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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1244–1246

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Beyrich, Tilman

Titel/Untertitel:

Theosphären. Raum als Thema der Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 437 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02861-0.

Rezensent:

Ulrich Beuttler

Tilman Beyrich widmet sich in seiner systematisch-theologischen Habilitationsschrift, die 2009/10 von der Universität Greifswald angenommen wurde, dem lange Zeit vernachlässigten, ja vergessenen und verdrängten Thema der Theologie: dem Raum. Veranlasst durch den spatial turn in den Kulturwissenschaften sieht B. sich und die Theologie herausgefordert, den Raum als Thema der Theologie (wieder neu) zu erkunden. Nach dem einleitenden Teil I. werden in drei Durchgängen verschiedene Arten von Räumen nach ihrer theologischen Relevanz erforscht. Es sind, von den ›kleinen‹ zu den ›großen‹ Räumen fortschreitend, die »intimen Räume«, die im Teil II. danach befragt werden, Räume der Nähe Gottes zu sein; dann behandelt B. unter »öffentliche Räume« die Möglichkeit und Problematik von »heiligen Orten und Räumen« sowie konkrete, theologisch relevante öffentliche Räume wie Friedhöfe, Städte, »heiliges Land« und »christliche Welt«. Teil IV. schließlich weitet den Raum ins Große und Ganze und diskutiert den Raum kosmologisch, ontologisch, schöpfungstheologisch.
Der einleitende Abschnitt I. geht aus von der kulturtheoretischen These, dass Raum das »Ursymbol einer Kultur« sei, was sich mit Simmel soziologisch so explizieren lässt, dass Kommunikation von Personen immer einen »belebten Raum« zwischen ihnen bedeutet (8). Der Ausgangspunkt wird sogleich theologisch gewendet und universalisiert: Wie alle Beziehungen, so ist auch die Gottesbeziehung, zumal in der Bibel, räumlich charakterisiert.
Daraus ergibt sich ein erster Fragenkatalog für die Arbeit B.s.: Auf welche Weise werden Räume erlebt, in denen mit der Gegenwart Gottes gerechnet wird? Wenn Gott (mit der traditionellen Theologie) jenseits von Raum und Zeit aufgefasst wird, wie ist dann seine Einwohnung im Raum zu denken? Was bedeutet es, wenn – in anderem Kontext – Gott als »der Raum« (ha makom) bezeichnet wird (11)? Und was bedeutet es, wenn allgemein die Relation zwischen Gott und Mensch »räumlich« qualifiziert wird? Meint etwa die Präposition »vor« im »vor-Gott-Stehen« des Menschen eine räumliche Dimension oder handelt es sich nur um metaphorische Rede?
Es gehört zu den Stärken des Buches, solche Leitfragen aufzuwerfen. Ob sie immer beantwortet werden, muss man sehen; und ob dabei immer klar ist, worum es sich bei »Raum« jeweils handelt, also ob es sich bei den Fragen um dieselben oder doch ganz unterschiedliche Ebenen handelt, auch. Im Folgenden werden jedenfalls unter Bezug auf die Großen der Theologiegeschichte einige Gründe genannt, weshalb der Raum theologisch in Vergessenheit geriet (18 ff.). Bei Augustin sei das deshalb der Fall, weil er Gott mit der Innerlichkeit verband, bei Luther, weil er gegen die Schweizer den Himmel entgegenständlicht, bei Barth und Bonhoeffer, weil die Zeitlichkeit des Menschseins und des Glaubens alle statische (= räumliche?) Topologie überwindet, bei Tillich, weil der Raum und mit ihm die Herrschaft des Raumes Inbegriff des Heidentums sei.
An diesen Analysen könnte man manche Ergänzung und theologiegeschichtliche Einordnung fordern, aber B. geht es hier wie im ganzen Buch nicht um Entwicklungen und genealogische Zusam-menhänge, sondern um exemplarische Positionen, die als Folie für Fragestellungen fungieren. Als Kontrast nennt B. daher gegen die skeptischen Vorbehalte gegenüber einem theologischen Raumdenken einige Formen der »Wiederaneignung des Raums in der Theologie« (63 ff.), die er als ökologisch, utopisch, existential und technisch unterscheidet, ordnet und daran einen weiteren, »Theotopologie« genannten Fragenkatalog anschließt (97 ff.). Insbesondere aber kommt er nun auf den Hauptinspirator des Buches zu sprechen, Peter Sloterdijk. Sloterdijk fungiert für B. als Ideengeber, neue und selbst bei den theologischen Wiederaneignern von Raum vernachlässigte Themen zur Sprache zu bringen, die ihm für eine theologische Auseinandersetzung von Raum relevant erscheinen. Darum werden die Ideen aus Sloterdijks Sphärenprojekt auch erst in den Teilen II. und III. an Ort und Stelle eingebaut, in der Einleitung soll nur knapp deutlich werden, weshalb die Arbeit insgesamt unter dem Titel »Theosphären« steht, »denn sie versucht, der Ge­samtkonzeption Sloterdijks eine andere Lesart zum Verhältnis von Gott und Raum an die Seite zu stellen« (76). Was genau B. im Auge hat mit dieser »anderen Lesart«, bleibt allerdings offen. Ist damit nur negativ gemeint, dass B. das Verhältnis von Gott und Raum eben nicht religionskritisch wie Sloterdijk angehen will? Dessen Konzeption von »Blasen«, »Globen« und »Schäumen« führe »zu einem nach-christlichen Wirklichkeitsverständnis« (87), insofern die Kugel als Ingegriff des Christentums und seiner Soteriologie im Sinne eines Innen- und Aufgehoben-Seins von allem in Gott, durch die antimetaphysische, ja atheistische Entwicklung der Neu­zeit umschlägt in ein unbehaustes In-der-Welt-Sein. Der heutige Mensch, so Sloterdijks Religionskritik (die Bezüge, aber auch Differenzen zu Nietzsche, Heidegger usw. werden nicht aufgearbeitet), kann nicht mehr in der unendlich bewahrenden Sphäre Gott zu­hause sein, weil die Kugel ins Unendliche überdehnt wurde und der Tod Gottes nun festgestellt werden muss, weil die Kugel tot ist (91). Wie aber dann?
Exemplarisch sei am Teil II. dargestellt, inwiefern Sloterdijks Anregungen von B. gegen dessen Intention nicht religionskritisch, sondern für eine positive Verhältnisbestimmung von Gott und Raum genutzt werden. Mit Recht entfaltet B., dass christlich weder die Seele noch die Gottesbeziehung unräumlich verstanden sei, was in der assoziativ aufgerufenen mystischen Tradition evident ist, aber auch für die biblische Theologie gilt. B. greift auf Sloterdijks Rede vom interfazialen Feld zurück, um deutlich zu machen, dass etwa der Segen Gottes »von Angesicht zu Angesicht« gemeint sei, und zwar direkt und konkret. B. verweist darauf, dass das Gottesverhältnis in der Regel nicht als »interfaziale Epiphanie« verstanden werde, und selbst die Rede vom »Antlitz« etwa bei Levinas beziehe sich nicht auf ein konkretes Phänomen, stehe vielmehr für die Transzendenz-Begegnung mit dem »ganz Anderen« (140). Hingegen sei theologisch wie im Alltag das Von-Angesicht-zu-An­gesicht-Verhältnis eines, das »Abständigkeit in unmittelbare Nähe« (141) überführt.
B. interessiert sich also für Konkretionen des Gottesverhältnisses, um seine räumliche Dimension auszudrücken. Hermeneutische Fragen möchte er hintanstellen. Obwohl die Hermeneutik natürlich stets im Hintergrund präsent ist, tritt sie nicht explizit hervor. Es geht B. um das, was ein Gesicht ausdrückt, nicht was der Hermeneut zu sehen meint. Denn »ein Gesicht fesselt und ›fasziniert‹ auf andere Weise, als es einem Hermeneutiker lieb ist« (141). Der Rezensent jedoch hätte sich schon genauere Klärungen ge­wünscht sowohl bezüglich der assoziativen Raummetaphorik bei Sloterdijk und seinem »Wirklichkeitsverständnis« als auch der Art der Räume, welche die Gottesbeziehung als »intime Nähe-Erfahrung« (209) beschreiben lassen.
Auch im Teil III hat das Buch seine Stärken darin, aktuelle Theo-riebildungen, neben Sloterdijk Foucaults Heterotopologie oder Schmitz’ Atmosphären, zur phänomenologischen Erschließung theologisch relevanter Räume heranzuziehen. So wird etwa der Heilige Raum als Raum des Hörens (224), aber auch als fremder Raum, ebenso als heilsame Atmosphäre der Geborgenheit (230), als »Arche« (Sloterdijk) wie als Raum des Schwebens (232) charakterisiert.
Teil IV »Schöpfungsräume« ist eher knapp ausgefallen. Es werden hier nur die Klassiker der 1980er Jahre referiert, u. a. wird Moltmanns, nach Ansicht des Rezensenten reichlich unklare, metaphorische Rede von der Welt als gottoffenes System und von Gott als ihrem ›Vorraum‹ aufgegriffen, während ontologische und kosmologische Fragen nur gestreift werden. Die für die systematisch-theo­logische Reflexion des Raumes so wesentliche Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Raumbegriffen einerseits und denen der (analytischen) Philosophie andererseits mag man in dieser Arbeit vermissen.
Wer hingegen assoziative, poetische und sprachbildende Anregungen sucht, die Räume, die theologisch als Gegenwart Gottes zu benennen sind, auch phänomenologisch und existentiell als Näheerfahrungen auszusprechen, wird in diesem Buch, das überdies ausgezeichnet zu lesen ist, reiche Anregung finden.