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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1237–1239

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rieger, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Menschlich denken – Glauben begründen. Blaise Pascal und religionsphilosophische Begründungsmodelle der Moderne.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2010. XI, 393 S. 23,0 x 15,5 cm = Theologische Bibliothek Töpelmann, 153. Geb. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-024778-7.

Rezensent:

Robert Hugo Ziegler

Vernünftig, rational hat man zu sein – als Wissenschaftler, als Mensch, als Weltbürger sowieso. Die Rationalität steht von nah oder fern bei jeder philosophischen Untersuchung auf dem Spiel, und doch ist es nicht leicht, über dürre Formeln wie »Rationalität ist die Entscheidung bzw. das Handeln nach guten Gründen« hinaus zu einer brauchbaren Bestimmung dieses Selbstverständlichen zu gelangen. Hans-Martin Rieger versucht in seiner Arbeit eine Bestimmung solcher »Rationalität«, und zwar unter der Maßgabe eines Denkens, das dem Menschen in seiner konkreten Situiertheit, seiner Kontingenz und Leiblichkeit angemessen ist. Zugleich entwickelt er diese Bestimmung am Ort des Aufeinandertreffens zwischen einem philosophischen Denken und jener anderen Haltung, die den Verdacht des Irrationalen schwer loswird: dem religiösen, konkret dem christlichen Glauben. Wie lässt sich ein christlicher Glaube – und nicht etwa eine natürliche Theologie – rechtfertigen, d. h. begründen? Diese Gratwanderung, von der her sich beide Seiten – das Denken als ein menschenangemessenes und der Glaube als ein »vernünftiger« – erst abgrenzen und bestimmen, ist nach R. bei Pascals apologetischem Vorhaben vorgebildet und weit ausgeführt.
Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: In einem ersten, etwas kürzeren Teil (1–144) entwirft R. ein »Panorama« begründungstheoretischer Positionen der Moderne. Der Schwerpunkt liegt hierbei deutlich auf der Tradition der analytischen Philosophie, wobei aber auch andere Autoren wie Kant oder Scheler Berücksichtigung finden. Zweck dieses ersten Teils ist es, die Problemfelder zu eröffnen, auf denen ein menschenangemessenes Verständnis von Rationalität sich zu entfalten hat.
Im zweiten Teil (145–361) stellt R. dann ausführlich die Position Pascals dar. Er entdeckt schon in den Diskussionen um die Leere Grundzüge eines differenzierten Rationalitätsbegriffs: Zum einen wird die Falsifizierung von Hypothesen zur wissenschaftlichen Grundregel gegenüber den dogmatischen Ansprüchen einer apriorischen Naturphilosophie; zum anderen unterscheidet Pascal schon dort mehrere Typen von Wissenschaftlichkeit, mit ihren je eigenen Anforderungen. Auch Pascals Berücksichtigung des Affektiven in Bezug auf die Theorie des Überzeugens, seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Erkenntnis des Wesens der Dinge und die Theorie einer Situierung der »Prinzipien« im Leiblichen werden Leitmotive von R.s Interpretation sein, die er bis zu den frühen Texten zur Wissenschaftstheorie zurückverfolgen kann (Kapitel 6). Anhand des Entretien gewinnt R. den vielleicht zentralsten Gedanken der Arbeit: Vernunft muss als eine »für verschiedene epistemische Situationen sensible und über verschiedene Prinzipien verfügende Vernunft« aufgefasst werden (181). Darin liegt zweierlei: Erstens muss Vernunft wesentlich als eine auf sich selbst bezügliche und plurale Weise des Urteilens begriffen werden. Ihre erste Aufgabe besteht dann immer darin, zu entscheiden, welche Kriterien, Maßstäbe oder Hinsichten in einer gegebenen Situation überhaupt Anwendung finden müssen. Dazu muss diese Vernunft aber zweitens bereits einer Pluralität von Ordnungen angehören, auf die sie sich so je beziehen kann. Mit Pascal führt R. hier die drei Ordnungen des Körpers, des Geistes und der (christlichen) Liebe bzw. des Glaubens an. Es entsteht dadurch eine gewisse Unschärfe im Begriff der Vernunft – nämlich zwischen dem »bloß« Rationalen im Sinne der Ordnung des Geistes und der Abwägung der bzw. dem Wechselspiel zwischen den Ordnungen –, die aber in der Natur der Sache liegt. Die Pluralität der Ordnungen bildet bei Pascal freilich keine bloße und unverbundene, »postmoderne« Heterogenität, vielmehr fügen die Ordnungen sich in eine integrierende Hie­rarchie.
Weiter gelingt es R., die Angewiesenheit der Begründung auf solches zu demonstrieren, was jenseits der Verfügungsgewalt des Geistes ist: Körper und Glaube bezeichnen die Grenzen einer bloßen Vernunft, die sie zwar in Kontingenz und Abhängigkeit einbinden, die ihr aber zugleich auch dort Stütze geben, wo sie aus eigenen Kräften zu keiner Gewissheit gelangen kann.
Den Kulminationspunkt dieser Überlegungen bildet die ausführliche Interpretation des Wettfragments (Kapitel 9). Weil er sich dabei nicht, wie es zu oft geschieht, nur auf den »Wettkalkül«, sondern auf das gesamte Fragment stützt, gelingt es R., dessen Sinn verständlich zu fassen. Denn das Wettkalkül dient nur dem Zweck zu erweisen, dass es »vernünftig« wäre, an Gott zu glauben. Die unendliche »Gewinnerwartung«, die kein Kalkül fassen kann, ist dabei gerade das Entscheidende. Die Bekehrung ist aber längst noch nicht geleistet. Denn christlicher Glaube ist nach Pascal und R. gerade nicht etwas, was zu dem Gott der Philosophen noch dazukommt; vielmehr ist der christliche Gott toto coelo vom philosophischen unterschieden, weil die christliche Religion ein komplexer Zusammenhang von Aussagen ist, durch die ihr Gott allererst als jener eine bestimmt wird, der den Gläubigen anspricht, in die Verantwortung nimmt und somit eine persönliche Beziehung von ihm fordert. (Das lässt sich eben nicht auf den Satz »Gott ist« reduzieren.) Und dieser Glaube realisiert und bewahrheitet sich im Vollzug, weswegen Pascal dem, der glauben will, ja auch empfiehlt, sich so zu verhalten, als ob er schon glauben würde.
Eine besondere Stärke von R.s Vorgehen ist, dass er durchgehend das doppelte Absehen des Pascalschen Diskurses aufzeigt: dem christlichen Glauben treu bleiben und zugleich eine autonome philosophische Rede etablieren, die mit jenem in Übereinstimmung steht, ohne in ihn überzugehen.
Die Studie entfaltet so eine Reihe von wichtigen Aspekten, um den schwierigen Titel »Vernunft«, in Bezug auf die Religionsphilosophie und darüber hinaus, näher zu fassen. Aufs Ganze besehen drängen sich im Wesentlichen zwei kritische Nachfragen auf. Zum einen erwähnt R. zwar immer wieder die gnadentheologische Position Pascals, neigt aber in der Durchführung der Analyse dazu, sie zu vernachlässigen. Das liegt sicher auch an der Beweisabsicht: Pascal ist alles andere als ein Irrationalist, das zeigt R. klar auf. Das ändert allerdings nichts daran, dass sein differenziertes und differenzierendes Denken letzten Endes um eine Reihe von Rätseln kreist, von denen das der Gnadenwahl sicher eines der zentralsten ist. Dass Gott von Ewigkeit her seine Erwählten bestimmt hat und dies ohne Ansehen der Verdienste, dass keine menschliche Anstrengung daher zum Glauben und zur rettenden Rechtfertigung gelangen kann, mag uns Heutigen anstößig erscheinen. Gleichwohl nehmen Pascals Denken wie seine Apologetik von dieser Überzeugung ihren (paradoxen) Ausgang. (Der Tendenz R.s entspricht es, dass die Schriften über die Gnade keine Berücksichtigung finden und dass der Begriff der »Aufklärung« in zweifelhafter Weise ausgedehnt wird.)
Zum anderen erweist sich die formale Anlage der Arbeit im Rück­blick als problematisch: Das Panorama des ersten Teils leistet zwar die Einbettung Pascals in gegenwärtige Diskussionen. Doch führt die detaillierte Analyse des zweiten Teils zu einem Ergebnis, das so sicher nicht beabsichtigt war: Pascal zeigt sich vielen der zu Beginn angeführten Positionen in Bezug auf die Charakterisierung von Rationalität und Begründung als himmelweit überlegen. Zumal die dezidiert analytischen Philosophen kommen in einem Vergleich nicht besonders gut weg. So wird die ausführliche Präsentation des ersten Teils gerade durch die Stärken des zweiten in ihrer Zweckdienlichkeit zumindest fragwürdig.