Werk als Theologe und als Pädagoge nachgezeichnet. Ein wichtiger Fokus der Darstellung liegt dabei auf den biographischen Krisen Grundtvigs und den von ihnen ausgelösten inhaltlichen Entwicklungen. Dabei werden bereits die Themen an­gesprochen und herausgearbeitet, auf die sich dann die Arbeit in ihrem weiteren Verlauf konzentriert: das dualistische Weltbild Grundtvigs, das Verhältnis von Sünde und Gnade sowie das Verständnis von Geschichte einschließlich des Freiheitsbegriffs.
Die beiden zentralen »genealogischen Teile« beleuchten ausführlich (und stringenter, als es die Definition von »Genealogie« nach Foucault als »Wahrnehmung und Würdigung dessen, was sich in der Zerstreuung der Zeit findet« [18] vermuten ließe) theologische Denkfiguren, die einerseits im Denken Grundtvigs zentral sind und andererseits als relevant für ein weiterführendes Bildungsverständnis der Gegenwart erachtet werden. Leitend für den ersten genealogischen Hauptteil wird der Begriff des »Dramas«, der einerseits im dualistischen Weltbild Grundtvigs (gedacht als rea­-listische Beschreibung der Wirklichkeit, in der der »Tod das Leben immer wieder gefährdet«, 82), andererseits in seinem Verständnis von Sünde und Gnade wurzelt. Der zweite genealogische Teil wählt als Zentralbegriff den der »Bildung«, der mit dem Verständnis von Geschichte, Freiheit und Sprache bei Grundtvig erarbeitet wird. Beide Teile stellen zunächst den Denkansatz Grundtvigs dar, gehen dann aber in zwei Bewegungen weit über ihn hinaus: Zum einen erarbeiten sie die geistesgeschichtlichen und auch biographischen Wurzeln dieser Denkfiguren. So werden die Grundlagen des dua­-listischen Menschenbildes bei Ignatius und der direkte Einfluss von Grundtvigs Vetter Henrik Steffens, der wiederum maßgeblich von Schelling geprägt wurde, analysiert; die theologischen Wurzeln des Verständnisses von Sünde und Gnade werden bei Augus­tin, Luther und im Pietismus rekonstruiert, und für die historische Anschauung Grundtvigs werden Herder, Schelling und Rousseau dargestellt. Zum anderen aber wird die Aufnahme der jeweiligen Denkfiguren in den neueren theologischen Diskursen (unabhängig von Grundtvig) erarbeitet und dargestellt.
Damit geht die Arbeit weit über das Werk Grundtvigs hinaus, indem sie die genannten Begriffe in unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Konstellationen beleuchtet und interessante Verbindungslinien zwischen diesen aufzeigt. Allerdings geraten die Thematik und das Ziel der Arbeit hinter den in akribischer Feinarbeit erstellten historischen (und bei Steffens und Schelling auch biographischen) Linien immer wieder in den Hintergrund. Die in manchen, aber leider nicht in allen Kapiteln eingezogenen Resümees helfen zwar, die Relevanz der Erarbeiteten für die Thematik der Arbeit und den roten Faden wiederzufinden, die Lektüre gestaltet sich jedoch angesichts der zahlreichen Linien und Anläufe nicht immer leicht. Vor allem bleibt der im Titel und in der Einleitung als zentral angekündigte Begriff des »Dramas« bzw. des »Drama­tischen« eigentümlich in der Schwebe. Seine Verwendung wird zwar an einigen Stellen erläutert (»Bildung vollzieht sich als Drama zwischen Leben und Tod, menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade« [20] oder »der Begriff des Dramas ist deshalb so treffend, weil er [inter-]subjektives Tun als auch außersubjektives Einwirken integriert« [134] und »die Frage nach Freiheit, Verantwortung und Schuld« [135] stellt), nicht aber aus dem Denken Grundtvigs wirklich entfaltet. Später wird noch einmal der Begriff des »Heilsdramas« bei Raymund Schwager aufgegriffen (185 ff.), was interessant ist, aber erneut den Begriff nicht als zentral für ein aus dem Denken Grundtvigs abgeleitetes Bildungsverständnis ausweist. Zu­dem werden erstaunlicherweise die entsprechenden im Zu­sammenhang mit dem Bibliodrama geführten theologischen Dis­kurse auch in der Skizze gegenwärtiger Diskurse nicht berück­sichtigt.
Der vierte und letzte Teil der Arbeit (nach Foucault als »Überschreitung« bezeichnet) ist dann dem eigentlichen Ziel der Arbeit gewidmet, Grundtvigs Werk daraufhin zu befragen, »inwiefern Kirche und christlicher Glaube als Ressourcen für das gesellschaftliche Feld der Bildung für das kirchliche Feld der Verkündigung des Evangeliums relevant sein können« (15). Aus den dargestellten Denkfiguren soll ein Bildungsverständnis entwickelt werden, das in den aktuellen Bildungsdiskursen in Schule und Kirche theologische Impulse setzen kann. Hierfür wird zunächst ein desaströses Bild des schulischen Bildungsverständnisses nach PISA als Situationsanalyse entworfen, das wie alle Zuspitzungen Richtiges sieht, aber wesentlich zu einseitig ist und neuere Differenzierungen unterschlägt, die zum Teil die anschließend vorgetragenen Vorschläge M.s bereits aufnehmen. Diese skizzieren ein »dramatisches« als Gegenüber zu einem »standardisierten« Bildungsverständnis, das den Menschen als Person ernst nimmt und nicht verzweckt, Bildung als Beziehungsgeschehen mit offenem Ausgang begreift und auf Solidarität und Gerechtigkeit zielt. Für die kirchliche Gemeindepraxis (in den Ausführungen katholisch orientiert, aber weitgehend auf evangelische Gemeinden übertragbar) wird die Bereitschaft zur Umkehr von der Selbsterhaltung zu einem »vorbehaltlosen Engagement im Sinne des Evangeliums« (331), eine an der Transzendenz Gottes orientierte solidarische Praxis und eine Aufgabe des Aktivismus angeregt. Diese Vorschläge sind sehr sympathisch und theologisch und pädagogisch nur zu unterstützen. Allerdings erschließt sich mir sowohl inhaltlich als auch in der Darstellung ihr originärer Zusammenhang mit den so sorgsam erarbeiteten Grundtvigschen Denkfiguren nur ansatzweise. Die Thesen M.s werden in den aktuellen religionspädagogischen und kirchentheoretischen Diskursen auch sonst vertreten, aber M. selbst zieht nur gelegentlich Verbindungslinien; und auch in der eigenen Darstellung erfolgt der Rückgriff auf die bisherigen Kapitel nur eklektisch. Auch hier wird der Ansatz zwar durchgehend mit dem Stichwort »dramatisch« betitelt, inhaltlich aber kaum gefüllt: Inwiefern der Gegensatz zur standardisierten Bildung spezifisch dramatisch ist, bleibt offen.
Fazit: M. hat eine sehr sorgfältig erstellte Untersuchung und Darstellung zentraler Begriffe Grundtvigs mit erhellenden theologiegeschichtlichen Einsichten vorgelegt, die jedoch nicht linear zu einem innovativen, für die Gegenwart weiterführenden Bildungsverständnis führt.