Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1203–1204

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Peter

Titel/Untertitel:

Der Brief an Philemon. Übers. u. erklärt v. P. Müller.

Verlag:

Göttingen/Oakville: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 165 S. m. 9 Abb. 24,2 x 16,5 cm = Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 9/2. Lw. EUR 59,95. ISBN 978-3-525-51637-9.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Der kürzeste Paulusbrief findet in jüngster Zeit international ein verstärktes wissenschaftliches Interesse. Peter Müller, Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und Leiter des dortigen Instituts für Philosophie und Theologie, hat nun einen Kommentar vorgelegt, der durchaus als Summe bisheriger historisch-kritischer Forschungsarbeit am Philemonbrief gelten kann. M. verbindet exegetische Klarheit und Abgewogenheit mit einer deutlichen Orientierung auf die Gewinnung eines historischen Gesamtbildes des Textes in den kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Kontexten seiner Zeit und richtet diese Arbeit auf die Gewinnung aktueller sozialer wie theologischer Bezüge aus. Zugleich geht dieser Kommentar in Anlage und Durchführung auch neue Wege:
Zum Einen liegt mit M.s Kommentierung zum ersten Mal ein eigenständiger Band zum Philemonbrief in der traditionsreichsten deutschsprachigen Kommentarreihe vor. Das hat hinsichtlich der letzten Kommentierung durch Eduard Lohse in dieser Reihe (Göttingen 1968) sachliche Gründe, die vor allem in der inzwischen von der überwiegenden Mehrheit gesehenen nichtpaulinischen Verfasserschaft des Kolosserbriefes liegen, der mit seiner Grußliste und der vorausgesetzten Gefangenschaft des Apostels in größter Nähe zum Philemonbrief steht. Zum Zweiten sind dem Buch veranschaulichende Abbildungen und Diagramme beigegeben. Hier wären ein Abbildungsverzeichnis oder Bildlegenden mit vollständigen Informationen sinnvoll; Angaben zu den Bildern müssen in Anmerkungen, die überwiegend nicht auf der Abbildungsseite platziert wurden, gesucht werden (45 [44, Anm. 10]. 52 [51, Anm. 45]. 55.56 [54, Anm. 65]. 156 [nur Quellenangabe 155, Anm. 2].159 [158, Anm. 19]). Zum Dritten bezieht M. gezielt eigene Lektüreerfahrungen der Kommentarbenutzer ein (32: Leider wird diese Innovation nicht rezeptionstheoretisch grundiert und für die Exegese genutzt; Stichworte wie Diskursanalye [38, Anm. 9], Metapher [142] oder Ironie [150 f.] werden zugunsten von nicht definierten »Sinn«-Komposita [35 f.109.125 u. ö.] kaum interdisziplinär diskutiert). Die dabei absehbaren Beobachtungen führen zu den Fragen an den Text (z. B. die Beziehung der Personen zueinander) und zu Fragen an dessen antike Kontexte (z. B. Realien der Sklaverei in der Antike). Daraus ergibt sich die hilfreiche Anlage des Kommentars: Den gut 50 Seiten der »Einzelauslegung« (85–137) stehen weitere Buchteile gegenüber, die das Verständnis der exegetischen Textarbeit sinnvoll ergänzen: Eine Einführung (31–40), in der die Anlage des Kommentars erläutert, erste Lektüreerfahrungen festgehalten, die handelnden Personen eingeführt, Sinnlinien gezogen und eine Gliederung des Briefes vorgeschlagen werden, folgt dem umfangreichen, wenn auch notgedrungen immer noch selektiven Literaturverzeichnis (9–30; einige im Text aufgeführte Titel sind hier nachzutragen: z. B. von den S. 151–153 neben den dort in Anm. 72 genannten Arbeiten Horsleys: Erler, Ironie; Price, Rituals; Vollenweider, Theologie; Engberg-Pedersen, Paulus; Bormann, Politikbegriff; Punt, Paul). Der Abschnitt »Hintergründe« (43–84) liefert Informationen zu Themen, die im Brieftext berührt werden (Hausgemeinden, Gefangenschaft, Alter, Sklaverei; vgl. weitere Exkurse im Kontext der Einzel­exegese, z. B. zu Rekonstruktionsversuchen der Vorgeschichte des Briefes, 127–129, Freundschaft, 94–96, und Partnerschaft, 124 f.), so­wie zu den Einleitungsfragen des Briefes (Epistolographie, Textüberlieferung, Verfasser, Abfassungsort und -zeit).
Auf die Einzelauslegung folgt ein gewichtiger Abschnitt, der »Theologische Hauptlinien« des Briefes herausarbeitet (138–154). Hier wird der Philemonbrief im Kontext der übrigen Paulusbriefe diskutiert, werden Liebe, Glaube und Gemeinschaft als für die Theologie des Philemonbriefes grundlegende Begriffe analysiert, und es wird gefragt, wie »die neue Sicht der Wirklichkeit« im Brieftext um­gesetzt wird. Paulus fordert vom Besitzer des Onesimus nicht dessen Freilassung, wohl aber ein gewandeltes, an Jesus Christus ori­entiertes neues Verhältnis beider zueinander. Diese Forderung zielt im »Binnenbereich« der Gemeinde, also der konkreten Hausgemein­de, die in Phlm 2 ebenfalls adressiert wird, auf »Geschwis­terlichkeit« (151), die zum Ausdruck dessen wird, dass »innergemeindlich ein neuer Erfahrungsraum geschaffen« worden ist (ebd.). M. ar­beitet überzeugend die ekklesiologische Di­mension christlicher Ethik als einen wesentlichen Aspekt der bleibenden Aktualität des Philemonbriefes heraus. Über die Ge­meinde hinaus haben die ethischen Impulse des Briefes auch »gesellschaftspoli­tische Relevanz«, insofern »binnengemeindliche Veränderungen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Umfeld haben müssen« (152).
Ein instruktiver Abschnitt, der »Aspekte der Auslegungsgeschichte« mit deutlichen Akzenten auf Hieronymus sowie Luther und Calvin beleuchtet, rundet den soliden und hilfreichen Kommentar zu diesem frühen »Lehrstück christlicher Ethik« ab.