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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1221–1222

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Thaidigsmann, Edgar

Titel/Untertitel:

Einsichten und Ausblicke. Theolo­gische Studien. Hrsg. v. J. von Lüpke.

Verlag:

Berlin/Münster: LIT 2011. IX, 495 S. 23,5 x 16,0 cm = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 61. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-11385-6.

Rezensent:

Martin Hailer

Der Band erschien zum 70. Geburtstag von Edgar Thaidigsmann, der 2006 an der Pädagogischen Hochschule Weingarten emeritiert wurde, und enthält 27 Aufsätze aus den Jahren 1982-2010. Sie zeigen vielfältige Facetten eines systematisch-theologischen Denkens, das der kritischen Erschließung der Theologie Karl Barths und Hans Joachim Iwands verpflichtet ist, dies auf originelle Weise mit Adorno-Lektüren verbindet und daraus Interpretationsmuster für eine kritische theologische Begleitung von Gegenwartsphänomenen gewinnt.
Eine erste Reihe von Studien befasst sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Theologie, vor allem anhand der messianisch inspirierten und überaus vorsichtigen philosophischen Theologie Theodor W. Adornos.
Der Vf. nimmt die Minima Moralia und dann vor allem das Spätwerk (Negative Dialektik, Ästhetische Theorie) in den Blick. Adornos stetige Auseinandersetzung mit Hegel wird herausgearbeitet und hieran die Eigenart des Adornoschen Diskurses deutlich gemacht: Er zielt auf eine Dialektik, die nicht das Subjekt als wissendes inthronisiert, sondern die trotz aller erkenntnistheoretischer Bedingtheit den Vorrang des Objekts wieder lernen will (90 u. ö.). Das ist Denken aus der Umkehr heraus, wissend, dass man das Objekt als Objekt nur sein lassen, nicht aber begreifen kann. An diesem Punkt macht der Vf. eine grundständige Nähe zur frühen dialektischen Theologie aus: Ganz analog sucht Barth den unmöglichen Beginn der Theologie im stets wiederholten Einschärfen, dass die Sache der Theologie kein Gegenstand des Wissens, sondern selbst Subjekt ist. Die Nähe zu Heideggers Spätwerk wird gesehen (240 ff.), Adorno aber nicht vorgehalten, der sie sich mit seiner Polemik »Jargon der Eigentlichkeit« eher vom Leibe hielt als sie wirklich zu bearbeiten. Der Vf. markiert mit der Christologie den Punkt, an dem die Analogie zwischen Adorno und Barth zu schwinden be­ginnt (98). Neben vielen Details machen diese Studien deutlich, dass Adorno im Mittelpunkt des gegenwärtig wieder erstarkenden Interesses an Negativer Theologie stehen sollte, das von ihm noch sehr wenig Notiz nimmt.
Ein weiterer Kreis von Studien besteht aus Arbeiten zu Martin Luther und Hans Joachim Iwand. Der Vf. hat im Rahmen seines Engagements für die Iwand-Stiftung u. a. die Neue Folge der Nachgelassenen Werke Iwands betreut und teils herausgegeben. Die entsprechenden Aufsätze geben verlässliche Orientierung in einem nach wie vor zu wenig erschlossenen Werk und positionieren u. a. den Lutheraner Iwand in Nähe und Distanz zu Karl Barth (217 ff.). Zwei im Abstand von 20 Jahren entstandene Barth-Studien (159 ff. 432 ff.) zeigen ein treffliches Gespür für die Eigenart von Barths Raisonnement in der Anfangsphase (160–166) und eine gewisse Zu­rückhaltung gegenüber dem Denkstil in der KD, den der Vf. auf dem Weg zur »Stillstellung« sieht, also zu einem Gestus des Wissens, der der Kritik der eigenen Frühzeit wohl nicht entkäme (444).
Der Band enthält des Weiteren einige gegenwartsdiagnostische Aufsätze, so etwa zum Narzissmus als Signatur der Gesellschaft in der zweiten Moderne (452 ff.) oder – hier zeigt sich der Theologe an einer Pädagogischen Hochschule – zur impliziten Anthropologie von Bildungsplänen (359 ff.). Auch das nach wie vor kaum er­schlossene bib-lische Spätwerk von Leonhard Ragaz nach der Rück-gabe seiner Zür­-cher Professur im Jahr 1921 wird dargestellt und aus der Umklammerung befreit, nur das aus Ragaz’ Werk, was in die Vorgeschichte der dialektischen Theologie gehöre, sei lesenswert (413–431).
Die Hermeneutik, die diese thematisch ungemein vielfältigen Aufsätze zusammenspannt, wird im ersten Beitrag umrissen und dann stets angewandt: Theologie handelt nicht von »Sondergegenständen«, sondern sie sucht Welt und Mensch in dem Licht zu sehen, das vom Evangelium her auf sie fällt (3–22). Theologie ist »Einübung in ein Sehen, das Menschen, Verhältnisse und Dinge […] in ihrer Aufgehobenheit« in Gottes Handeln und Präsenz zu sehen vermag (180).
Zu Iwand bemerkt der Vf.: »Er schreibt eine systematische Arbeit am historischen Gegenstand.« (208) Für die überwiegend theologie- und philosophiehistorisch angelegten Studien dieses Bandes gilt das ganz gleichermaßen. Nie handelt es sich um nur philologische Arbeiten, stets ist die Arbeit an der gegenwartsdiagnostischen Aufgabe der Theologie zu spüren. Dass durch die geduldigen Lektüren von Luther, Hegel, Adorno, Iwand und den anderen die ›Sehschule‹ in Sachen Aufgehobenheit vorankommt, rechtfertigt allererst den Rückgang zu ihnen und geschieht also in gegenwärtiger Verantwortung.
Das Schriftenverzeichnis des Vf.s (487–493) rundet den bemerkenswert sorgfältig gestalteten Band ab und erhöht seinen Ge­brauchswert. Wer an der kritischen Weiterschreibung der Wort-Gottes-Theologie, ihrer Verortung im Gespräch mit der Philosophie und ihrer gegenwartsdiagnostischen Kompetenz interessiert ist, wird von ihm reich belehrt werden.