Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1258–1260

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fritz, Regina

Titel/Untertitel:

Ethos und Predigt. Eine ethisch-homiletische Studie zu Konstitution und Kommunikation sittlichen Urteilens.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XI, 290 S. 23,2 x 15,5 cm = Prak­tische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 9. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150775-5.

Rezensent:

Frank Thomas Brinkmann

Wo eine verstehende Beschreibung und Entfaltung der Christentumspraxis jüngster Neuzeit zur Aufgabe ausgeschrieben wird, wissen sich vor allem zwei theologische Disziplinen – sowohl von ihrem reflexiv erstrittenen Selbstverständnis her gesehen als auch im Blick auf ihre kultur- bzw. religionshermeneutischen, norma­tiven und handlungstheoretisch-strategischen, praktischen, pragmatischen und praxisnahen Kompetenzen – als zuständig angesprochen: Auf ganz besondere Weise suchen Ethik und Praktische Theologie die gelebte Religion und das gelebte Ethos zu fokussieren, auch, um ihren Beitrag zur Plausibilisierung und Kommunikation christlich gedeuteter religiöser Lebenserfahrung und christlich vermittelter sittlicher Lebensgestaltung zu leisten. Die von ihnen angeleiteten Diskurse, in denen Entsprechendes zu entfalten sowie auf die Theorieleistungen sinnverwandter Debatten zu be­ziehen ist, haben unter anderem anschaulich zu machen, wie es einerseits um die Genese und den Kontext, um die historische und ästhetische Vermittlung der großen Sinndeutungsintegrale und Regelwerke, auch der standardisierten Schemata von Urteilsfindung und -bildung bestellt ist; andererseits sollten sie zeigen können, wie überhaupt intuitive Sinnsetzungen und spontane, scheinbar unvermittelte Urteile gebildet werden bzw. zustande kommen.
Ein großer Teil dieses Auftrags gilt als späte Konsequenz der von H. E. Tödt angeregten und in den 1970er und 1980er Jahren ergebnisoffen geführten Diskussion um Theorien sittlicher bzw. ethischer Urteilsfindung. Hier war zum Teil strittig geblieben, wie das in Wechselwirkung stehende Verhältnis von Normengestaltungen und historischen sowie lebensweltlichen Kontexten, aber auch von Situation und Intuition, Subjektivität und Spontaneität bestimmt und in das nötige Theoriedesign eingeholt werden kann. Regina Fritz hat nun in ihrer Göttinger Dissertation im Fach Systema­tische Theologie zum Thema »historische und ästhetische Vermittlung des Ethos« mit einer »fundamentalethisch-homiletische[n] Un­tersuchung zur Konstitution sittlichen Urteilens und Handelns« (Arbeitstitel) auf ein Desiderat reagiert und den Versuch un­ternommen, Konstitution und Kommunikation sittlichen Ur­teilens aus ethischer und praktisch-theologischer, genauer: aus deren gemeinsamer kulturhermeneutischer Perspektive zu diskutieren. Prinzipiell will sie Faktoren aufzeigen, die bei der Entstehung, Tradierung, Transformation und alltagsplausiblen Aneignung eine Rolle spielen. Dies soll in zwei Richtungen ratifiziert werden: zum einen im Modus einer ausführlichen Reflexion vor dem Hintergrund zuvor aufgerufener ethischer Referenzkonzepte, zum anderen über eine Art von Exempel, das an Predigten statuiert wird. So lassen sie sich doch als Formate und Medien verstehen, die der Vermittlung eines christlichen Ethos dienen. Folglich ist es durchaus möglich, den Vermittlungsprozess unter verschiedenen Leitbegriffen zu deklinieren, ihn rezeptionsästhetisch, kontextualitätslogisch, pneumatologisch, epistemologisch usw. einzuholen, so dass am Ende einer solchen Deklination deutlicher ist, wie sittliches Urteilen und Handeln zur Konstitution und Vermittlung kommt.
Die Studie setzt in ihrer einleitenden Skizze, die bereits einen Teil der entscheidenden Denk- und Arbeitsschritte im Voraus abbildet, mit den Aporien ethischer Theorien sittlicher Urteilsfindung an und versucht, sie an einem recht aktuellen Denkansatz festzumachen: Gerade im Umfeld der Diskurse, die auf eine Sensibilisierung für die lebensweltlich-kontextuelle Einbettung von Urteilsfindungs- oder Urteilsbildungsprozessen (vgl. 9) abzielen, könnte sich doch eine Hermeneutik sittlichen Urteilens entwickeln, »die dessen Kontextbezug ebenso erhellt wie die damit ein hergehenden innersubjektiven Vollzüge« (3). Doch um die Frage nach der Bedeutung und Funktion konkreter soziokultureller Figurationen für das sittliche Leben ebenso theoriegesättigt re­-flektieren zu können wie die Überlegung, dass biographisch und (entwicklungs-)psychologisch bedingte intuitive Akte auf Deutungs- und Handlungsentscheidungen Einfluss nehmen, braucht es zu­nächst theologische Gesprächspartner und Referenzen.
Bei Ernst Troeltsch und seinem System der Ethik, das der historische Bedingtheit des christlichen Ethos höchste Aufmerksamkeit widmet, findet F. ihre erste Teilpointe, zumal »Troeltsch seine Ethik im Sinne einer kulturhermeneutischen Theorie des sittlichen Lebens und Handelns konzipiert« (61), indem er die Rück-bindung des Subjekts in seine kulturelle Lebenswelt mit dem kategorialen Begriff »Gemeingeist« markiert, die intellektuelle Eigenaktivität des Subjekts jedoch voraussetzt und die Vermittlung von Gemeingeist und subjektiver Gewissheit als einen Akt rationaler Zusammenschau von Individualität, Aktualität, Komplexität und Historizität formuliert. Doch eine solche Skizze der »prinzipielle(n) Struktur sittlichen Urteilens und Handelns« (63) erklärt natürlich nicht unbedingt das »Zustandekommen der je konkreten sittlichen Urteile« (64). Dazu benötigt man einen Entwurf, der das sittliche Handeln auch generell erläutern kann als »einen Prozess, in dem das Subjekt sowohl von Reflexion als auch von sittlichen Intui­tionen geleitet ist« (65). Neben dem (Gemein-)Geist der Tradition (bzw. dem common sense der Community) muss also der »Geist einer Situation« postuliert, besser: entdeckt, beschrieben und verstanden werden. Es hat einen guten Grund, dass F. sich nun der theologischen Ethik von Johannes Fischer widmet; Fischer hatte seiner Theologischen Ethik die Aufgabe des Verstehens eingeschrieben und grundsätzlich die Interpretation jener spezifischen Wirklichkeitssicht aufgetragen, die sich eben als Lebensdeutung (christlicher Glaube) und Lebensführung (christliches Ethos) artikuliert, aber eben nicht allein auf reflexive Akte zu­rückgeht: Die lange Zeit unter dem Vorbehalt der Irrationalität erörterte Vollzugsperspektive wollte von ihm in einen postmodernen bzw. er­weiterten Handlungsbegriff eingebracht werden, in dem weniger die Begründung von Handlung als Tat als vielmehr das Erlebnis von Handlung als Ereignis thematisiert wird (81 f.). Damit ist eine Entfaltung von (erlebnisbegründeter Prägung) sittlicher Intuition vorbereitet – und kann von F. aufgegriffen werden, wenn sie jene Atmosphäre zu beschreiben sucht, die narrative, performative, inszenatorische, rhetorische (usw.) Konstruktionsmerkmale aufweist: Es ist diejenige Geist-Dimension, die die sittliche Intuition hervorbringt, prägt und modelliert!
Mit diesem Theoriedesign schickt sich F. an, ethische Kanzelreden zu analysieren, die in der homiletischen Situation der »Friedlichen Revolution im Jahr 1989 in der DDR gehalten wurden« (11). Lassen sie sich »als Spiegel der reflexiven wie intuitiven Akte des sittlichen Subjekts lesen« (11), so lautet eine Frage. F. antwortet mit Bravour, auch, indem sie die Faktizität der Intuitionsbildung im Predigtereignis – eher jedoch: im ästhetischen Rezeptionsvorgang!– erst einmal grundsätzlich nachzuweisen vermag (133 ff.). Im Hin­tergrund ihres überzeugenden Fazits (223 ff.) und ihrer Schlussreflexionen (243 ff.) jedoch könnte ein winziger Vorbehalt lauern, auf den die vorliegende Studie keine Antwort mehr geben muss: Welche Entsprechungen hatte die sittliche Intuition, deren Pflege und Kanalisierung in den untersuchten Predigtszenarien bzw. in den damit präsentierten sittlichen Geistfeldern nachgewiesen werden konnte, tatsächlich zu einer christlichen Lebenssinndeutung?
Sicher, der Predigtprozess hat eine religiös fundierte Struktur (249), der Ort des Geschehens ist nicht nur religiös, sondern konkret christlich-kirchlich signiert – aber geht daraus zwingend hervor, dass sich das vermittelte Ethos bei den seinerzeit Beteiligten als ausdrücklich christliches verstand und realisierte? Gerade im Blick auf den historischen, politischen, soziokulturellen Kontext des ausgewählten Analysematerials gilt: Obwohl sich seither die Stimme der sittlichen Intuition immer wieder zu Wort gemeldet hat, bleibt ihr Verhältnis zu einer (standardisiert-typi­sierten) christlichen Gesinnung ebenso wie zu einer expliziten, z. B. öffentlich kommunizierten oder institutionalisierten christlichen Lebensdeutung eigentümlich verspannt! Womöglich distanziert man sich von der Möglichkeit solcher Irritationen mit jener terminologischen Weite, für die eben auch Ernst Troeltsch einstand: Denn der starke Begriff des christlichen Ethos kann bisweilen auch im Wege stehen, wenn es um den Zusammenhang und das Wechselverhältnis von (re­ligiösen) Lebenssinndeutungen und sittlichen Lebensgestaltungsoptionen geht.