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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1239–1241

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wolf, Jean-Claude

Titel/Untertitel:

Das Böse.

Verlag:

Berlin/Boston: de Gruyter 2011. VI, 181 S. 23,0 x 15,5 cm = Grundthemen Philosophie. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-11-025085-5.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Gerade weil sich das oft exzesshafte, singuläre, gewalttätige Böse dem sachlichen Versuch des Verstehens entzieht, wird es in vielen Werken der Ethik marginalisiert. Aus diesem Grund ist dessen Thematisierung in der hier vorzustellenden Studie des in Fribourg/ Schweiz Ethik und Sozialphilosophie lehrenden Jean-Claude Wolf sehr zu begrüßen. In seiner Einleitung (1–12) stellt er, in der Form eines inneren Dialogs zwischen Jean und Claude die Grundvor-aussetzungen seines Ansatzes vor: Kraft ihres Urteilens können Menschen zwischen Gut und Böse unterscheiden, »physische und mo­ralische Übel« benennen und durch die Opfer die »Realität des Bösen« (1) bezeugen. Grundsätzlich bindet W. das Böse an die menschliche Verantwortung, qualifiziert es also als säkular verursacht, dabei aber theologische oder psychologische Denkmuster berücksichtigend. Allerdings bleibt, wegen des Wirkens der Natur oder unbekannter Faktoren, ein Rest des Unerklärbaren im Bösen. Als Arbeitsdefinition dient W.: »›Böse‹ bezeichnet relativ freie, individuelle oder kollektive Entscheidungen, die dazu führen, anderen Menschen schwere Übel [...] zuzufügen« (5). Das Böse hat sowohl innere als äußere Ursachen, es wird individuell, aber auch kollektiv verantwortet und hier nicht nur hinsichtlich der Absichten, sondern auch bezüglich deren Folgen bedacht. Ein wichtiger von W. hervorgehobener Punkt ist das »Thema des zweiten Bösen« (7): oft wird aus Gründen hehrer Absichten und hoher Ideale versucht, das Böse für immer zu vertreiben. Dies kann, trotz guten Gewissens, zu erheblichen Verbrechen führen. Um nicht in dieses Fahrwasser gelenkt zu werden, entsagt W. dem Bezug auf absolute Wahrheiten oder Maßstäbe: »Ich glaube, dass ich gelegentlich dann das Böse tue oder zulasse, wenn ich es besonders gut meine und versuche, die anderen mit moralischem oder religiösen Eifer zu übertreffen.« (10) Die Perspektive auf das zweite Böse lehrt, dass die Moral selbst Gewalt schaffen kann und deshalb auf ihre Folgen hin abzuschätzen ist.
Im ersten Teil seiner Arbeit sucht W. die Keime des Bösen (13–85) auf. Sie beruhen auf Impulsen, denen man nachgeben kann oder auch nicht, nachdem man sie beurteilt hat. Allerdings warnt W. davor, Menschen ohne boshafte Impulse schaffen zu wollen, denn sie wären der Bosheit anderer naiv ausgesetzt. Damit ist das Böse nicht monokausal bestimmt. Vielmehr kann es sich aus dem be­schriebenen Verschränkungszusammenhang von selbstbestimmter Handlung, dem zweiten Bösen als Folge eines Perfektionismus, sowie eines unergründlichen Einflusses von Natur und Zufall bilden. W. beschreibt verschiedene menschliche Ausdrucksformen als Keime des Bösen, wie: Egoismus, Neugier, Ehrgeiz, Angst vor Fremden, Neid, Hass, Fanatismus. Ich skizziere sein Vorgehen exemplarisch an der Grausamkeit: »Absichtliche Grausamkeit gilt als böse, weil die Absicht, (unerwünschte) Leiden und Schmerzen zuzufügen, als ›teuflisch‹ gilt« (53). So sehr sich hier das Böse als Teil menschlicher Realität erweist, vermerkt W. aber auch die Tatsache, dass viele Schauspiele der Grausamkeit ihr Publikum finden und sich über die Empörung »die Atmosphäre einer Gemeinschaft der Gerechten« (52) bildet. Oder Grausamkeit ist eine Folge indifferenten, nachlässigen oder bequemen Verhaltens. Die Abwägung zwischen »aktiver und passiver Grausamkeit« (56) führt W. zur Zurück­weisung der von Tierschützern oft gemachten Gleichsetzung von Tierfabriken mit Vernichtungslagern, da sie zu einer Verharmlosung des Verbrechens an Menschen führt. Das zweite Böse formuliert W. als Anfrage: »Geht es vielleicht auch hier um einen Frömmigkeitswettstreit [...], in dem sich die Reinsten (die Veganer) über den Rest der Welt erheben?« (57) Sowohl die aktive wie die passive Grausamkeit lassen sich moralisch missbilligen, aber die Hartnä-ckigkeit, mit der das Böse auftritt, zeigt, »dass das Gute nur begrenzt machbar ist und regelmäßig von Gegenkräften durchkreuzt wird« (58). Damit spricht sich W. gegen einen Idealismus im Sinne Platons aus, der mittels eines fixen Maßstabes meint, Gut und Böse eindeutig beurteilen zu können und deshalb in der Gefahr steht, in den Fanatismus abzugleiten. In Anknüpfung an Kant vertritt W. dagegen einen selbstkritischen moralischen Idealismus, der die vitalen menschlichen Interessen berücksichtigt, die Vervollkommnung nur auf die eigenen Person bezieht, aber nicht als Handlung an Anderen, was sich politisch als Plädoyer für eine liberale und rechtsstaatliche Demokratie versteht.
Im zweiten Teil handelt W. von der Etablierung des Bösen (86– 133) etwa durch Verrat, Lebenslüge, Verschwörung, Rache, exzes­-sive Strafen, Marginalisierung, Despotie, Metropole oder Massentötungen. Hier zeigt W., wie sich das Böse durch Wiederholungen beim Individuum einnistet, aber auch den Eingang in Institutionen findet und zu verfügendem Handeln führt. Dieser Gedankengang gipfelt in der Reflexion des Krieges, der als gerechter Krieg bestimmte Regeln beachtet. Dem heiligen Krieg jedoch fallen »mo­ralische Grenzen der Kriegsführung völlig« (130) weg, da man dem höchsten Ziel dient. Von hier aus versteht sich der »Tugendfanatismus« (132) der heiligen Krieger und ihre radikale Missachtung von Pluralismus oder Alterität. Diesen Gedanken weitet W. kritisch auf die Außenpolitik der USA aus: »Großmächte, die sich in einem Krieg gegen Drogen, gegen das Böse und gegen den Terrorismus engagieren, haben sich bereits in das ›zweite Böse‹ verstrickt. Es ist von der Absicht inspiriert, das Böse auszurotten und die Geschichte neu zu machen.« (133)
Der dritte und letzte Teil dieser Untersuchung ist den Gegenkräften des Bösen (134–169) gewidmet. Hier stellt W. die Bedeutung von Größen wie Liebe, Versöhnung, Maß, inneren Abwehrkräften, Tadel und Strafe heraus. Diese Inhalte kann ich aus Raumgründen leider nicht näher referieren. W. stellt sie mit der gleichen Intensität und Vermeidung von illusionären Heilswegen vor, analog zu den beiden vorhergehenden Teilen.
Abschließend stellt er dem sozialistischen Traum der Verbesserung der Lebensbedingungen als Korrektiv gegen das Böse die Denkfigur eines konstruktiven Egoismus entgegen. Er setzt mit dem Verständnis der Liebe als der christlichen Antwort auf das Böse ein, die sich im Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37 ff.) zusammenfasst. Sie steht der menschlichen Selbstermächtigung entgegen, Andere zu bekehren oder durch Terror das Weltgericht zu befördern. Dem stellt der Sozialismus seine Ideale der besseren Gesellschaft ent­-gegen, doch legitimiert er oftmals die Gewalt zum Erreichen der Ziele. Gegen diese Dichotomie eines Entweder-Oder spricht sich W. vehement aus und plädiert – in Aufnahme von Reflexionen Max Stirners – für einen konstruktiven Egoismus. Das überrascht zu­nächst, weil Egoismus gewöhnlich als Schimpfwort gebraucht wird. Doch der hier ins Spiel gebrachte korrektive Egoismus definiert sich nicht »durch die Domination und Schädigung anderer«, sondern »plädiert für Liebe und Zuneigung ohne Aufopferung oder Kapitulation vor den Begehrlichkeiten anderer« (165). Damit ist die Selbstachtung des Individuums gestärkt und mit ihr die Möglichkeit, nach einem erfüllten Leben zu streben. So kann man der »Instrumentalisierung durch andere« (166) widerstehen. Dazu ge­hört auch die radikale »Desillusionierung gegenüber der Absicht, einen ›neuen Menschen‹ zu schaffen und die inneren Faktoren des Bösen auszurotten« (167). Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist Sache des eigenen moralischen Urteilsvermögens und der Herzensbildung, folgt aber nicht aus der Anwendung angeblich absoluter Maßstäbe, wie sie etwa der politische Manichäismus durch die Einteilung der Staaten in Gute und Schurken vornimmt.
W. beschreibt das Gute und das Böse als Teil unserer menschlichen Natur und ihrer Geschichte. Damit gibt es keine philosophischen, wissenschaftlichen, religiösen oder politischen Rezepte gegen das Böse, da es sich selbst in guten Absichten verbergen kann. Deshalb bleibt W. skeptisch gegen alle Heilsversprechen: »Verdächtig sind die großen Attitüden und Versprechen, die Schöpfung zu erhalten und die Menschen ein für alle Mal ›clean‹ zu machen.« (169) Mit diesem Buch hat W. eine begrüßenswert nüchterne Studie vorgelegt, die von der Theologie die Unerklärbarkeit des Bösen übernimmt und sehr genau aufzeigt, auf welche Weise sich die Keime des Bösen etablieren. Für die Entwicklung entsprechender Ge­genkräfte ist die Selbstachtung die entscheidende Grundlage, wo­mit W. aus Gründen der Verantwortungszuschreibung den mo­ralischen Individualismus betont.