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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1261–1263

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Krengel, Lisa J.

Titel/Untertitel:

Die Evangelische Theologie und der Bologna-Prozess. Eine Rekonstruktion der ersten Dekade (1999–2009).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. IX, 428 S. m. Tab. u. CD-ROM. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 48. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02923-5.

Rezensent:

Joachim Ochel

Die von Lisa J. Krengel vorgelegte Studie zur Reform des Theologiestudiums vor dem Hintergrund des Bologna-Prozesses wurde im Jahr 2011 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfä­lischen Wilhelms-Universität in Münster als Dissertation angenommen. Die Arbeit wurde von Christian Grethlein betreut. Sie rekonstruiert den mit dem Ortsnamen Bologna verbundenen Hochschulprozess in Europa in den Jahren 1999 bis 2009 und stellt dar, in welcher Weise dieser Prozess auf die Evangelische Theologie und die Weiterentwicklung des Theologiestudiums ge­wirkt hat. Dabei reklamiert die Studie für sich eine praktisch-theologische Perspektive.
In einem einleitenden Teil wird unter Bezugnahme auf Fried­rich Schleiermacher, Wilhelm Bornemann, Paul Drews, Friedrich Niebergall, Karl-Fritz Daiber und Henning Luther gezeigt, »dass es in der Geschichte der Praktischen Theologie immer wieder auch um das Theologiestudium und eine mögliche Reformierung desselben ging« (13). Der Praktischen Theologie komme dabei be­sonders die Aufgabe der Verhältnisbestimmung zur Kirche einerseits und zu den kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten der Evangelischen Theologie andererseits zu (14). Als ein Vorgang »umwälzender Veränderungen« des bildungspolitischen Kontextes wird der Bologna-Prozess wahrgenommen, vor dessen Hintergrund die Verhältnisbestimmung von universitärer Theologie, Kirche und ihren jeweiligen Kontexten »eine neue Brisanz bekomme« (15).
Im zweiten Teil (21–70) werden die Hauptetappen des Bologna-Prozesses im internationalen Kontext nachgezeichnet und resümiert – beginnend mit der »Magna Charta Universitatum« aus dem Jahr 1988 bis zur Budapest/Wien-Decleration des Jahres 2010. Die Darstellung folgt dabei den Kommunikees der im Abstand von zwei Jahren stattfindenden Bologna-Konferenzen. In inhaltlicher Hinsicht ergab sich dabei eine stetige Erweiterung der Ziele des Reformprozesses. Habe die Bologna-Erklärung von 1999 noch die Ziele Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, Einführung einer gestuften Studienstruktur, Einführung eines Leistungspunktsystems, Förderung von Mobilität, Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung und Förderung der europäischen Dimension genannt, so seien kontinuierlich weitere Ziele hinzugetreten: Förderung von lebenslangem Lernen, Einbeziehung der Promotion als drittem Studienzyklus, Einführung nationaler Qualifikationsrahmen und andere. Parallel dazu sei sowohl »die stetige Ausweitung des Kreises der am Europäischen Hochschulprozess beteiligten Akteure als auch das An­schwellen der Organisationsstruktur« (64) zu beobachten.
Bemerkenswert ist die Interpretation des politischen und rechtlichen Charakters des internationalen Prozesses: »Mit der sukzessiven Entwicklung der Organisationsstruktur des Bologna-Prozesses hängt der Charakter der im Rahmen der einzelnen Konferenzen verabschiedeten Erklärungen eng zusammen. Die in den An­fangsjahren des Europäischen Hochschulprozesses in Paris und Bologna verabschiedeten Er­klärungen können – dem initialen Charakter des Prozesses entsprechend – als intergouvernementale Absichtserklärungen bezeichnet werden, die aus rechtlicher Sicht keine Verbindlichkeit darstellen. Die intergouvernemental formulierten Zielvorstellungen in Bezug auf die Errichtung eines Europäischen Hochschulraumes sollen einen Außendruck auf die be­-teiligten Staates ausüben und den staatlichen Vertretern zur beschleunigten oder verbesserten Umsetzung nationaler Reformpläne dienen.« (66)
Folgerichtig wird der dem Bologna-Prozess im nationalen Horizont gewidmete dritte Teil (71–202) eröffnet mit einer Analyse der Situation des deutschen Hochschulwesens »am Vorabend des Bo­logna-Prozesses« (72–91). Hier werden die aus Sicht der staatlichen Hochschulpolitik spezifischen Probleme des »in eine erhebliche Schieflage geratenen deutschen Hochschulwesens« am Ende des 20. Jh.s benannt: die steigende Zahl Studierender an den Universitäten; die Unterfinanzierung des Hochschulwesens; die Qualifikationsansprüche von Staat und Wirtschaft; problematisches Studierverhalten; die durch zunehmende Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung gestellten Herausforderungen.
Der Proble­m­analyse folgt ein Referat der hochschulpolitischen Antworten von Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Kultusminis­terkonferenz (KMK), Wissenschaftsrat und Bundesregierung in den 90er Jahren des vorigen Jh.s. Es zeigt sich, dass die nationale Hochschulreform der 1990er Jahre erst auf dem Wege staatlicher Deregulierung die Gestaltungsspielräume für den Bologna-Prozess ge­schaffen hat (91). Untergliedert nach einer aus der Kriegsberichterstattung vertrauten Metaphorik – »Die Ruhe vor dem Sturm«, »Stür­mische Jahre« und »Die Ruhe nach dem Sturm« – werden anschließend die Grundentscheidungen des Bologna-Prozesses auf nationaler Ebene während der Jahre 1999–2003 (92–138), 2003–2007 (138–142) und 2008–2009 (182–195) vorgestellt. Das erfolgt durch eine Katalogisierung und Skizzierung der einschlägigen Empfehlungen, Beschlüsse und Stellungnahmen der Hauptakteure in chronolo­gischer Reihenfolge. Etwa 100 Druck­seiten weisen auf über 80 Dokumente und Publikationen hin. Beschlüsse der KMK treten neben Empfehlungen der HRK, Berichte des BMBF neben Stellungnahmen von Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, Hochschulverband (fälschlicherweise als Hochschullehrerverband be­zeichnet) und Studierendenvertretung. Die chronologische Auflistung ersetzt eine an sich notwen­dige Analyse und Bewertung des Stoffes nach politischer Relevanz und rechtlicher Dignität. Immerhin zeigt die Darstellung die Pluralität der Akteure und Interessen. Resümierend wird festgestellt, »dass der hochgradig informelle und intergouvernementale Charakter des auf internationaler Ebene begonnenen Prozesses sich auf nationaler Ebene fortsetzt […] und zu einer inhaltlichen Fragmentierung des nationalen Bologna-Prozesses und zur Entstehung von ›Reform­inseln‹ führt« (200).
Im vierten Teil wird der Bologna-Prozess in evangelisch-theologischer Perspektive in den Blick genommen (203–318). Analog zu Teil 3 werden zunächst unter Hinweis auf drei maßgebliche Dokumente aus dem Zeitraum von 1978 bis 1998 die Ergebnisse der Reformbemühungen um das Theologiestudium im Vorfeld des Bo­logna-Prozesses beschrieben (203–225). Der Bologna-Prozess stieß somit auf Seiten der Gliedkirchen der EKD und der evangelisch-theologischen Fakultäten auf eine Situation, in der die Grundsätze der theologischer Ausbildung geklärt, Verfahren der wechselseitigen Verständigung auf Grundlage der Arbeiten der Gemischen Kommission etabliert und erste Schritte zur Verständigung auf für Kirchen wie Fakultäten verbindliche Rahmenordnungen getan waren. Dies bewährte sich in der Reaktion auf die Erfordernisse des Bologna-Prozesses (225–305). Die Darstellung entspricht dem dritten Kapitel und beschreibt zunächst die wesentlichen Akteure (225–232), um dann strukturiert nach Abfolge der evangelisch-theologischen Fakultätentage seit 1999 die einschlägigen Stellungnahmen, Beschlüsse und Entschließungen aufzuführen und zu paraphrasieren (232–305): insgesamt über 70 Vorgänge – jedoch längst nicht alle von gleicher Dignität und Relevanz.
Die Fülle der zusammengestellten Dokumente ist eindrucksvoll und deren chronologische Erfassung im Hinblick auf die Ge­-schichte der Reformbemühungen hilfreich. Jedoch ist auch hier die unzureichende Gewichtung ein erheblicher Mangel der Darstellung.
So hätte beispielsweise deutlicher die Schlüsselstellung der im Jahr 2005 zwischen Kirchenkonferenz und Rat der EKD sowie Evangelisch-theologischem Fakultätentag vorgenommenen »Positionsbestimmung der Evangelischen Theologie im Rahmen des Bologna-Prozesses« (272 f.) herausgearbeitet werden müssen. Ebenso sind die Bezüge zur Umsetzung des Bologna-Prozesses auf nationaler Ebene nur unzureichend hergestellt, wo vor allem dem nach langen und schwierigen Verhandlungen mit beiden Kirchen am 13. De­ zember 2007 erfolgten Beschluss der Kultusministerkonferenz über »Eckpunkte für die Studienstruktur in Studiengängen mit Katholischer oder Evangelischer Theologie/Religion« (175–177) höchs­te Bedeutung zukommt. Resümierend wird festgestellt, dass der Beobachtungszeit­raum sich durch die Überschneidung »zweier gänzlich verschiedener Reformprozesse« (308) auszeichne. »Der geschichtlich ge­wachsene Prozess um die Reform des Theologiestudiums muss sich ab 1999 mit dem von außen an ihn herangetragenen Prozess der Vereinheitlichung des Europäischen Hochschulraums auseinan­dersetzen«, was im Ergebnis nur zu einer höchst selektiven Um­setzung von Essentials des Bologna-Prozesses geführt habe: Strukturierung des Studiums durch Module, Einführung des Leistungspunktsystems, Übernahme des Akkreditierungswesens (vgl. 325). Damit sei aber die zentrale Zielvorgabe der Schaffung eines Europäischen Hochschulraums im Laufe der Jahre und in einer gewissen Analogie zum nationalen Umsetzungsprozess preisgegeben worden.
Die Argumentation der Studie gerät hier sehr formalistisch und man wünscht sich, dass die bildungstheoretischen Motive und di­daktischen Einsichten, die mit der Abwehr der Stufung in die Bachelor/Master-Struktur, mit der Abweisung eines berufsquali­fizierenden Bachelor-Abschlusses, mit dem Festhalten an einer bündigen Abschlussprüfung und mit der auf sehr spezifische Weise erfolgenden Strukturierung des Studiengangs durch Module verbunden sind, prägnanter herausgearbeitet würden. Die Frage nach den Konstruktionsprinzipien der Studienreform würde mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Der abschließende fünfte Teil enthält Beobachtungen zum Stand der Evangelischen Theologie in der Universität gleichsam am Abend des Bologna-Prozesses. Unter Bezugnahme auf den Ar­beitsprozess des Wissenschaftsrates zu Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften (2008–2010) werden Phänomene der Marginalisierung der Evangelischen Theologie beschrieben. Mit Besorgnis wird der Verdacht geäußert, dass solche Tendenzen »letztlich auf die abwehrende Position der Evangelischen Theologie innerhalb des Bologna-Prozesses zurückzuführen« (362) seien. Diese Vermutung dürfte hinter den Einsichten der Studie zurückbleiben. Führt man sich nämlich die Chimärenhaftigkeit des apostrophierten »Europäischen Hochschulraums« ernsthaft vor Augen und macht man sich die bürokratische Instrumentalisierung des Bo­logna-Prozes­ses bewusst, so sollte man die evangelisch-theologischen Fakultäten und die Evangelische Kirche eher darin bestärken, Anstöße des internationalen Hochschulreformprozesses entschlossen im Rahmen der Verständigungen mit dem Staat zu einer den eigenen Einsichten und Grundätzen folgenden Reform des Theologiestudiums zu nutzen.
Das Kompendium wird ergänzt mit einem wertvollen Anhang der einschlägigen und bisher noch nicht zusammenhängend publizierten Dokumente zur Reform des Theologiestudiums im Kontext des Bologna-Prozesses auf einer beigelegten CD-ROM.