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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1246–1249

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Unger, Tim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Fundamentalismus und Toleranz. M. Beiträgen v. A. Beutel, Ph. David, G. Müller-Fahrenholz, A. Grünschloß, E. Herms, H. Kreß, M. Morgenstern, M. Petzoldt, M. Roth, J. Thielmann, Ch. Tietz, H. de Wall.

Verlag:

Hannover: Lutherisches Verlagshaus 2009. 276 S. 22,0 x 14,8 cm = Bekenntnis. Fuldaer Hefte, 39. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7859-0985-0.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Das Phänomen des Fundamentalismus einerseits und die Begründung und Praxis von Toleranz andererseits spielen eine zentrale Rolle in gegenwärtigen Diskussionen über die Gestaltung und Stärkung freiheitlich-demokratischer Gesellschaften. Mit beiden Begriffen verbinden sich zugleich Grundfragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion vor dem Hintergrund ihres Wahrheitsanspruches. »Ist der Anspruch jeder Religion auf Teil­-habe an der absoluten Wahrheit vereinbar mit der Notwendigkeit der gegenseitigen Duldung in einer faktisch multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft?« (7) Dieser Frage stellen sich die elf Beiträge des angezeigten Bandes, die auf zwei Tagungen des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses gehalten wurden.
Entgegen der Reihenfolge im Titel gehen die ersten sechs Beiträge zunächst auf die Toleranzthematik ein, um deutlich werden zu lassen, »in welchem philosophischen, theologischen und religiös- wie rechtstheoretischen Rahmen« (8) sich die nachfolgende Fundamentalismus-Reflexion immer schon bewegt.
Im ersten Beitrag arbeitet Philipp David unter der Frage »Was ist Toleranz?« im Rekurs auf die Entwicklungsgeschichte des Begriffs in Auseinandersetzung mit Rainer Forst die Komponenten eines Verständnisses von »Toleranz als aktiver, gelebter Haltung« (26) heraus. Toleranz als »Ertragen und Erdulden Anderer« diene dabei nicht nur dem Verstehen der Anderen, sondern führe »vor allem und zuerst« dazu, »sich selbst angesichts der Anderen besser zu verstehen« (26). Entscheidend sei dafür die Einsicht in »das eigene unverfügbar erschlossene Wirklichkeitsverständnis als identitätsstiftende Tradition« (27), auf deren Basis »die anderen, konkurrierenden Wirklichkeitsverständnisse daraufhin zu befragen [seien], worin ihr Beitrag zu einem gelingenden Miteinander im Dissens der pluralen Gesellschaft« (ebd.) liege. Diese begriffliche Reflexion wird flankiert durch die im folgenden Beitrag von Albrecht Beutel erschlossenen Voraussetzungen der heutigen Debatte im frühneuzeitlichen Toleranzdiskurs. Beutel umreißt hier zunächst die Diskussion in der Reformationszeit und die nachfolgende Ent-wicklung, benennt sodann den Beitrag der Neologie zur Bestimmung der »religionstheologischen Begründungszusammenhänge« (33) und erörtert schließlich die Bedeutung der Unionsbestrebungen und die Rolle des Woellnerschen Religionsedikts, die den Übergang zur nachaufklärerischen Diskussion bilden.
Eilert Herms überführt die Toleranzfrage in die Frage nach einer den anthropologischen Phänomenen von Positionalität und Pluralismus entsprechenden Gestaltung der staatlichen Verfassungsnorm. Da Positionalität wesentlich zum Personsein des Menschen gehöre, indem der Mensch sich zu verstehen aufgegeben sei, könne der Versuch einer »Überwindung von individueller und kollektiver Positionalität« (60) nur illusionär erscheinen. Realistisch sei vielmehr »nur die Perspektive auf eine Bildung und Ausweitung der Positionalität von Individuen und Kollektiven, gewissermaßen auf die Milderung ihrer Befangenheit, auf ihre Reifung« (ebd.). In ihrer Unüberholbarkeit sei die Positionalität menschlichen Personseins dabei zu­gleich »Grund der Unüberholbarkeit des religiös-weltanschaulichen und damit auch des religiös-ethischen Pluralismus« (63).
Eine »befriedigende, nämlich Gewalt minimierende Gestaltung des Pluralismus« könne es wiederum »nur in einer staatlichen, also vom Gewaltmo­nopolisten unterhaltenen Rechts- und Friedensordnung« (70) geben. Diese müsse im Interesse des konstitutiven religiös-ethischen Pluralismus die Möglichkeit schaffen und erhalten, »dass eine Vielzahl von koexistenten Ethospositionen sie als die ihre verstehen kann« (74). Grundlegend sei dabei zum einen »die – jeweils positionale – Erfassung der Rückgebundenheit der eigenen entfalteten Daseinsgewissheit und jeder anderen an eine Erschlossenheitslage als Bedingung der Möglichkeit und der Unabweisbarkeit des eigenen und jedes möglichen anderen Sich-selbst-Ver­sehens von Menschen« (73). Zum andern müsse umgekehrt die Verfassung »diese aus der Sicht unterschiedlicher Positionen für alle anderen anerkannte Möglichkeitsbedingung des menschlichen Sich-selbst-Verstehens in seinen unterschiedlichsten Formen […] und nichts sonst zur inhaltlichen Norm für die Rechtsordnung erheben« (73 f.). Indem nun die nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu schützende Würde des Menschen nur beinhalte, »dass der Mensch ihm selbst zu verstehen vorgegeben ist« (74), erfülle das Grundgesetz auf exemplarische Weise die den Grundphänomenen von Positionalität und Pluralismus entsprechende Anforderung, Rechtsordnung für eine Pluralität koexistierender Ethospositionen zu sein.
Im Unterschied zu dieser phänomenologisch fundierten Bearbeitung der Toleranzthematik beschreibt Hartmut Kreß nunmehr auf der Basis von pragmatischen, historischen und menschenrechtlichen Gründen im Rahmen eines theologischen Begründungshorizontes (78–82) dialogische Toleranz als Bringschuld des Protes­tantismus. Worin diese besteht, zeigt er konkret anhand aktueller Fragen im Verhältnis zum Islam sowie in der Bioethik und wirft dabei auch einen kurzen Seitenblick auf »Defizite an Toleranz in der katholischen Kirche« (86).
Heinrich de Wall untersucht sodann Toleranz als Rechtsbegriff im Unterschied zur religiösen Gleichheit, zur Religionsfreiheit und zum Selbstbestimmungsrecht, zeigt die »Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Religionsverfassungsrechten« in der Europäischen Union auf und beleuchtet schließlich das Verhältnis der evangelischen Kirchen zu staatlicher und innerkirchlicher Toleranz. Christiane Tietz wiederum geht systematisch-theologisch der Frage nach, wie sich ausgehend von Luthers Theologie Gottes Toleranz verstehen lässt, inwiefern »aus der Toleranz Gottes unsere Toleranz folgen« (120) sollte und warum sich aus dem Gedanken der Toleranz Gottes keine Antwort auf »die Frage ›Allversöhnung oder doppelter Ausgang?‹« (139) ableiten lässt.
Nach diesen Beiträgen zur Toleranzthematik schlägt der Beitrag von Michael Roth mit der Frage »Wie ist im Glauben die Wahrheit gegeben und was folgt daraus für die Wahrnehmung fremder Wahrheitsansprüche?« (140 ff.) die Brücke zur Fundamentalismus-Thematik. Ausgehend von Luthers Verständnis des Glaubens macht Roth zunächst deutlich, dass der Protestantismus dem Einzelnen zumute, »den Glauben im und durch das eigene Leben zu bewähren, mit anderen Worten: zur Lebenswahrheit werden zu lassen, zu einer Wahrheit also, die das Leben trägt und bestimmt und daher nur im Leben des einzelnen Gestalt gewinnt« (152). Entsprechend sei der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens »kein theoretischer, sondern ein gelebter« (158). Wichtig ist Roth dabei die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem Glauben selbst und dem Gesagten und Gedachten, »in dem der Glaube sich Ausdruck verschafft und sich zu verstehen sucht« (159). Denn wo die Ausdrucksformen »selbst als Wahrheit behauptet« (ebd.) würden, träten »notwendig diejenigen Tendenzen auf, die bei fundamentalistischen Wahrheitsüberzeugungen in­nerhalb des Christentums beobachtet werden« (ebd.). Demgegenüber rede der Glaube »nicht von einem ›Besitz‹ der Wahrheit […], weil er sich – als gelebte Wahrheit – auf dem Weg zur Wahrheit hin begreift« (162). Insofern bestehe in der Begegnung mit fremden Wahrheitsansprüchen die Gefahr, »einen An­spruch auf Wahrheit zu vertreten, der der Gegebenheitsweise unserer Wahrheit zutiefst widerspricht und im Blick auf diese als fundamentalistisches Selbstmissverständnis des christlichen Glaubens zu bezeichnen ist« (162). Dabei fragt sich allerdings, ob nicht auch mit einer solchen These der Besitz einer Wahrheit beansprucht wird, den Roth als unvereinbar ansieht mit dem Verständnis des Glaubens als gelebter Wahrheit.
Die folgenden Beiträge zielen auf eine Klärung des Fundamentalismus-Begriffs. Andreas Grünschloß arbeitet im Rekurs auf das ›Fundamentalism-Project‹ der US-amerikanischen Academy of Arts and Sciences charakteristische ideologische und organisatorische Merkmale des Fundamentalismus heraus. Daneben zählt er zu den elementaren Ergebnissen des Projekts, dass dieses »Ge­waltbereitschaft nicht als konstitutives Kriterium verifizieren konnte« (194). Manifeste Gewaltbereitschaft eigne vielmehr »nur einer bestimmten Form des ›welterobernden‹ Fundamentalismus, der für die Durchsetzung und ›Vollstreckung‹ seines absoluten Wissens auf entsprechend militant mobi­-lisierbare sozialmoralische Milieus angewiesen ist« (ebd.). Nur in einer möglichst engen und differenzierten Verwendung könne daher der Fundamentalismus-Begriff »als deskriptives Konzept eingesetzt und heuristisch plausibel begründet werden« (195). Matthias Morgenstern untersucht sodann die charakteristischen Merkmale der radikalen jüdischen Orthodoxie, und zwar im Blick auf die drei grundlegenden Komponenten der Toraobservanz, des Schriftverständnisses und des Messianismus. Er zeigt einerseits, dass der Fundamentalismus-Begriff unzureichend ist zur Erfassung der Charakteristika in ihrer besonderen Dynamik. Andererseits macht seine Untersuchung deutlich, inwiefern »religionswissenschaftliche Vergleiche, hält man sich von voreiligen Parallelisierungen fern, bei der Analyse der Phänomene durchaus hilfreich sein können« (224). So zeige sich z. B. im Blick auf das Schriftverständnis, »dass wir in der jüdischen Orthodoxie ›eine Haltung gegenüber Tora und halacha‹ vor uns haben, die – entgegen dem verbreiteten Missverständnis – derjenigen der protestantischen Fundamentalisten gegenüber dem unfehlbaren Bibelwort gerade nicht ähnlich ist« (220, in Abgrenzung von H. Küng).
Nach diesem Blick auf das Judentum geht es im Beitrag von Matthias Petzoldt um die Frage, ob das Christentum inhärent fundamentalistisch ist. Petzoldt antwortet darauf mit der These, das Christentum sei »dort fundamentalistisch, wo Christen den im Christentum angelegten Prozess der Säkularisierung als Grundverunsicherung ihrer Identität erleben und in einer bestimmten Weise abwehrend reagieren« (227). Indem er Fundamentalismus als Reaktion auf Säkularisierung versteht, grenzt er sich von den Fundamentalismus-Deutungen ab, die diesen als Gegenbewegung zur Moderne interpretieren (234 ff.). Fundamentalismus könne dabei als zusammenfassender Ausdruck fungieren »für ein Rollenverhalten von Gruppen in Kulturen, das von dem mehr oder weniger aggressiven Versuch gekennzeichnet ist, ihren […] dominierenden Status durch selektiven Rückgriff auf Vorstellungen, Normen und Prinzipien der die Kulturen einst tragenden Religionen durchzusetzen« (243). Als christliche Beispiele nennt Petzoldt die Auslegung des protestantischen Schriftprinzips durch die Verbalinspirationslehre gegenüber Atheismus, Mo­ralverfall und Bibelkritik und das Unfehlbarkeitsdogma der römisch-katho­lischen Kirche zur Abwehr des Modernismus.
Im letzten Beitrag des Bandes beleuchtet Geiko Müller-Fahrenholz das Phänomen des Fundamentalismus im Lichte der These, dass die menschliche Seele Halt und damit bestimmte Fundamente benötige. Vor diesem Hintergrund sieht er Fundamentalismus als »ein Leiden an einer Welt, die den Menschen den Boden unter den Füßen wegzieht« (254). Fundamentalismus sei dabei ebenso wie die Haltung der Beliebigkeit »eine pathologische Reaktion auf eine überkomplex gewordene Epoche« (254). Beide Reaktionen verwiesen »auf gravierende Fehlentwicklungen« (256), insbesondere die »massenhafte Entwurzelung von Menschen in den verelendenden Gebieten unserer Erde«, die »massive Kränkungsgeschichte in arabisch-muslimischen Ländern« und eine »(v)erbreitete ›Subjektmüdigkeit‹ angesichts überkomplexer Verhältnisse in westlichen Überflussgesellschaften, vor allem in den USA« (257.260.263, jeweils kursiv). Indem es die Religionen schon dem Wortsinn nach »mit dem tiefsten Halt zu tun« (268) haben, rücken sie in besonderer Weise als »Inseln der Verlässlichkeit« (269) und des Vertrauens in den Blick, die nach Müller-Fahrenholz zu bauen und zu pflegen sind, um der Seele den nötigen Halt in einer überkomplexen Welt zu gewähren.
Kurze Autoreninformationen beschließen den Band, dem keine Register beigegeben sind. Auch auf eine einleitende oder ausleitende Bündelung der Beiträge hat der Herausgeber verzichtet. Wie sich die Ansätze zueinander verhalten, welche Zugriffe sich ergänzen, welche sich ausschließen – diese Frage bleibt der Urteilsbildung der Leserinnen und Leser überlassen. Das mag durchaus im Sinne der freien Aneignung der Gedanken sein, auf die schon die Neologie so großen Wert legte. Eine bündelnde Reflexion, die die durchweg pointierten und lehrreichen Beiträge zueinander in Beziehung setzt, hätte die kritische Auseinandersetzung aber auch befördern können.