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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1222–1224

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Warthmann, Stefan

Titel/Untertitel:

Die Katholische Tübinger Schule. Zur Geschichte ihrer Wahrnehmung.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2011. XI, 639 S. 24,0 x 17,0 cm = Contubernium, 75. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-3-515-09856-4.

Rezensent:

Martin Ohst

Echte Geschichtsschreibung unterscheidet sich vom bloßen Faktensammeln dadurch, dass sie zur Begriffsbildung strebt. Die von erkenntnisleitenden Interessen geprägte Begriffsbildung wiederum formt die Gegenstände der Geschichtsschreibung, und darum bedarf die Historiographie der selbstkritischen Reflexion, welche den Gegenständen bzw. den sie bezeugenden Quellen ihr Einspruchsrecht wider die Begriffe erhält. Der Verfasser dieser von M. Seckler betreuten Tübinger Dissertation, Stefan Warthmann, will sich jener Aufgabe in Beziehung auf die »Katholische Tübinger Schule« annehmen.
Als im Zuge der napoleonischen Umgestaltung Deutschlands Württemberg zum Königreich aufstieg, da erhielt es auch beträchtliche katholische Landesteile. Für diese wurde 1812 eine katholisch-theologische Ausbildungsstätte in Ellwangen gegründet und 1817 als katholisch-theologische Fakultät an die Landesuniversität nach Tübingen verlegt. Hier lehrende Professoren wie Drey, Hirscher und der erheblich jüngere J. A. Möhler suchten nach neuen Denkwegen aus einer als aporetisch empfundenen Aufklärungstheologie heraus – auch, indem sie an romantisches Gedankengut, an die idealistischen Systembildungen der Zeit und insbesondere an Schleiermacher anknüpften. Dafür ernteten sie Widerspruch von Seiten der Exponenten der etablierten Aufklärungstheologie. Aber sie gerieten auch in das Feuer entschieden antimoderner, zur Scholastik zurücklenkender Theologieansätze, was insofern besonders unangenehm war, als diese »Ultramontanen« die Hilfstruppen des auch innerkirchlich erstarkenden Papsttums wie die Jesuiten zu mobilisieren vermochten. In diesen Kämpfen und Auseinandersetzungen, in welchen die Frontlinien fortwährend in Bewegung waren, entstand hinsichtlich der katholischen »Tübinger Schule« seit dem zweiten Drittel des 19. Jh.s ein geradezu »babylonisches Sprachgewirr« (2) der darstellenden, deutenden und wertenden Begriffe. Es gab keinen Konsens über die Personen, Publikationen bzw. Publikationsorgane und Thesen, welche die »Tübinger Schule« ausmachten, und die Bewertung war erst recht kontrovers; andersherum: Die positiven und negativen Urteile formten sich jeweils ihren Gegenstand, »ihre« Tübinger Schule. Den einen war sie das Labor, in welchem eine zugleich fraglos katholische und neuzeitfähige Theologie entstand, den andern das Einfallstor des modernen, letztlich im Protestantismus (vgl. z. B. 132.157 f.180) wur­zelnden Unglaubens. Eine Ausnahmestellung nahm Möhler ein; als malleus Protestantium und damit als Begründer eines auf neuartige Weise historisch fundierten katholischen Selbstbewusstseins genoss er eine Hochschätzung, welche die Parteigegensätze unter sich ließ und langfristig Wege zur Integration wies.
Diese Prozesse will der Vf. begriffs- und rezeptionsgeschichtlich durchdringen und ordnen, vom zweiten Jahrzehnt des 19. Jh.s an bis in die Vorgeschichte des II. Vatikanischen Konzils hinein, im deutschen wie englischen und vor allem im französischen Sprachraum, im Katholizismus wie im Protestantismus. Als Basis dient ihm dabei jedoch nicht eine – wie skizzenhaft auch immer gearbeitete – eigene Darstellung der zur Debatte stehenden Personen, Beziehungsgeflechte und Thesen, sondern lediglich der leitmotivische Hinweis auf die einschlägigen Untersuchungen seines Lehrers und Doktorvaters (Grundthesen in Kürze z. B. 67–69), »deren Kate­gorien in der vorliegenden Arbeit als Kriterien für die Darstellung und Darstellung der Rezeption der Schule« nun allerdings nicht nur »dienen«, sondern zugleich auch noch »überprüft« werden sollen (6). Man fragt sich, wie das gehen soll, und in der Tat: Den geradezu akrobatisch anmutenden zweiten Teil seines Programms, also die Prüfung von Kategorien anhand des Rückgriffs auf diese selbst, kann der Vf. nicht einlösen. So bietet das umfangreiche Buch eine allerdings letztlich nirgends wirklich zentrierte Riesenfülle von Material, an dem sich in immer neuen Wendungen und Windungen die wechselseitig ineinandergreifenden Prozesse der Wahrnehmung und der Begriffsbildung, der Ausarbeitung und der argumentativen Verwendung von Deutungen ablesen lassen – mitsamt deren näheren und entfernteren Bedingungskonstellationen, die in der Papst- und Weltkirche des römischen Katholizismus mit ihren eigentümlichen Machtstrukturen und Beeinflussungsmöglichkeiten eben noch einmal weitaus verwickelter waren und sind als im evangelischen Milieu. Man lernt also sehr viel über die Entstehungsbedingungen theologiegeschichtlicher Wahrnehmungen und Urteile und gerät immer wieder ins Grübeln über ähnliche und unähnliche Vorgänge im protestantischen Bereich. Eigentlich theologiegeschichtliche Einsichten sind dagegen dünn gesät: Immer wieder werden beispielsweise die unterschiedlichen Hypothesen darüber referiert, ob und in welcher Weise Johann Sebastian Drey Anregungen von Schleiermacher empfangen und verarbeitet hat. Aber mit seinem eigenen Urteil in dieser und in vielen anderen verwandten Fragen hält der Vf. nicht nur hinter dem Berg, sondern er bekundet eine eigentümliche historiographische Skepsis, welche dem Fragen gerade dort Einhalt gebietet, wo es anfängt, interessant zu werden:
»Die Motive, die Lösch, Adam oder Geiselmann zu ihren Selbstidentitätskonstruktionen der Katholischen Tübinger Schule treiben, sind kaum zu ergründen, dazu kann lediglich spekuliert werden, ob sie sich aus dem Bewusstsein um eine theologische Erneuerung nach den Kontroversen des 19. Jahrhunderts nähren, aus der Befürchtung, dass die Theologie sich regressiv entwickeln und damit ihren Status einer Wissenschaft gefährden könnte; ob sie auf dem Hintergrund der kirchenpolitischen Kampffelder des Kulturkampfs entstehen oder aus dem Wunsch, eine Theologie zu konzipieren, die dem sicher noch stark vorhandenen romantischen Gefühl gerecht wird und in Dialog mit der idealistischen Denkform treten kann, oder einfach nur aus dem Bedürfnis, sich als Theologe zu profilieren.« (178)
Dieses Zitat, in mehr als einer Weise repräsentativ, zeigt, warum dieses Buch jedenfalls für einen Leser, der es mit ganz herkömmlichen, altmodischen theologiegeschichtlichen Interessen zur Hand nimmt, letztlich doch unergiebig bleibt: ein Stück Forschungsliteratur, das ältere Forschungsliteratur verbucht und präsentiert, ohne den Forschern wirklich bei der Arbeit über die Schultern zu schauen und deren Arbeitsergebnisse dann wiederum exemplarisch der Prüfung an den Quellen zu unterziehen.
Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass der Vf. sich mit einer kaum übersehbaren Vielzahl von heterogenen Quellen herumplagen musste. Unter diesen Bedingungen hätte es durchaus nahe gelegen, sich auf die in diesem Zusammenhang eigentlich wichtigen innerkatholischen Debatten zu beschränken. Aber so ist der Vf. nicht verfahren und muss sich deshalb fragen lassen, warum er zwar im 19. Jh. A. Twesten (79–81) sowie in der Gegenwart Fr. W. Graf, U. Köpf und R. Rieger heranzieht, aber beispielsweise den engagierten Katholizismus-Experten Friedrich Nippold (1838–1918) keiner Erwähnung würdigt, der als Geschichtsschreiber wie als Zeitgenosse das Ergehen der Tübinger Theologie und ihrer einzelnen Exponenten mit reger Aufmerksamkeit und mit sehr dezidierten Urteilen begleitet hat (vgl. z. B. ders., Handbuch der neuesten Kirchengeschichte, Bd. 2, Elberfeld 31883, 645–666).