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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1228–1230

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hühn, Lore, u. Jörg Jantzen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings ›Freiheitsschrift‹ (1927/28) und die Akten des Internationalen Schelling-Tags 2006. Hrsg. unter Mitarbeit v. Ph. Schwab u. S. Schwenzfeuer.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2010. VII, 481 S. m. Abb. 19,4 x 12,1 cm = Schellingiana, 22. Kart. EUR 138,00. ISBN 978-3-7728-2464-7.

Rezensent:

Christian Danz

Die Schelling-Rezeption Martin Heideggers ist zwar von der Forschung oft thematisiert worden, aber man wird kaum sagen können, dass das Verhältnis der beiden Denker abschließend geklärt ist. Im Fokus der bisherigen Untersuchungen stand vor allem Heideggers Vorlesung über die Freiheitsschrift von 1809 vom Sommersemester 1936, welche zunächst 1971 von Hildegard Feick ediert wurde (Martin Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, Tübingen 1971) und dann als Band 42 der Gesamtausgabe (GA) der Werke Heideggers im Jahre 1988 er­schien. Im Zuge des Voranschreitens der Gesamtausgabe der Werke Heideggers wurden mit dessen Vorlesungen aus den 1940er Jahren weitere Texte zugänglich, in denen sich Heidegger mit der Philosophie Schellings und insbesondere mit der Freiheitsschrift auseinandersetzte. Im Sommersemester 1941 hatte Heidegger sich in der Vorlesung »Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zu­sam­menhängenden Gegenstände« (1809) erneut mit Schelling be­schäftigt (GA 49). Die beiden Vorlesungen Heideggers über Schellings Freiheitsschrift aus den Jahren 1936 und 1941 weichen in ihrer Beurteilung von Schellings Philosophie nicht nur voneinander ab, sondern sie dokumentieren auch einen Zugriff auf das Denken des idealistischen Denkers, der mehr über Heidegger selbst aussagt. Heidegger liest die Freiheitsschrift Schellings als eine »Metaphysik des Bösen« und erblickt in der »Seynsfuge« den Schlüssel, welcher den Text aufschließt. Diese Deutung der Schellingschen Schrift darf als das Resultat der werkgeschichtlichen Entwicklung Heideggers verstanden werden, über die wir durch seine frühen Vorlesungen gut informiert sind. Heidegger hatte sich bereits in seiner Marburger Zeit im Wintersemester 1927/28, also im unmittelbaren Kontext der Publikation von Sein und Zeit, in einem Seminar mit Schellings Freiheitsschrift beschäftigt. Diese Seminarunterlagen sind nun in dem von Lore Hühn und Jörg Jantzen unter Mitarbeit von Philipp Schwab und Sebastian Schwenzfeuer herausgegebenen Band Heideggers Schelling-Seminar (1927/28) erstmals zusammen mit Beiträgen zum Verhältnis der beiden Denker ediert worden.
Der anzuzeigende Band bietet neben der Edition von Heideggers Seminarnotizen sowie den Seminarprotokollen und im Se­-minar gehaltenen Referaten neun Aufsätze, welche die Schelling­rezeption Heideggers aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die in den Band aufgenommenen Texte gehen auf Vorträge des von der Internationalen Schelling-Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit der Martin-Heidegger-Gesellschaft e.V. und dem Philosophischen Seminar der Universität Freiburg i. Br. im Jahre 2006 veranstalteten Schelling-Tags zurück.
Eröffnet wird der Band durch einen problemorientierten Beitrag von Lore Hühn mit dem Titel »Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch – der Versuch einer Einleitung« (3-44). Das nicht einfach zu bestimmende Verhältnis zwischen den beiden Denkern versucht Hühn mit der Figur des Anfangs zu erhellen, die sowohl im Werk Schellings als auch Heideggers eine prominente Rolle spielt. Auf diese Weise vermag sie Anknüpfungen Heideggers an Schelling auch noch dort herauszuarbeiten, wo dieser Schelling prima vista energisch widerspricht. Heidegger »beutet die Semantik des Archäologischen und Ursprünglichen metaphorisch derart ungeschützt aus, dass die kritische Anfrage schon erlaubt sein muss, ob Heidegger nicht – schellingscher als Schelling selbst – einer Restitution planen Ursprungsdenkens Tür und Tor öffnet« (33). Günter Figal untersucht die Ambivalenz von Heideggers Schelling-Lektüre, indem er diese in den geistesgeschichtlichen Rahmen zwischen Hölderlin und Nietzsche einordnet (»Schelling zwischen Hölderlin und Nietzsche – Heidegger liest Schellings Freiheitsschrift«, 45–58). Der Beitrag von Jens Halfwassen mit dem Titel Freiheit als Transzendenz (59–80) rekonstruiert die werkgeschicht­liche Entwicklung von Schellings Freiheitsverständnis seit der Freiheitsschrift von 1809, in den Weltaltern und die Philosophie der Offenbarung. Schelling verstehe Freiheit als absolute Freiheit, die »nicht mehr in der Struktur der Subjektivität, sondern in der Transzendenz des absoluten Einen, des Grundes der Subjektivität, fundiert ist« (61 f.). Damit kommt die Schrift von 1809 als eine Übergangsschrift in den Blick, in der der Gedanke einer absoluten Freiheit noch nicht durchgeführt ist. Erst in den Weltaltern und in der Spätphilosophie verfügt Schelling über die begrifflichen Mittel, die Freiheit als Freiheit über dem Sein zu explizieren. Dem komplexen Verhältnis von Schelling und Heidegger ist der Beitrag von Markus Gabriel mit dem Titel »Unvordenkliches Sein und Ereignis – Der Seinsbegriff beim späten Schelling und beim späten Heidegger« ge­widmet (81–112). Gabriel unterzieht beide Spätphilosophien einem strukturellen Vergleich und stellt heraus, dass sowohl Schelling als auch Heidegger einen geschichtlichen Seinsbegriff ausarbeiten, der von dem logischen Seinsbegriff, demzufolge Sein als Bestimmtheit zu fassen ist, nicht nur zu unterscheiden, sondern der auch der grundlegendere sei. Schellings späte Formel von einem unvordenklichen Sein und Heideggers Verständnis des Er­eignisses kommen auf diese Weise als vergleichbare strukturelle Konzeption in den Blick. Dennis J. Schmidt (»On the Tragic: One more Time«, 113–138) und Arturo Leyte Coello (»Zeit-Denken – zu einem nicht-begrifflichen Zugang zur Zeit bei Schelling und Heidegger«, 139–162) wenden sich in ihren Beiträgen dem Tragikverständnis sowie dem Zeitverständnis Schellings und Heideggers zu. Die Kontinuitäten und Veränderungen in den beiden Vorlesungen Heideggers über Schellings Freiheitsschrift untersucht Dietmar Köhler in seinem Beitrag »Kontinuität und Wandel – Heideggers Schelling-In­terpretationen von 1936 und 1941« (163–191). Stufte Heidegger Schellings Freiheitsschrift in der Vorlesung von 1936 noch als einen Höhepunkt der Philosophie des Deutschen Idealismus ein, so fällt sein Urteil fünf Jahre später deutlich gedämpfter aus. Zwischen den beiden Vorlesungen liegt Heideggers Arbeit an seinem erst postum publizierten Werk »Beiträge zur Philosophie« und eine vertiefte Hinwendung zu Hölderlin. Den Leitbegriff von Heideggers erster Vorlesung über die Freiheitsschrift, einer »Metaphysik des Bösen«, nimmt Sebastian Kaufmann als Ausgangspunkt seiner Re­konstruktion von Heideggers Schelling-Deutung (193–226) und Sebastian Schwenzfeuers Beitrag »Natur und Sein – Affinitäten zwischen Schelling und Heidegger« (227–261) bezieht das Gesamtwerk Schellings in seine Analyse des Verhältnisses beider Autoren ein.
Der zweite Teil des Bandes bringt die Erstedition der Protokolle von Heideggers im Wintersemester 1927/28 in Marburg abgehaltener Übung »Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit«. Der Edition der Protokolle ist ein editorischer Bericht vorangestellt, welcher über den Textträger sowie den historischen Kontext und den Inhalt, insbesondere die Referenten und Teilnehmer der Übung informiert (267–317). Der Textteil bietet Notizen Heideggers zu Schellings Freiheitsschrift (321–329), die Protokolle (331–372) sowie die Seminarreferate von Hans Jonas (Das Freiheitsproblem bei Augustin, 373–402), Gerhard Krüger (Kants Lehre von der Freiheit zum Guten und zum Bösen, 403–415) und Walter Bröcker (Das Problem von Freiheit und Grund bei Leibniz und seinen Nachfolgern, 417–433). Heidegger hat sich im ersten Teil der Übung, wie seine Notizen und die Protokolle erkennen lassen, vornehmlich mit Schellings signifikanter Unterscheidung von Grund und Exis­tenz sowie dem Begriff des Ungrundes (der in der Vorlesung von 1936 problematisiert wird) befasst und die Schrift in einer anthropolo­gischen Perspektive gelesen. Gleich das erste von dem Theologiestudenten Werner Bohlsen verfasste Protokoll hält fest: »All diese metaphysischen Zusammenhänge zwischen Grund-sein und Exis­tenzvollzug sind geschöpft aus dem Blick auf den Menschen selbst. Er ist gewissermaßen eine Selbstinterpretation des Daseins überhaupt, die ohne weiteres übertragen wird auf das Ganze des Seienden.« (332) Diese fundamentalontologische Rekonstruktion der Freiheitsschrift, die noch ganz dem Ansatz von Sein und Zeit verpflichtet ist, lassen nicht nur die Protokolle, sondern auch Heideggers eigene Notizen erkennen. Der zweite Teil der Übung weicht dann offensichtlich, wie die Referate zu Augustin, Kant und Leibniz zeigen, von einer reinen Textinterpretation ab. Das Referat von Jonas stellt eine Vorform seiner 1930 veröffentlichten Studie »Augustin und das paulinische Freiheitsproblem« (Göttingen) dar und Krüger, der in seinem Referat Kants Freiheitslehre traktiert, hatte sich 1929 in Marburg mit einer Arbeit über Philosophie und Moral in der Kan­-tischen Kritik habilitiert, die 1931 in Tübingen erschien.
In dem begrenzten Rahmen dieser Besprechung ist es nicht möglich, auf alle Seminar-Protokolle im Einzelnen einzugehen. Deutlich wird jedoch bei der Lektüre der Texte, wie intensiv sich Heidegger mit dem Text Schellings auseinandergesetzt hat. Die sorgfältige Erstedition von Heideggers Seminar-Protokollen sowie die erhellenden Beiträge des Bandes dürfen als ein wichtiger Schritt zur Rekonstruktion des komplexen Verhältnisses der beiden be­deutenden Philosophen gelten.