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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

299 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Demmer, Klaus

Titel/Untertitel:

Gottes Anspruch denken. Die Gottesfrage in der Moraltheologie.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder, 1993. 179 S. 8o = Studien zur Theologischen Ethik, 50. ISBN 3-7278-0863-2 u. 3-451-23187-5.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Dieses Buch des an der Gregoriana in Rom lehrenden Moraltheologen Klaus Demmer arbeitet den Gottesgedanken als theologischen Begründungshorizont katholischer Ethik heraus. Zum Selbstverständnis katholischer Morallehre nimmt D. eine Reihe von kritischen Abgrenzungen und Selbstkorrekturen vor. Er distanziert sich von einer deduktiven, an einem überzeitlichen Naturrechtssystem oder an einer starren Metaphysik orientierten Moraltheologie, sucht aber auch ein allein gegenstands- und sachanalytisches Verfahren der Morallehre zu überwinden. Statt dessen wird die individuelle Lebensgeschichte bzw. der persönliche Selbstentwurf des Christen zum Ansatzpunkt der Moraltheologie. Dies geschieht in der Weise, daß das Leitbild eines Gott denkenden und Gott verinnerlichenden Menschen zur Sprache gebracht wird (56 ff.). D. betont, daß der Glaubende durch das Christusgeschehen eine "Teilhabe" an Gottes Herrschaft gewinnt und daß aufgrund der Kenose Gottes gilt: "Gott ist dort am dichtesten gegenwärtig und wirkend, wo der Mensch denkend seiner gewahr wird" (45). Die Gott denkende Vernunft des Christen wird zugleich als sittlich schöpferische Vernunft interpretiert. Im Rahmen der von D. zur Sprache gebrachten "Theologie der eigenen Lebensgeschichte" (105) sind die Kategorien des "Grundgewissens" und der persönlichen "Grundentscheidung" des einzelnen Menschen (71 ff.), der Lebensgeschichte als einer Läuterungs- und religiösen Lerngeschichte (50, 89 ff.) sowie die Idee einer christlichen Gesinnungsethik (142 ff.) leitend. Jedenfalls bildet das ethische Subjekt in seiner christlich-religiösen Biographie und in den Chancen seiner Individuation den Brennpunkt der Ethiktheorie D.s.

Eine einleuchtende und berechtigte Pointe dieses Ansatzes besteht darin, daß auf seiner Grundlage jedem starren, statischen Normativismus widersprochen werden kann. Die Reflexion von Normen und Werten ist ja keinesfalls nur für die katholische Morallehre von Interesse. Angesichts des hohen Gewichts von Normen und Werten für die Ethiktheorie ist die Abgrenzung von der Fehlform des Normativismus, so wie sie bei D. zur Sprache gelangt, nochmals um so stärker von Belang.

Erhellend ist D.s subjektivitätstheoretische Unterscheidung zwischen Handlungsmotivation und -intention (144). Ein ökumenisches Interesse des Vf.s zeigt sich, indem das Gerechtfertigtwerden durch Gott als Voraussetzung von Lebensglück und ethischer Tat unterstrichen wird (50 f.). In diesem Horizont erfolgt überdies eine originelle Interpretation des Probabilismus: Dieser wird als eine Befreiung von Leistungsethik, Rigorismus und ausuferndem Selbstzweifel ausgelegt (150 f.).

Anfragen an D.s Konzeption einer Handlungsmetaphysik können allerdings aus ihrem hohen ethisch-soteriologischen Optimismus sowie aus ihrem Erkenntnisoptimismus resultieren. Für den Christen wird als Ideal in Anspruch genommen: "Sittliche Wahrheit meint Übereinstimmung des Erkennenden mit sich selbst im Ausgriff auf die eigene Vollendung" (76). D.s Denkansatz bezieht sich letztlich nur auf solche herausragenden christlichen Individuen, die tatsächlich in der Lage sind, Gott zu denken, den Glauben in "vollendeter Konkretheit" (117) sittlich zu bewähren und Moral exemplarisch voranzutreiben. D. betont selbst das Postulat christlich-sittlicher "Eliten" (38, 102, 112, 154). Sicherlich: Das vorbildlich gelebte Ethos einzelner Menschen kann als Lebensbeispiel für die Mitmenschen und als Maßstab für das moralische Niveau in einer Kultur von höchster Bedeutung sein. Dennoch stellt sich die Frage, ob D.s Buch nicht z.T. auf die Überhöhung und Verklärung einer stark spirituellen christlich-sittlichen Existenz hinausläuft. Inwieweit kann ein Bild der menschlichen Lebensgeschichte überzeugen, in dem die "Schule des Leidens" (117) herausgestellt, die "Stunde höchster Not" als Bewährung der "moralischen Reinheit" und als menschliche "Sternstunde" (82) bezeichnet und der Tod als "Freund" (116) gedeutet werden? Es wäre näher zu entfalten, wie sich alltägliche, konkrete Entfremdungserfahrungen oder reale Arbeits- und Rollenkonflikte, mithin Fragestellungen der alltäglichen Lebenswelt sowie der Sozialethik, in D.s Denkanliegen einer Handlungsmetaphysik einbeziehen ließen.

Mit Recht unterstreicht D.s Buch freilich den anthropologisch-ethischen Grundsachverhalt, daß verantwortliches menschliches Handeln einer tieferen, tragfähigen geistigen Grundlage bedarf. Diese Einsicht verdient heute nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Religionspädagogik und in der Theologie als ganzer verstärkte Beachtung. Die Gegenwart kann als die Epoche eines "noologischen Nihilismus" (W. Weischedel) bezeichnet werden. Das Problem religiöser und normativer Verunsicherungen berührt die Fundamente der heutigen säkularisierten, postmodernen Gesellschaft. In der derzeitigen Phase der breiten Entkirchlichung und des Zurücktretens, ja Abbruchs religiöser Traditionen in Kultur und Gesellschaft ist es daher geboten, durch neue Anstrengungen im Erziehungs- und Bildungsbereich ein tragfähiges ethisches Orientierungswissen, das der Persönlichkeitsbildung und der individuellen ethischen Urteilsfähigkeit dienen kann, neu zur Geltung zu bringen.