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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1235–1237

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Riccardi, Mattia

Titel/Untertitel:

»Der faule Fleck des Kantischen Kriticis­mus«. Erscheinung und Ding an sich bei Nietzsche.

Verlag:

Basel: Schwabe 2009. 243 S. gr.8° = Beiträge zu Friedrich Nietzsche, 14. Geb. EUR 54,60. ISBN 978-3-7965-2571-1.

Rezensent:

Alexander Heit

Mit dem Buch von Mattia Riccardi liegt eine Studie zur Entwick-lung von Nietzsches Werk vor. Es begreift die Evolution von Nietzsches Denken als sukzessiven Fortschritt bei der Abarbeitung an einer durch die kantische Philosophie vorgegebenen Frage. Da­bei handelt es sich um das Problem der Verhältnisbestimmung von noumenaler und realer Welt. Diese Konturierung setzt R.s Studie von früheren Untersuchungen zu Nietzsches Kantverhältnis ab.
In werkgeschichtlicher Hinsicht übernimmt R. die übliche Dreiteilung und sieht Nietzsche mit jeder Phase ein neues Verhältnis zum Ding an sich gewinnen. Die Denkbewegung münde beim reifen Nietzsche in den Versuch, seine Philosophie von den transzendentalen Überhängen des Kantianismus zu befreien. Das konnte vollständig nur gelingen, indem Nietzsche, wie er sich in der Götzendämmerung formuliert, mit der wahren auch die scheinbare Welt aus dem Repertoire der philosophischen Begriffe abschafft. Wie R. herausarbeitet musste Nietzsche sich also um die Erfindung eines völlig neuartigen Denkschemas bemühen, das ohne den Dualismus von Erscheinung und Ding an sich auskommt. Dass Nietzsche ein solches Paradigma gewinnen würde ist – wie R. zeigt – nicht selbstverständlich.
Vielmehr sieht sich der frühe Nietzsche aus erkenntnistheoretischen Gründen dazu genötigt, ein Ding an sich anzunehmen, auch wenn dieses nicht weiter bestimmbar ist. Diese Einsicht Nietzsches geht nicht auf direkte Kantlektüre zurück. Das Grundmuster kantischer Epistemologie wird ihm durch F. A. Lange zugänglich ge­macht, aber auch durch A. Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Schopenhauers Hauptwerk tritt mit dem Anspruch auf, das für Lange noch unbestimmbare Ding an sich einer Spezifizierung zuführen zu können. Bekanntlich geschieht das, indem es als Wille bestimmt wird. Dieser Wille ist uns nach Schopenhauer einerseits unmittelbar bekannt, wird andererseits aber als unbestimmt Jenseitiges angesprochen. Schopenhauer führt also einen doppelten Begriff des Willens ein und zieht sich deshalb die Kritik des frühen Nietzsches zu, wie Riccardi herausarbeitet. Schopenhauers Versuch, das Ding an sich durch den uns bekannten empirischen Willen näher zu bestimmen, gilt ihm als gescheitert. Nietzsches frühe Affirmation der Differenz von Erscheinung und Ding an sich halte vielmehr an der strengen Unbestimmbarkeit des Noumenons fest.
Damit fällt für Nietzsche auch jede Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft aus und mit ihr die kulturbegründende Kraft des Glaubens an einen absoluten Grund menschlichen Denkens und Handelns. Die Geltung einer Kultur sei also nicht mehr durch Metaphysikbezug zu legitimieren, sondern ist in der Ära nach Kant darauf angewiesen, aus ästhetischen Gründen anerkannt zu werden. Nietzsche stelle deshalb den Anspruch an die Philosophie, zugleich Kunstwerk zu sein, das als solches den Grund einer Kultur abzugeben vermag.
Auf dem Weg zur vollständigen Ablehnung des Dinges an sich in der Spätphilosophie stelle, so R., die mittlere Phase sodann eine Etappe dar, auf der die vollständige Entledigung des Dinges an sich aber noch nicht gelingt. Zwar festige sich Nietzsches Einsicht in die Historizität und Relativität aller praktischen Lebensorientierungen. Religion, Moral und Kunst werden von jedem Bezug auf überhistorische Wahrheit losgekoppelt. In erkenntnistheore­tischer Hin­sicht allerdings schaffe Nietzsche es nicht, sich vom Ding an sich loszusagen. Noch in der 1881 erschienen Morgenröte findet R. den kantischen Dualismus wieder, wenn auch in einer durch A. Bilharz vermittelten Variante. Er bestimme nicht nur die Epistemologie, sondern auch das Wissenschaftsverständnis Nietzsches. Allerdings gebe es dann mit der ein Jahr später erstmals erscheinenden Fröhlichen Wissenschaft einen Versuch, das Ding an sich auch aus der Erkenntnistheorie auszuschalten. War der Er­kenntnisvorgang in Morgenröte noch von einer Einwirkung des Dinges an sich auf das Erkenntnissubjekt abhängig, verliert sich diese Funktion des Noumenons in der Fröhlichen Wissenschaft völlig. Deshalb kann die uns erscheinende Welt den Rang der Wirklichkeit überhaupt erhalten. Allerdings halte Nietzsche zur Be­zeichnung dieser Wirklichkeit am Begriff des Scheins fest, und schon allein diese Tatsache lasse erkennen, dass er die Idee des Dinges an sich, wenn auch unausgesprochen, weiterhin mitführe.
Vollständig verbannt werde es erst mit der Wende zur Spätphilosophie. Der Schlüssel für die endgültige Ausschaltung des kantischen Dualismus liege – das ist R.s These – in der Repristinierung und Umarbeitung von Schopenhauers Willenstheorie. Nietzsches Spätphilosophie sei damit beschäftigt, einen Begriff des Willens zur Macht zu finden, der die Identifikation dieses Willens mit dem Ding an sich, so weit wie möglich zugunsten einer reinen Immanenzontologie zurücknimmt. Dazu habe Nietzsche seiner eigenen Willenstheorie eine relationale Ontologie unterlegt, deren Kernstück ein an A. Spir gewonnener Kraftbegriff ist, wobei Kraft gleichbedeutend mit dem Willen zur Macht sei.
Jedes Ding lasse sich danach vollständig aus denjenigen Relationen begreifen, in denen es steht. Seine Eigenschaften verdankt es dem unaufhörlichen wechselseitigen Spiel der Kräfte zwischen Machtquanten. Diesem Kräftespiel wird – anders als bei Kant – kein Ding an sich mehr zugrunde gelegt. Es ist als rein immanenter Vorgang zu begreifen, der durch das Erkenntnissubjekt aus wechselnden Perspektiven wahrgenommen wird.
Und doch, so R., erliegt Nietzsche in Teilbereichen seiner Spätphilosophie der Versuchung, das Ding an sich zu restituieren. Das geschehe vor allem dort, wo er einer Identifizierung seines Kraftbegriffs mit den Kausalmechanismen der Naturwissenschaften vorbeugen wolle. Der Wille zur Macht fungiere deshalb als ein uns unzugängliches Geschehen, das hinter den naturwissenschaftlich erfassbaren Kräften prozediere. Die Nähe dieses Konzepts zum kantisch gedachten Ding an sich ist unübersehbar und auch der Selbstwiderspruch, den Nietzsche dadurch provoziert.
R. meint jedoch, dieser Widerspruch lasse sich letztlich auflösen, wenn man Nietzsches Vorhaben aufgibt, den Kraftbegriff der Na­turwissenschaften in den der Philosophie einzubetten. Vielmehr müssten beide Zugangsweisen – so der Vorschlag R.s – als zwei differente Perspektiven auf die Wirklichkeit begriffen werden. An­sätze zu einer solchen Lösung seien schon bei Nietzsche selbst zu finden.
Die Studie zeichnet den Denkweg Nietzsches nach, indem sie die Konstellationen, in denen dieser steht, herausarbeitet und den gedanklichen Fortschritt Nietzsches vor deren Hintergrund er­klärt. Gleichzeitig treibt R. offensichtlich ein systematisches Interesse an. Es ist erkennbar, dass er den Versuch des späten Nietzsche, die Philosophie nicht nur von transzendenten, sondern auch von transzendentalen Begründungsmustern zu befreien, mit einiger Sympathie bedenkt.