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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1256–1258

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Ralf

Titel/Untertitel:

Freiwilligenengagement und soziale Un­gleich­heit. Eine sozialwissenschaftliche Studie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 287 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-021928-1.

Rezensent:

Carolin Blum

Ralf Fischer (Fulda) ist evangelischer Diakon, Diplom-Sozialarbeiter und Sozialpädagoge sowie Fachreferent für Kirchenvorstände und Synoden. Seine Dissertation reichte er 2011 am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel ein. Seine Arbeit be­schäftigt sich mit der Frage, welche Bevölkerungsgruppen in welchem Ausmaß und in welcher Form von Freiwilligenengagement profitieren. F. bezeichnet das Freiwilligenengagement als einen exklusiven Be­reich und fragt vor diesem Hintergrund nach den Zugangsmöglichkeiten und -barrieren. Die Bearbeitung er­folgt aus einer sozialarbeitswissenschaftlichen Perspektive und stellt eine Ergänzung zu den bisher veröffentlichten, vorrangig politikwissenschaftlichen und soziologischen Beiträgen zum Freiwilli­gen­engagement dar.
Das Werk beginnt mit der Gegenüberstellung von Euphorie und Skepsis, die bezüglich der Engagementthematik vorherrschen. Während die Medien fast ausschließlich positive Aspekte betonen, ist in der Politikwissenschaft eine Annahme vorzufinden, die von Praktiken sozialer Schließung innerhalb der Zivilgesellschaft ausgeht. Demnach profitieren nicht alle Menschen gleichermaßen von Freiwilligenengagements, sondern manche von ihnen in einem höheren Maße als andere.
Im Anschluss wechselt die Perspektive von der politischen Wissenschaft zu den politischen Akteuren, denen F. einen »auffallenden Enthusiasmus« (13) bezüglich der Engagementthematik attestiert. Sozialer Ungleichheit kann, so die Hauptaussage der Politik, durch freiwilliges Engagement entgegengewirkt werden, da es das soziale Kapital der Gesellschaft erhält und vermehrt. Unter Bezugnahme auf den vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen Freiwilligensurvey nimmt sich F. dieser Aussage an und fragt nach den aufzeigbaren sozialen Effekten von Freiwilligenengagements. Er stellt provokative Überlegungen an, in denen er das von vielen Akteuren vorbehaltlos als gut bezeichnete Freiwilligenengagement anzweifelt und hinterfragt, ob es wirklich für alle Akteure gleichermaßen positive Effekte hat. F. vermutet in diesem Kontext, dass das Freiwilligenengagement nicht dazu beitragen kann, soziale Ungleichheit zu mindern, sondern stattdessen für eine Verschärfung der Ungleichheiten sorgt. Diesbezüglich illustriert er Effekte, die dem Freiwilligenengagement innewohnen und die dem »ohnehin positiv privilegierte Milieu« (19) zusätzliche Begünstigungen zuführt, während das negativ privilegierte Milieu dadurch weitere Benachteiligung erfahre.
Die gelungene Einführung in Form eines Überblicks über wichtige Thesen der Medien, Politik und Politikwissenschaft zeigt die zentrale Fragestellung der Dissertation: Kann Freiwilligenengagement wirklich all die positiven Funktionen, die ihm zugeschrieben werden, erfüllen und das soziale Kapital in Deutschland stärken? Oder gibt es Hinweise auf einen Mechanismus, der Freiwilligenengagements innewohnt und soziale Ungleichheiten stabilisiert?
Im theoretischen Teil der Arbeit wendet F. das Konzept des sozialen Raumes sowie die Milieutheorie an. Auf diese Weise gelingt ihm die Überwindung der Grenzen des vertikalen Klassen- und Schichtungsmodells. In Anlehnung an Bourdieu und Vester leitet F. in diesem Teil der Arbeit auf eine sehr anschauliche und strukturierte Weise die These ab, dass es innerhalb der Gesellschaft keinen Raum gibt, den Elitemilieus nicht nutzen können, um ihren Vorsprung auszubauen. Übertragen auf die vorliegende Fragestellung bedeutet dies, dass auch freiwilliges Engagement Elitenmilieus zur Etablierung kultureller Hegemonie verhilft. Der Theorieteil verdeutlicht F.s zentrale Fragestellung und untermauert diese durch die Beschreibung zentraler Faktoren, die das Freiwilligenengagement zu einem exklusiven Bereich machen.
Nach der theoretischen Auseinandersetzung wird der zentrale Untersuchungsgegenstand – das Freiwilligenengagement – thema­tisiert. Es erfolgt eine Betrachtung seiner Funktionen sowie seines Nutzens aus der Perspektive des Staates, der Zivilgesellschaft sowie des engagierten Individuums. Im Rahmen dieser Diskussion gelingt es F., signifikante Differenzen zwischen diesen drei Ebenen sowie die jeweiligen Interessenlagen herauszuarbeiten. Besonders interessant sind vor dem Hintergrund der zentralen Fragestellung die Autoeffekte des Freiwilligenengagements für die Engagierten. Wie F. erklärt, profitieren engagierte Akteure in Form einer Generation und Akkumulation ihres kulturellen, sozialen, ökonomischen und symbolischen Kapitals von Freiwilligenengagements. Dieser Nutzen ist mit Voraussetzungen verbunden, die F. im an­ schließenden Teil aufdeckt. Auf Seiten des Individuums stellt er diesbezüglich fest, dass insbesondere kognitive, psychische und soziale Fähigkeiten die Voraussetzungen für Freiwilligenengagements darstellen und diese ungleich in der Gesellschaft verteilt sind. Somit ist der mit Freiwilligenengagement verknüpfte Ge­winn nur denjenigen Akteuren zugänglich, die über die relevanten Ressourcen verfügen und diese entsprechend investieren können.
Abschließend nimmt F. seine anfangs aufgestellte Fragestellung wieder auf und formuliert als Erkenntnis seiner Arbeit: Menschen, die »höheren Segmenten des sozialen Raums« (248) angehören, nutzen das Freiwilligenengagement, um ihre Ressourcenausstattung zu verbessern sowie um ihre leitende Stellung im ge­­sellschaftlichen Gefüge zu legitimieren. Die Rekonstruktion und Persistenz sozialer Ungleichheit wird somit ebenso gestärkt wie die Existenz von Me­chanismen der Exklusion, die im Bereich des Freiwilligenengagements wirken. – Wie dieses Fazit verdeutlicht, gelingt es F., Antworten auf die von ihm aufgeworfenen Fragen zu finden und jene Effekte des Freiwilligenengagements aufzuzeigen, die negative Folgen für eine demokratische Gesellschaft und ihre ressourcenschwachen Mitglieder haben können. F.s Werk stellt aus mehreren Gründen einen wertvollen Beitrag dar: Es kann nicht nur innerdisziplinäre Dis­kussionen verschiedener Fachrichtungen befruchten, sondern trägt auch zur interdisziplinären Betrachtungsweise der Thematik bei, da eine Verbindungslinie zwischen Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialarbeitswissenschaft gezogen wird.
Die Arbeit weist auf kritische Aspekte eines Themas hin, das in den vergangenen Jahren fast ausschließlich lobende Stimmen laut werden ließ und dabei immun gegen Kritik erschien. Für Weiterentwicklungen und die Entstehung neuer Ansätze innerhalb der Engagementforschung ist eine Auseinandersetzung, wie sie F. vorlegt, elementar. Er schließt mit seiner Arbeit nicht nur eine Lücke in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Freiwilligenengagement, sondern eröffnet neue Perspektivmöglichkeiten, indem er die Sozialarbeitswissenschaft näher an das Thema heranrückt. Mit einem Blick auf zukünftige Studien bietet F.s Dissertation eine Basis für Erhebungen an, die darauf abzielen, die Existenz und die Beschaffenheit von alternativen Feldern neben dem bisher bekannten Freiwilligenengagement zu erforschen. In diesen alternativen Engagementfeldern jenseits der Bereiche des Staates, der Ökonomie und der Primärbeziehungen sieht F. das Potential, Ressourcenschwäche zu überwinden. Durch das Verfolgen einer Eigenlogik wäre es in diesen Ausprägungen des Freiwilligenengagements denkbar, Effekte für die beteiligten ressourcenschwachen Akteure zu schaffen, die eine Kapitalakkumulation begünstigen sowie ihre soziale Teilhabe er­möglichen. Eine finale Ausführung dieses Ge­dankens bringt F. zu der These, die von ihm skizzierte Alternative könnte letztlich nicht nur zur Inklusion ressourcenschwacher Ak­teure führen, sondern auch dazu beitragen, dass Politik und Gesellschaft eine Neubewertung durchführen und diejenigen Akteure würdigen, die trotz der Einnahme sozialer Randposition einen wichtigen und grundlegenden Beitrag für das Gemeinwohl leisten.