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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1186–1188

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Heinsohn, Nina

Titel/Untertitel:

Zwischen Verheißung und Verborgenheit. Studien zur Theologie und Anthropologie der Hagar-Erzählungen in Genesis 16 und 21.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2010. 138 S. 20,5 x 12,5 cm = Biblisch-Theologische Studien, 109. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7887-2428-3.

Rezensent:

Thomas Naumann

Die theologischen Schwierigkeiten der abgründigen Erzählung von Isaaks Bindung (Gen 22) sind hinlänglich bekannt. Wie kann derselbe Gott das »Opfer« des Sohnes fordern, um ihn anschließend aus einer Situation zu retten, in die er ihn zuvor gebracht hat? Wie kann Gott Gefährder und Retter des Lebens zugleich sein? Mit Recht wird die Kunst der Erzählung gewürdigt, die Dimension göttlicher Bedrohung und göttlicher Bewahrung in einem Gottesbegriff zusammenzuhalten, allerdings nicht gleichgewichtig, sondern so, dass am Ende die Erfahrung der göttlichen Errettung steht. Die Schrecknisse, durch den eigenen Gott in Gefahr und Lebensbedrohung gebracht zu werden, bleiben sichtbar, sie sind das erste, aber nicht das letzte Wort Gottes. Weniger bekannt ist, dass die Abrahamgeschichte weitere Beispiele solch paradoxer Gotteserfahrungen enthält, besonders in den Episoden von Hagar und Ismael in Gen 16 und 21: Denn schon in der Vertreibung Hagars und Ismaels ist Gott der die Vertreibung Fordernde und zugleich der in ihr Bewahrende. Und die schwanger in die Wüste fliehende Hagar erfährt göttliche Rettung erst, nachdem sie in die Knechtschaft zurückgeschickt wurde – also zurück zum Grund ihrer Flucht (Gen 16,9).
Im Horizont dieser Fragestellungen untersucht die Studie von Nina Heinsohn, der eine bei Friedhelm Hartenstein in Hamburg er­arbeitete Examensarbeit zugrunde liegt, die theologischen und anthropologischen Dimensionen der Hagar-Episoden in Gen 16 und 21. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Frage, wie sich die Protagonisten coram deo verhalten. Die Vfn. sieht sie im Spannungsfeld zwischen Verheißung und Verborgenheit Gottes agieren, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen. In literaturgeschichtlicher Hinsicht bestätigt die Vfn. diejenige Forschungsmeinung, die in Gen 21,8–21 eine literarische und midraschartige Fortschreibung der Grunderzählung von Hagars Flucht in die Wüste sieht. Der Autor dieser relecture ist nach der Vfn. zugleich derjenige, der in Gen 16,9–10 und 15 am Werk ist und der wohl auch hinter dem Erzählzusammenhang von Gen 20–22 steht. Angesichts des theologischen Problemgehalts von Gen 20–22 er­wägt die Vfn. für diese relecture eine exilisch-nachexilische Da­tierung (131). Für P bleiben in Gen 16 nur V. 16 sowie die chronologische Notiz innerhalb von V. 3, der ansonsten aber zur Grunderzählung gerechnet wird.
Die Situation von Gen 16 lebt von der Spannung, dass die Abraham zugesagte Sohnverheißung (Gen 15) angesichts der Unfruchtbarkeit Saras keine Erfüllung erfährt. Diese Situation deutet die Vfn. als Verborgenheit Gottes und Undurchschaubarkeit seiner Handlungsweisen und Beweggründe. Sara führt ihre Kinderlosigkeit auf den Willen Gottes zurück und versucht, durch ihre Sklavin Hagar ihrer Kinderlosigkeit abzuhelfen. Dabei weiß sie, dass Gott frei und nicht manipulierbar ist (vgl. »vielleicht« in V. 2). Ein zweites Mal nimmt Sara Gott in Anspruch, indem sie ihn als Richter zwischen sich und Abraham anruft. Aber Gott reagiert nicht, er bleibt stumm. In diesem Gottesschweigen meint die Vfn. eine Kritik des Erzählers an Sara zu erkennen.
Diese Kritik bezieht sich aber nicht auf den angeblich eigenmächtigen Versuch, der göttlichen Verheißung nachzuhelfen, wie eine christliche Tradition im Erbe von Luther, Calvin, Zimmerli und von Rad zu wissen glaubte. Der Versuch Saras, ihrer Notsituation durch eine Zweitehe Abrahams mit Hagar abzuhelfen, wird in Gen 16 nicht kritisiert. Der Vfn. zufolge übt der Erzähler aber subtile Kritik an Saras hartem Um­gang mit der ihrer Macht ausgelieferten Hagar, die er durch sprachliche Verbindungslinien zur Exodusgeschichte sichtbar macht. Die Ägypterin Hagar er­fährt ihr »Ägypten« im Haus Abrahams und Saras. Saras Plan (vgl. V. 2) scheitert letztlich. Hagars Gottesbegegnung in der Wüste zeigt Jhwh als befreiend Handelnden. Wie in Gen 21 und 22 steht auch in Gen 16 Gottes rettendes Handeln am Schluss, während der verborgene (Gen 16) oder der durch furchtbare Zumutungen bedrohende Gott (Gen 21 und 22) am Beginn der Episoden agiert. Während die Grunderzählung (Gen 16) Gott allein als befreienden Gott kennt, zeichnet die Fortschreibung in V. 9–10 eine tiefe Ambivalenz auch in Hagars Gotteserfahrung. Vor der Rettung in die Wüste steht der Rückkehrbefehl unter Saras harte Hand. Während der Rückkehrbefehl in V. 9 traditionell eher als redaktionelle Notiz und Übergang zu Gen 21 inhaltlich unterbestimmt bleibt, stellt sich die Vfn. der theologischen Problematik von Rückkehrbefehl und Verheißungs- und Rettungsaussagen in der gleichen Gottesrede. Am Anfang steht eine göttliche Zumutung, am Ende zeigt sich Gott als rettend befreiender Gott. Dieser Zusammenhang findet sich ebenfalls in Gen 21,8–21 (Vertreibung Hagars und Ismaels) sowie in Gen 22 (Bindung Isaaks). Die Vfn. bestätigt exegetische Entwürfe, nach denen die Vertreibung Ha­gars und Ismaels sowie die Bindung Isaaks als stilistisch eng miteinander verzahnte Komplementärtexte zu verstehen sind. Ein dunkles Gotteswort verlangt zweimal von Abraham in äußerster Zumutung, seinen Sohn preiszugeben (Gen 21,12 f.; 22,1). Aber die Gefährdung des Sohnes ist nur ein Durchgangsstadium, denn Gott rettet beide aus der Gefahr, in die er sie zuvor geführt hat. Die Erzählung versucht, die Verheißung, die Infragestellung der Verheißung und die anschließende Rettung im Rahmen einer Gotteskonzeption zu denken, und zwar so, dass die Erfahrung des verborgenen Gottes letztlich durch die des rettenden Gottes umgriffen wird (119). Für die Interpretation von Gen 22 ist dieser Zusammen hang evident.
Der Vfn. gebührt das Verdienst, diese theologische Bipolarität und Spannung auch in den Hagar-Ismael-Episoden herausgestellt zu haben. Auch die Hagar-Ismael-Episoden setzen Grundfragen altisraelitischen Gottesverständnisses einprägsam ins Bild, auf ähnliche Weise wie in Gen 22. Anders als in Gen 22 wird in Gen 21 (aber auch schon in Gen 20) die Gottesbegegnung mit nichtisraelitischen Personen und Ahnen nichtisraelitischer Völker thematisiert. Dieser theologischen Fährte wie auch den völkergeschichtlichen Dimensionen der Erzählung folgt die Vfn. aber nicht.
Ob die von der Vfn. genutzte Kategorie von der Verborgenheit Gottes angemessen ist, müsste allerdings weiter geprüft werden. Denn sowohl in Gen 16,9 wie auch in Gen 21,12 f. und 22,2 ist es jeweils der offenbare Gott, der Furchtbares fordert, das sein eigenes Verheißungshandeln zu konterkarieren scheint. Vielleicht müsste man eher sagen: In den Zumutungen des offenbaren Gottes drückt sich die Erfahrung und Verunsicherung angesichts widriger Le­benserfahrungen aus, die dennoch nicht aus dem Machtbereich Gottes ausgeklammert werden sollen. Dies ist die Sprachgestalt, mit der die Erzählung eine Thematik behandelt, welche die protestantische Theologie als »Verborgenheit Gottes« bedenkt. Auch Gen 16,1–5 scheint mir theologisch ein wenig überfordert, wenn die Vfn. daraus, dass Gott nicht als handelnde Person begegnet, folgert, dass hier Gottes Abwesenheit und ein kritisches Schweigen Gottes er­zählerisch ausgestaltet werden sollen ( argumentum e silentio). Aber diese Anfragen sind getragen von einer deutlichen und überwiegenden Zustimmung zu der feinsinnigen und durch viele kluge Textbeobachtungen gestützten Interpretation der Hagar-Ismael-Episoden, die endlich einmal als literarische Zeugnisse einer reflektierten Theologie Israels gewürdigt werden.