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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

294–296

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Noti, Odilo

Titel/Untertitel:

Kant: Publikum und Gelehrter. Theologische Erinnerung an einen abgebrochenen Diskurs zum Theorie-Praxis-Problem.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1994. 253 S. 8o. = Ökumenische Beihefte 27. Kart. DM 42,­. ISBN 3-7278 - 0966-3.

Rezensent:

Falk Wagner

Odilo Noti bemüht sich in seiner 1994 von der (Katholisch-) Theologischen Fakultät Freiburg (Schweiz) angenommenen Dissertation um eine "historische Rekonstruktion" des in Kants "Theorie der Moderne" (13) explizierten Zusammenhanges von Aufklärung und öffentlichem Vernunftgebrauch, der zugleich die Beziehung von "Publikum und Gelehrter" und das Theorie-Praxis-Verhältnis einschließt. Diese "in praktischer Absicht" (203) vorgenommene Rekonstruktion soll überdies "einen theologisch interessierten Beitrag dazu bilden, daß Zumutungen und Ansprüche der Aufklärung in der kirchlich-theologischen Praxis jenseits von diffusen Stereotypen und defensiven Voreingenommenheiten wahrgenommen werden und die Repräsentanten der jeweiligen Praxisform ­ in der Sprache Kants: der kirchliche Beamte und der theologische Gelehrte ­ sich ohne Vorbehalt auf den Prozeß der Aufklärung einlassen" (12). In seiner "Einleitung" (11-31) betont der Vf. daher, daß "die Aufklärung als fortsetzungsfähiges und fortsetzungsbedürftiges Projekt" (14) nicht nur durch die gegenwärtig virulenten Strömungen des Neokonservativismus, des Postmodernismus und des Fundamentalismus gefährdet sei. Darüberhinaus präge die im "Ultramontanismus" und in der "Neuscholastik" zu Tage tretende "Abwehrhaltung gegen die Aufklärung den kirchlichen Diskurs bis heute" (31) ­ eine Abwehrhaltung, die von den konservativ-restaurativen und modern-positiven Strömungen des kirchlichen Prostestantismus ebenso geteilt wird wie von den Spielarten der neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes.

Das 1. Kapitel (33-54) ist der Beschreibung des Kants Philosophie auszeichnenden Theorie-Praxis-Problems gewidmet. Zu diesem Zweck orientiert sich der Vf. an der Unterscheidung zwischen technisch-praktischen und moralisch-praktischen Sätzen einerseits und an der Distinktion zwischen dem Schul- und dem Weltbegriff der Philosophie andererseits. Durch das Publizitätsprinzip werden der Primat des moralisch-praktischen und der Primat der Philsosophie nach dem Weltbegriff in dem Bemühen verbunden, "Situationen des Zwanges und der Gewalt zugunsten von Vernunft und Recht zu überwinden" (53). Im 2. Kapitel (55-129) fragt der Vf. nach den realgeschichtlichen Bedingungen (56-79) dieses Bemühens um die Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs. Die vom aufgeklärten Absolutismus in Preußen durchgeführten Reformen werden zwar durch den "militärisch-agrarischen Komplex" (65) beeinträchtigt. Jedoch macht der Vf. anhand der 1783 gegründeten "Mittwochsgesellschaft" und der "Berlinischen Monatsschrift" deutlich, daß die "Bildungsbürger, die in staatlichen oder kirchlichen Institutionen solide integriert sind", zu den entscheidenden Träger(n) der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Aufklärungsbewegung (79) gehören. Der Bildungsbürger Kant weiß sich dieser bürgerlichen Öffentlichkeit durch die Propagierung des öffentlichen Vernunftgebrauchs verpflichtet. In Berücksichtigung der Entstehungsbedingungen des Aufsatzes "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" und seines sozio-semantischen Kontextes (80-129) macht der Vf. zugleich darauf aufmerksam, daß Kants Vernunftkonzept, "das die Handlungen der Bürger zum Abbau von Zwang und Gewalt regulieren will, selbst nicht frei von solchen Momenten ist" (128). Kants Konflikt mit der preußischen Zensur und dem "Wöllnerschen Religionsedikt", auf den der Vf. im 3. Kapitel (131-173) eingeht, zeigt jedoch, daß seine Abschwächungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs und der Rechtsidee nicht grundlos erfolgen. Von diesem Konflikt geht Kant im "Streit der Fakultäten" aus, um die "Konfrontation von kritischer Vernunft und kirchlichem Christentum" als "Konflikt zwischen philosophischer und biblischer Theologie" bzw. "zwischen philosophischer und theologischer Fakultät" (143) zu deuten. In Berücksichtigung von "Kants Theorie der Wissenschaften" (149) unterstreicht der Vf. die "Problematik der oberen Fakultäten": "Angesichts des entstehenden öffentlichen RaisonnementsŠ werden jene Konzeptionen von Wissenschaft fragwürdig, die Unterwerfung und Gewalt anstelle von argumentativer Auseinandersetzung und Recht intendieren." (165) Im 4. Kapitel (175-201) will der Vf. anhand von Kants Geschichtsphilosophie "die Realisierungsbedingungen und -möglichkeiten eines an Vernunft und Recht orientierten HandelnsŠ ermitteln" (175). "Daß Kants Geschichtsphilosophie keine Geschichtstheologie in säkularisierter Gestalt darstellt" (182), geht gerade auch aus seinem "Ringen um eine moralische Teleologie" (200) hervor: Die Unterscheidung zwischen Endzweck und letztem Zweck bzw. zwischen Moral und Kultur macht deutlich, "daß aus der Geschichte... kein moralischer Progreß erhoben werden kann" (ebd.).

Im abschließenden 5. Kapitel (203-228) konfrontiert der Vf. die gegenwärtige Situation von Theologie und Kirche mit dem "Unabgegoltene(n) von Kants aufklärerischer Philosophie" (204). In Auseinandersetzung mit der politischen Theologie von J. B. Metz (205-216) macht der Vf. auf ihre "fehlende sozial-analytische Vermittlung" (213) aufmerksam, so daß sie sich "auf einen theorielosen Appell an biblische Erinnerungen der Subjektwerdung" (212) beschränke, der der "Ebene der theologischen Rhetorik" (216) verhaftet bleibe. Von einer "Institutionalisierung des Aufklärungsprozesses" (ebd.) kann im Zusammenhang des kirchenamtlichen Bewußteins erst recht nicht die Rede sein. In der "Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen" (1990) werden kritische Öffentlichkeit und öffentliche Diskussion theologischer Sachfragen ausdrücklich ausgeschlossen (216-223). Diese als "letztlich totalitär, mit Kant gesprochen: despotisch" (219) erscheinende Tendenz wird durch die "Gehorsamsforderungen" der Instruktion (223-228) unterstrichen, so daß das "Inquisitions-, Steuerungs- und Überwachungsrecht" des Lehramtes "eine eigenständige Theologie als Glaubenswissenschaft" (225) nicht zuläßt. Dieses lehramtlich vertretene Delegationsmodell der Theologie "fällt hinter den von Kant artikulierten Bewußtseinsstand zurück" (226). Der zentralistisch und lehramtlich organisierte römische Katholizismus befindet sich also nicht in einer Situation "nach der Aufklärung", sondern er hat diese noch vor sich. Kants "Theorie der Moderne" kann somit nicht ­ wie eine postmoderne Erwartungslosigkeit Glauben machen will ­ als erschöpft gelten. Sie harrt nicht zuletzt im Bereich der christlichen Kirchen ihrer weiteren Realisierung. Die vom Vf. vorgelegte historisch-systematische Erinnerung an Kants Theorie des aufgeklärten und öffentlichen Vernunftgebrauchs ist daher in höchstem Maße zu begrüßen.