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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1216–1217

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mißfeldt, Antje [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti.

Verlag:

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011. 274 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-412-20689-5.

Rezensent:

Martin Brecht

Der Titel weist mehrfache Spannungen auf. Als Autoren werden der Literaturwissenschaftler Marti und der Kirchenhistoriker Blaufuß genannt, die sich zum 60. bzw. 70. Geburtstag sozusagen über Kreuz mit einer dedizierten Publikation zum gleichen Themenkomplex beehren. Marti steuert sieben Beiträge gesammelt bei, die an verstreuten Stellen bereits früher veröffentlicht worden sind. Aber nun­mehr werden sie in ihrer gemeinsamen spezifischen In­tention er­kennbar. Und das ist gut so, denn auf diese Weise werden als eine sonst zumeist verborgene Eigentümlichkeit des Pietismus seine Beziehungen zur hergebrachten Frömmigkeit und Wissenschaft sichtbar. Beim letzten Stück handelt es sich übrigens um eine Edition, nämlich von Arnolds Wittenberger Dissertation von 1687 über die Engelsprache, zugleich seiner ersten, noch weitgehend, aber nicht völlig konventionellen Veröffentlichung. Von Blaufuß wird die Offenhertzige Bekäntniß/ welche Bey unlängst geschehener Verlassung eines Academischen Amtes abgeleget worden von 1698 vorgelegt, also Arnolds Begründung seines Aufsehen erregenden Rücktritts von seiner Geschichtsprofessur in Gießen und mithin eine seiner exponierten Äußerungen. Unschwer er­kennbar ist die Spannung zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft, die im Haupttitel angelegt ist. Sie verbindet ihrerseits thematisch die Beiträge des Bandes und belegt damit das gleichgerichtete Interesse der beiden Autoren.
Marti ist es in seinen anspruchsvollen und darum auch nicht ganz einfach zu studierenden Aufsätzen darum zu tun, gängige, aber falsche Alternativen zu verunmöglichen. Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus be­hauptet in einem stattlichen Beitrag (15–76) sogleich, dass auch die angeblich auf alles weltliche Gepränge und Vergnügen verzichtende geistliche Rede sich sehr wohl und angebbar der Mittel und Gesetze der Redekunst bedient, auch wenn dies von ihren Autoren nicht eingeräumt wurde. Die Wissenschaft selbst wird zu diesem Zweck gewissermaßen bekehrt und der Heilige Geist gilt als der Lehrer. Als Autorität kann sich Arnold dabei schon auf Sebastian Franck berufen. Neben anderen macht sich bei Arnold auch immer wieder der Einfluss des innerhalb der Geschichte des Pietismus noch nicht präzise genug verorteten Pierre Poiret bemerkbar. Der Mensch mit seiner Rede wird als Werkzeug Gottes begriffen und so sein eigentliches Tun beschreibbar. Arnolds Auffassung erweist sich dabei als der Mystischen Theologie verpflichtet, die dann auch seine Lyrik sowie seine Predigtlehre prägt. Der Rückgriff auf die spätmittelalterliche deutsche Mystik, vor allem Tauler, kann so kaum mehr überraschen. Dem Verfasser ist für den Aufweis der Beziehungen und die Vielfalt der Impulse jedenfalls zu danken. Manche der Belege stammen aus der Kenntnis des Katalogs von Arnolds Bibliothek.
Zwei Aufsätze sind dem Verhältnis des Spiritualismus zur Utopie gewidmet. Aus dem Interesse an der Fassbarkeit des wiedergewonnenen Paradieses lokalisiert Arnold es im Inneren der Seele. Die Herzensgemeinschaft der Erleuchteten bleibt dabei aber Utopie. Auch den inneren Frieden hat Arnold auf dieselbe Weise internalisiert, während derselbe Zustand bei Johann Konrad Dippel eschatologische Utopie bleibt. Unter den weiteren Gewährsleuten hätte man hier auf Oetinger eingehen können.
Marti war schon lange daran gelegen, auf die nicht gerade selbstverständlichen Beziehungen des Pietismus zur katholischen Seite aufmerksam zu machen. Dies wird hier ausgeführt an den Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold. Der Untertitel benennt erwartungsgemäß die konfessionalistische Ab­grenzung, daneben aber auch mystisch-spirituelle Solidarität. Im­merhin trug das Andachtsbuch von Hermann Hugo (SJ) schon vor Speners Schrift den Titel Pia Desideria. Die tatsächlich vorhandene Gemeinsamkeit besteht in der Wertschätzung der mystischen Theologie. Arnold war unter anderem Einschlägigen das Nachschlagewerk von Maximilian Sandäus (SJ) zur mystischen Theo­logie be­kannt. In der Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie herrscht zunächst die kontroverstheologische Ablehnung der Jesuiten vor. Irenischer wird ihr Beitrag zum Quietismus und zur mystischen Theologie beurteilt, was übrigens auch für weitere von Arnolds pietistischen Zeitgenossen gilt. Während aber Sandäus von der Übereinstimmung von Mystik und Scholastik ausging, suchte Arnold hier zu differenzieren. Wiederum war es Poiret, der Arnold bei dieser Rezeption positiv beeinflusst hat.
Wie August Hermann Francke und einmal mehr Poiret hat auch Arnold die ebenfalls an sich katholische Frömmigkeitsrichtung des Quietismus Miguel de Molinos’ geschätzt und diesen sogar ediert. Die gemeinsame Basis bestand wiederum in der mystischen Theologie. Das Werk de Molinos’ gilt als Ruhepol für die Frömmigkeit Arnolds und er selbst als dessen Vorbild. Arnolds historiographische Toleranz ist aufgenommen in der Literargeschichte von Jakob Friedrich Reimmann (6 Bde., Halle 1708–1713), der neben seinem Pietismus auch bereits vom frühaufklärerischen Rationalismus be­stimmt war. Man hat hier einen sonst kaum bekannten Ausläufer der Wirkungsgeschichte von Arnolds Kirchen- und Ketzer-Historie vor sich.
Die Edition von Arnolds Bekäntniß belegt, wie es den radikalen Pietisten hinausgetragen hat aus der historischen Arbeit und der überkommenen Kirchlichkeit. Die Aufsatzsammlung zeigt aber, dass das nicht einfach Separation und Isolation bedeutete, sondern auch neue überkonfessionelle Partizipation – gewiss ein anregender Aspekt.