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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1210–1211

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reichert, Ernst-Otto

Titel/Untertitel:

Amsdorff und das Interim. Kommentierte Quellenedition mit ausführlicher Einleitung. Nach d. maschinenschriftlichen Manuskript d. Dissertation aus d. Jahre 1955 digital erfasst, f. d. Druck eingerichtet u. um Register u. bibliographische Nachträge ergänzt u. hrsg. v. H.-O. Schneider.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 295 S. 23,0 x 15,5 cm = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 14. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-374-02984-6.

Rezensent:

Friedrich Christoph Ilgner

Selten kommt es vor, dass die Drucklegung einer Dissertationsschrift nach nahezu 60 Jahren freudig begrüßt werden kann. Der Verfasser Ernst-Otto Reichert (1916–1979) – der Herausgeber liefert R.s tabellarischen Lebenslauf samt Foto – reichte sie 1955 an der Martin-Luther-Universität Halle ein. Im Jahre 1964 folgte seine Habilitation mit einer Arbeit über Angelus Silesius in Münster; dort war er seit 1970 Inhaber einer Kirchengeschichtsprofessur. Aus unbekanntem Grund hat er für eine Edition seiner Dissertationsschrift selbst nicht sorgen können.
Neben der einstmals schwer zugänglichen und schlecht lesbaren maschinenschriftlichen Fassung liegt nunmehr eine Druckfassung der gesamten Dissertationsschrift mit allen vorgestellten Verzeichnissen nach heutigen Standards vor. Der Herausgeber ist im Zusammenhang seiner Tätigkeit beim Editionsprojekt »Controversia & Confessio«, das die Akademie der Wissenschaften und Literatur der Universität Mainz unter Leitung von Irene Dingel veranstaltet, auf die schlecht zugängliche Schrift R.s gestoßen. Diese Arbeit bleibt für die Erforschung Amsdorffs und der interimistischen Streitigkeiten insgesamt von Bedeutung, wenngleich die Charakterisierung des Herausgebers als »Standardwerk der Amsdorff-Forschung« (5) vielleicht etwas zu hoch greift.
Die Arbeit R.s umfasst zwei Teile: eine Einleitung (A) (47–164) und die kommentierte Edition handschriftlicher Texte (B) (165–280). R. versteht sie als Beitrag zum Desiderat einer wissenschaftlichen Amsdorff-Biographie. Entsprechend sucht seine ungewöhnlich umfängliche Einleitung (A) den spezifischen Ertrag seiner Textedition (B) in eine biographische Darstellung einzubetten. Für die Jahre 1546–1552 wird der Lebenslauf Amsdorffs, für den R. fast ausschließlich Sekundärliteratur benutzt, schwerpunktmäßig er­weitert. Ins Blickfeld treten so Amsdorffs Stellung zum Schmalkaldischen Krieg, seine Auseinandersetzung mit Melanchthon über das Augsburger Interim und seine Ablehnung des »Leipziger Interims«. Gelegentlich verliert R. den Bezug auf Amsdorff, wenn er sich z.B. in der Vorgeschichte des Schmalkaldischen Krieges, dem sächsischen Feldzug, der Konstituierung des Augsburger Interims, den Meißner Verhandlungen oder den sächsischen Landtagen verliert. Vage bleibt auch sein Versuch, Amsdorffs Rolle zu würdigen. Einerseits bestünde das verbreitete Urteil, in Amsdorff einen Exponenten orthodoxer Erstarrung zu erblicken, »bis zu einem gewis sen Grade zu Recht« (54). Andererseits wird man, so R., »von den unbestreitbar vorhandenen unschönen Begleiterscheinungen ab­sehen können und das We­sentliche an seinem Kampf für die Rein­erhaltung des Evangeliums und Bewahrung vor aller Überfremdung erkennen« (164). Neuere Arbeiten sind, was bei dem zeitlichen Abstand nicht weiter verwunderlich ist, über den Stand, den R. bietet, längst hinaus.
Von bleibender Bedeutung sind dagegen die insgesamt 16 Texte (B) von 1546–1553 aus dem handschriftlichen Nachlass Amsdorffs, der im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar liegt. Außer zweien (V. und VI.) sind sie noch nicht im Druck erschienen. Der von R. im Titel apostrophierte Kommentar entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Anmerkungsapparat, der in der Regel die Angabe von Bibelstellen, Querverweisen zu anderen Amsdorff-Schriften, Lutherzitaten oder Sekundärliteratur, aber nur sehr selten brauchbare Deutungen oder Wertungen liefert.
Die Entscheidung des Herausgebers, die vollständige Dissertationsschrift R.s abzudrucken, wirft da Fragen auf, wo die Forschung schon deutlich über ihn hinausgegangen ist. So ist es fraglich, ob das nicht ganz einwandfreie Inventarverzeichnis der Weimarer Amsdorffiana und R.s Bibliographie der Amsdorff-Schriften nochmals abzudrucken waren, da doch vervollständigte, erweiterte und verbesserte Fassungen längst vorliegen. Das Literaturverzeichnis R.s hat der Herausgeber im Anhang bis in die Gegenwart erweitert sowie Personenregister, Ortsregister und Bibelstellenregister angefügt. Stichproben im maschinenschriftlichen Original haben ergeben, dass die digitale Erfassung gelungen ist.