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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1231–1233

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Tobias, u. Bernhard Dörr[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Realität im Prozess. A. N. Whiteheads Philosophie im Dialog mit den Wissenschaften.

Verlag:

Paderborn u. a.: Schöningh 2011. 267 S. m. Abb. 23,3 x 15,5 cm. Kart. EUR 32,90. ISBN 978-3-506-76963-3.

Rezensent:

Christina Aus der Au

Die deutschsprachige Auseinandersetzung mit dem britischen Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead (1861–1947) begann erst richtig 1981 mit dem ersten internationalen White­head-Symposion in Bonn. Rezipiert wurde seine Prozess-philosophie vor allem in Philosophie und Theologie, wenngleich sie den Ruf behielt, sperrig und mit kontinentalem Denken schwer vereinbar zu sein.
Nun ist eine zweite Welle der Whitehead-Rezeption angebrochen. 2010 wurde die Deutsche Whitehead-Gesellschaft gegründet, deren zweiter Jahrestagung sich der hier rezensierte Band verdankt. Die Herausgeber mit den Jahrgängen 1963 (Dörr) und 1976 (Müller) repräsentieren dabei nicht nur die zweite Generation der deutschen »Whiteheadianer«, sondern streben auch an, die »enormen Ressourcen« (13) des Whiteheadschen Ansatzes im Hinblick auf die philosophische Deutung naturwissenschaftlicher Ergebnisse deutlich zu machen. Sie wollen damit vor allem gegen die Hegemonie einer bestimmten wissenschaftlich-disziplinären Weltperspektive Einspruch erheben. Das erklärt auch die Beschränkung des »Dialog[s] mit den Wissenschaften« auf Physik, Neurowissenschaften und Biologie, welche darauf den zumindest medial wirksamsten Anspruch erheben.
Dieser Dialog ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die Beitragenden sind mit Ausnahme eines Autorenehepaars alles Philosophen, wenngleich einige darunter auch Physik studiert haben. Ob das tatsächlich einen Dialog mit den Wissenschaften darstellen kann?
Die Einführung von Hermann Schrödter ist symptomatisch. Sie beansprucht zwar, mittels Whiteheads an die konkrete Lebenswelt rückgebundener spekulativer Methode die zum Idol gewordenen naturwissenschaftlichen Theorien unserer Zeit zu entthronen. Er tut dies allerdings gar kompliziert, so dass, wer als Whiteheadneuling – und gar als Naturwissenschaftlerin – diesen Band zur Hand nimmt, gut daran tut, mit dem zweiten Aufsatz zu beginnen. Tobias Müller liefert hier eine ausgesprochen gute und klare Darstellung der Whiteheadschen Grundgedanken, die lediglich etwas abrupt endet. – Der Beitrag von Joachim Klose hingegen provoziert schon im Titel die grundlegenden Anfragen: Geht es bei dieser Diskussion wirklich um die Relevanz von Whiteheads Metaphysik für die Quantenphysik und nicht vielmehr für deren philosophische Interpretation? Seine Darstellung der Prozessphilosophie ist zu­dem leider oft ungenau und unklar, so z. B. in seinen Ausführungen, wer was »prehendet«. Und trotz seiner Parforcetour durch Prozessphilosophie, Allgemeine Relativitätstheorie, Quantenontologie und Vielweltentheorie wird der Leserin nicht klar, weshalb »wirkliche Temporalität […] Teleologie und damit Mentalität voraus[setzt]« (78).
Hans Günter Scheuer liefert in seinem Beitrag über Whitehead und die moderne Physik hauptsächlich die Zusammenfassung seiner Dissertation aus dem Jahre 2004 mitsamt einigen Formeln und Bildern. Zwar haben empirische Tests Whiteheads Relativitätstheorie falsifiziert (95), aber Scheuer entdeckt dennoch »eine erstaun­-liche konzeptionelle Übereinstimmung« (104) zwischen Prozessphilosophie und Quantentheorie. Sie besteht allerdings vor allem darin, dass beide holistische Theorien sind, eine gequantelte Wirklichkeit voraussetzen und mit prinzipiellen Unbestimmtheiten einhergehen.
Theodor Leiber hingegen ist selbst zwar kein Neurowissenschaftler, sondern Philosoph und Physiker. Er lotet aber erfreulich nüchtern die Möglichkeiten des Prozessdenkens für die Neurowissenschaften aus. Obwohl Leiber nur indirekte Beziehungen zwischen den beiden sieht, kann er Whiteheads Ereignisbegriff viel abgewinnen. Dieser unterläuft die Dichotomie von Subjekt und Objekt und behält dennoch die Erkenntnisgrenze zwischen der Ersten- und der Dritten-Person-Perspektive bei. Nicht mitgehen will Leiber allerdings, wenn Whitehead dem Geist Erfahrungen zuschreibt, die nicht vom Körper kommen, um so die moralische Verantwortlichkeit zu sichern.
Gernot und Renate Falkner nähern sich Whitehead von der Chemie und der Biologie, in der Hoffnung, damit »den vom Materialismus geprägten Substanzbegriff zu überwinden« (167). Sie sind die einzigen »nur« Naturwissenschaftler und versuchen am Beispiel der Blaualgen zu zeigen, dass auch rein physiologische Prozesse antizipatorisch auf einen potentiell harmonischen Endzustand ausgerichtet und so »letztlich geist- und erkenntnisbestimmt« sind (174). Ihre Teleologie impliziert allerdings anders als bei Whitehead keinen richtungsweisenden Gott, sondern wird durch die Spannung aufgrund von Energiedissipation in den Zellen initiiert.
Auch Bernhard Dörr vertritt die Position, dass Leben »nicht allein durch physiko-chemische Prinzipien angemessen erklärt werden kann« (195). Er übernimmt von Whitehead die »Gegen-Wirkkraft« Vernunft (196), mit welcher sich der Organismus der Perspektive der Neuheit öffnet und die letztlich in Whiteheads Gottesbegriff verortet ist. Eine solche Sichtweise ist anschlussfähig für die von Dörr favorisierte kritische Evolutionstheorie (W. Gutmann), die eine Teleologie und Eigenaktivität der sich entwickelnden Organismen betont.
Tobias Müller untersucht Whiteheads philosophischen Gottesbegriff aus theologischer Perspektive vor dem Hintergrund des Entwicklungsprozesses von Religion als in Formen und Begriffe (Dogmen) gefasste religiöse Erfahrung. Theologie hat die Aufgabe, diese unter heutigen Verstehensbedingungen zu reflektieren und zu modifizieren und ist so schon immer auf den Dialog mit den empirischen Wissenschaften ausgerichtet. Gott ist bei Whitehead dabei ein metaphysischer Grenzbegriff, der nicht deduktiv abgeleitet werden kann und doch für die Theorie konstitutiv ist. Er ist zwar für die christliche Theologie anschlussfähig, es ist aber dann deren Aufgabe, den Bezug zu religiöser Erfahrung herzustellen.
Bernhard Dörr spielt dies zum Schluss am Beispiel christlicher Schöpfungstheologie durch. Seine Absicht ist es dabei, »eine mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht mehr einseh- und einholbare Innenperspektive« (242), und das heißt für den Menschen, das Wovonher und Woraufhin seiner Existenz, rational nachvollziehbar zu machen. Die Rede von einem trinitarisch-kreativen Schöpfergott soll eine »Erklärungsleistung sui generis« darstellen, welcher »der Charakter der Rationalität nicht einfachhin aberkannt werden kann« (256).
Es ist wohl kein Zufall, dass die Herausgeber Theologen und, zusammen mit den meisten anderen Autoren dieses Bandes, katholisch sind. Entgegen dem expliziten Ziel des Bandes, »einen Beitrag für die Erklärung und die Aktualität des Whiteheadschen Denkens zu liefern« (13), sind fast sämtliche Beiträge von der engagiert-apologetischen Absicht geprägt, darzulegen, »dass es alles andere als unstatthaft oder gar irrational ist« (248), eine theologische bzw. teleologisch-kosmologische Deutung der Wirklichkeit als Ganzer zu entwerfen.
Evangelischerseits hätte man sich vielleicht zum einen ge­wünscht, etwas mehr darüber zu erfahren, inwiefern eine prozessphilosophische oder gar -theologische Deutung der naturwissenschaftlichen Ergebnisse den materialistisch-naturwissenschaftli-chen Erklärungsversuchen überlegen ist, und zum anderen, wie der Dialog mit Whiteheads Philosophie die Wissenschaften (inklusive der Theologie) auch auf ihrem eigenen disziplinären Weg wei­terbringen kann.