Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1204–1206

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wong, Eric Kun Chun

Titel/Untertitel:

Evangelien im Dialog mit Paulus. Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern.

Verlag:

Göttingen/Oakville: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 201 S. 23,2 x 15,5 cm = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 89. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-525-53037-5.

Rezensent:

Detlev Dormeyer

Eric Kun Chun Wong ist Professor der Divinity School an der Chinesischen Universität Hong Kong. Sein Buch ist die Frucht eines postdoktoralen Aufenthalts bei Gerd Theißen, Heidelberg. Das Werk hat vier Kapitel: 1. Einleitung (9–60), 2. Das Echo des Paulus im Markusevangelium (61–106), 3. Das Echo des Paulus bei Matthäus als verdeckte Polemik (107–130), 4. Das explizite und implizite Echo des Paulus bei Lukas in Apg 13 und Lk 18 (131–168). Die Überschriften verraten deutlich, dass W. mit dem neuen Konzept der Intertextualität arbeitet.
Kapitel 1 erläutert dieses Konzept. Zunächst wird ein knap-per Überblick über Literarkritik, Redaktionsgeschichte, Formgeschichte und Sozialgeschichte geboten. Dann folgt die Darlegung der »Intertextualitätsforschung«. W. orientiert sich an den sechs Skalen, die der Anglist Manfred Pfister aufgestellt und die Annette Merz in die Exegese eingeführt hat (A. Merz, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus [NTOA 52], Göttingen/Fribourg 2004, 105–114): Referentialität, Strukturalität, Selektivität als Kriterien objektiv vorhandener Tradition, Kommunikativität, Autorreflexion, Dialogizität als Kriterien subjektiv realisierter Tradition (17–23). Zu Recht bettet W. diese Skalen in die Geschichte der Methoden ein, da Letztere durchaus auf Prätexte geachtet haben, aber deren Verwendung nicht so differenziert beschrieben haben. Es schließt sich die Forschungsgeschichte zum Verhältnis zwischen Paulus und den Synoptikern an (23–60).
Kapitel 2: Der Einsatz Mk 1,1 mit »Evangelium« hat eine deutliche Referenz zu Paulus, wenn der nachfolgende Genetiv als objektivus verstanden wird: »E. von Jesus Christus«. Gleichzeitig ist der Genetiv ein subjektivus, da er über Paulus hinaus die Verkündigung Jesu bringt (73). Die Anerkennung dieser Doppelstruktur ist inzwischen Konsens. Die literarisch neue Erzählgattung, die Markus schafft, ist ein Gegenevangelium zu den Evangelia des Kaisers Ves­pasian und hat die äußere Form der hellenistischen Biographie (69–81). Die theologia crucis verbindet weiterhin Paulus und Markus. Die geheimen Lehren im Hause zu Reinheitsfragen (Mk 7,14–23) und Ehescheidung haben ebenfalls in Paulus eine Parallele und kritisieren ihn zugleich. Sowohl die Reinheit von allem (Mk 7,15) als auch das radikale Scheidungsverbot gehen auf die Jesus-Tradition zurück. Mit der Betonung des Hauses als »Geheimlehre« geht W. mit Theißen einen neuen Weg. Ausnahmen mit Rücksicht auf den Schwachen zuzulassen (Röm 14,1–23), wird bei Markus »im Hause« zurückgewiesen; ebenfalls bleiben die Ausnahmen von 1Kor 7 zur Ehescheidung bei Markus unerwähnt. Markus radikalisiert gegen Paulus die jesuanische Ethik und vermeidet durch das geheime Lehren die Provokation mit der gegenteiligen öffentlichen Meinung.
Kapitel 3 baut für Matthäus die Kritik an Paulus aus. Mt 5,19 meint mit dem Auflösen des Gesetzes Paulus; die Missionare dürfen im Gegensatz zu Paulus nicht arbeiten. Hier kommt Q10,4 ins Spiel (119 f.). Ansonsten wird aber auf Q kein Bezug genommen. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Samen (Mt 13,24–30) spielt auf Paulus als den feindlichen Sämann an. Gegen Paulus erfüllt Jesus das Gesetz und bleibt zugleich sein Interpret (Mt 5,17–20 vs. Röm 10,4; Gal 3,19).
Kapitel 4: Bei Lukas ist die Intertextualität offenkundiger als bei Markus und Matthäus, weil sein zweites Buch Paulus als Hauptakteur hat. Doch es fällt auf, dass explizite Echos (= Referenzen) bei Markus und Matthäus häufiger gegeben sind als bei Lukas. Nur Apg 13,38 f. sind ein explizites Echo, während Apg 15,10 und Lk 18,9–14 implizite Echos sind. Während Petrus in Apg 15,10 wie der historische Paulus die Rechtfertigung in Antithese zum Gesetz vertritt, lassen die anderen Stellen wie die vorpaulinische Formel Gal 2,16a eine additive Lösung zu: Werke des Gesetzes und Rechtfertigung (136–169).
Insgesamt stellt W. fest: »Historisch gesehen spricht alles dafür, dass die Evangelisten in irgendeiner Weise von Paulus gehört hatten […] Literarisch gesehen sind aber die Bezugnahmen auf Paulus und die paulinische Theologie undeutlich und verschwommen.« (169) Dieses Ergebnis ist ernüchternd. Gleichwohl animiert es dazu, die Traditionen zwischen Paulus und den Synoptikern gründlich mit den neuen Methoden der Intertextualität zu untersuchen. »Verdeckte Polemik« (59 f.), wie sie W. fortwährend für die Synoptiker gegen Paulus ausmacht, kann zwar nicht hundertprozentig bewiesen werden, bleibt aber eine gut begründete Lesweise, wobei W. mit Recht darauf hinweist, dass ja auch Paulus in seiner Polemik gegen Gegner zum Teil »verdeckt« agiert hat. Das Buch bietet immer wieder einprägsame Zusammenfassungen der literarischen und theologischen Ergebnisse. Es ist als einführende Studie zur Intertextualität zwischen Paulus und den Synoptikern zu empfehlen.