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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1213–1214

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Boeve, Lieven, Depoortere, Frederiek, and Stephan van Erp[Eds.]

Titel/Untertitel:

Edward Schillebeeckx and Contemporary Theology.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2010. XXXIV, 297 S. gr.8° = T & T Clark Theology. Geb. £ 65,00. ISBN 978-0-567-18160-2.

Rezensent:

Martin Hailer

Der anzuzeigende Band dokumentiert ein Symposion an der Ka-­tholischen Universität Leuven (Belgien) vom Dezember 2008 und erschien, nachdem Edward Schillebeeckx OP im Dezember 2009 im Alter von 95 Jahren verstarb, als Gedenkschrift. Die Beiträger des durchgehend englischsprachigen Bandes kommen aus dem nie­derländischen, französischen, englischen und deutschen Sprachraum und dokumentieren internationale Aspekte der Schillebeeckx-Rezeption aus katholischer Sicht. Hierin liegt die Bedeutung des Bandes für die deutschprachige Theologie, in der Schillebeeckx vor allem durch den Band »Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden« (1975, orig. 1974) bekannt wurde, wobei den nachfolgenden Übersetzungen von nicht wenigen Büchern und Aufsätzen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit wohl nicht gänzlich zuteil wurde.
Das Themenspektrum des Bandes ist – was mit Blick auf Um­fang und Themenvielfalt von Schillebeeckx’ Werk nicht verwundert – weit. Kontrovers diskutiert werden zum Beispiel die fundamentaltheologischen Aspekte. Hierzu ist, wie der Beitrag des ersten Herausgebers (1-22) deutlich macht, zwischen dem ›frühen‹ und dem ›späten‹ Schillebeeckx zu unterscheiden. Der frühe optiert in deutlich erkennbarer Nähe zu Karl Rahner für ein transzendentales Verständnis von Religion als zum Wesen des Menschen gehörig und entsprechend für eine Fassung der natürlichen Theologie, die einem Gottesbeweis zumindest nahekommt. Im Rahmen des er­wähnten Jesus-Buchs, seinerseits Band 1 einer Trilogie, wendet Schillebeeckx sich davon ab und geht von dem Phänomen aus, dass die Evangelien das Leben Jesu in erzählerischer Form darstellen. Entsprechend handelt es sich um eine partikulare Weltsicht, deren Wahrheit nicht vorgängig demonstriert werden kann. Diese erzähltheoretische Wendung wird kontrovers bewertet: Anthony J. Godzieba (25–35), Frederiek Deporteere (36­–48) und Stephan van Erp (209–223) halten sie für angesichts des neuen Atheismus falsch und bewerben entsprechend Variationen des transzendentalen Arguments. Hans-Joachim Sander (162–183) hingegen sieht genau darin eine Stärke: Nur der erzählerische Charakter des Evangeliums, so sein Argument, ermöglicht es, ungeahnte Momente der Präsenz Gottes in der Welt auszumachen.
Für die Theologie der Religionen hatte Schillebeeckx das Stichwort geliefert, dass Gott größer sei als alle Religionen es zu fassen vermögen. Die Beiträge des Bandes dazu (Gemma Tulud Cruz, 85– 97; Jean-Louis Souletie, 98–108) lassen freilich nicht erkennen, ob seine Arbeiten zum Thema in systematischer Weise eine Rolle in der gegenwärtigen Theologie spielen. Ähnliches gilt für den Ab­schnitt über politische Theologie. Nicht selten im Band wird auf ein geflügeltes Wort Schillebeeckx’ Bezug genommen (»alles ist po­litisch, aber Politik ist nicht alles«), ob dies aber zu einer systema­tischen Rezeption führt, wird im Beitrag von Jürgen Manemann (67–81) nicht deutlich, weil es sich um einen allgemeinen Überblick über gegenwärtige politische Theologie handelt. Vincent J. Miller allerdings steuert mit Blick auf den US-amerikanischen Wahlkampf von 2008 interessante Aspekte bei, warum Schillebeeckx’ ekklesiozentrische politische Theologie unter gegenwärtigen Be­dingungen an Plausibilität verlieren dürfte: Zunehmend wird politischer Einfluss durch Kampagnen ausgeübt, zu denen eine (Groß-) Institution nur eingeschränkt in der Lage ist (51–66, bes. 62–66).
Beiträge von drei Theologinnen widmen sich der Thematisierung des Leids in Schillebeeckx’ Theologie. Sie beziehen sich auf sein Konzept der »negativen Kontrasterfahrung«. Es besagt, dass es wohl aussichtslos ist, eine allgemeine Theorie des Menschen aufzustellen. Gleichwohl tritt in verschiedensten Kontexten im Blick auf Leiden unverstellt hervor, was das Humanum beleidigt und verletzt, so dass eine Anthropologie via negationis entsteht, die dann doch zur Formulierung von anthropologischen Konstanten gelangt (136–138.261). Mary Catherine Hilkert (127–141) stellt das Konzept bündig vor, diskutiert mögliche erkenntnistheoretische Einseitigkeiten und zeigt, wie Schillebeeckx es mit dem Humanum Gottes selbst, also dem Leidensweg Christi verbindet. Mit Blick auf die damit verbundene Leidensmystik steuert Elizabeth Kennedy Tillar interessante Aspekte bei (142–160). Die ökofeministischen Adaptionen des Konzepts, von denen Kathleen McManus berichtet, zeigen einleuchtend, dass die Thematisierung des Leidens immer kontextualisiert erfolgen muss. Sie lassen zugleich fragen, ob sie, etwa in der Lesart von Beverly J. Lanzetta oder Ivone Gebara, der Gefahr eines feministischen Essentialismus wirklich entkommen, der Schillebeeckx’ Intuition, es gehe um das Humanum überhaupt, beschädigen würde. (111–126, bes. 122–125)
Die für Tagungsbände kaum zu vermeidende Disparatheit der Beiträge stand den Herausgebern wohl klar vor Augen. Nicht nur eine ausführliche Einleitung (XVII–XXXIV), sondern nicht weniger als drei rückblickende Aufsätze machen den Band als Ganzen be­nutzbar. Unter letzteren ist vor allem der Beitrag des Schillebeeckx-Schülers Robert J. Schreiter bemerkenswert (252–264): Bündig benennt er fünf Themenbereiche, für die die weitere Erschließung von Schillebeeckx’ Werk weiterhin von Bedeutung sein dürfte: Theologische Methode, Gotteslehre, das Humanum, die soziale Dimension und das Leiden. In dieser breiten Streuung zeigt sich das Spezifikum des weitergehenden Interesses an dieser Rezeption: Zu Zeiten verengender Tendenzen (Hinweis von Kathleen Dolphin, 267) darauf zu bestehen, wie vielfältig und offen – und damit katholisch im Sinne des Wortes – römisch-katholische Theologie sein kann.
Erstaunlicherweise spielen die ökumenischen Aspekte des Werkes von Schillebeeckx bei diesem Plädoyer keine Rolle. Ihre Existenz ist aber völlig offensichtlich: Seine explizite Wendung hin zu einer erzähltheoretischen Konzeption des Evangeliums brachte Schil­-lebeeckx in deutliche Nähe zur Fundamentaltheologie der Yale School (H. Frei, D. Kelsey, G. Lindbeck u. a.), auch baute sein Plädoyer für eine transsignifikative Auslegung der Realpräsenz im Herrenmahl und seine Kritik am Pflichtzölibat Brücken zu nicht-römischen Theologien, wofür er Kritik aus dem Vatikan in Kauf nahm. Diese Aspekte der Schillebeeckx-Rezeption sind also noch zu schreiben – und weiterhin als Aufforderung zu theologischer An­strengung zu hören.
Beigegeben sind Bibliographien und Indizes (273–297, Gesamtbibliographie unter www.schillebeeckx.nl/bibliography) sowie der Brief von Schillebeeckx an die Konferenzteilnehmer (XIV f.) und das ihm gewidmete Gedenkblatt (X–XIII), wodurch der Band zu einem Arbeitsbuch für die weitergehende Rezeption seines Werkes wird.