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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1177–1179

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eich, Peter

Titel/Untertitel:

Gottesbild und Wahrnehmung. Studien zu Ambivalenzen früher griechischer Götterdarstellungen (ca. 800 v. Chr. – ca. 400 v. Chr.).

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2011. 532 S. 24,0 x 17,0 cm = Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, 34. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-515-09855-7.

Rezensent:

Ulrich Berner

Der Rahmen, in dem sich die Studien von Peter Eich bewegen, ist weiter gefasst, als es der Titel des Buches erwarten lässt, und dies in zweierlei Hinsicht, die historischen Analysen und die theoretischen Reflexionen betreffend: Zum einen werden nicht nur Zeugnisse der archaischen und frühklassischen Zeit in die Betrachtung einbezogen, sondern auch Zeugnisse der Kaiserzeit, wie z. B. Texte von Plutarch und Pausanias; zum anderen wird der Kanon der Interpretamente, die in den Altertumswissenschaften verwendet werden, erheblich erweitert, indem der Vf. neueste Ansätze der kognitiven Religionsforschung aufgreift, wie z. B. die Religionstheorie von Pascal Boyer. Darüber hinaus hat der Vf. auch den Mut gehabt, nicht nur die bekannten Religionstheorien des 20. Jh.s, wie z. B. von Émile Durkheim und Sigmund Freud, zu berücksichtigen, sondern auch ältere Theorien aus dem 19. Jh., wie z. B. Edward Burnett Tylors Begriff des »Animismus«, die in der neueren Forschung bereits vergessen waren bzw. als völlig veraltet galten. Mit Recht hat er festgestellt, dass es eine Verwandtschaft zwischen den neuen kognitiven Ansätzen und der alten Animismus-Theorie gibt. So ist es ein Charakteristikum dieses Buches, dass alte und neue Theorien in Beziehung gesetzt werden, jeweils kritisch reflektiert und selbständig in eine eigene Konzeption integriert.
Aus der Sicht der Religionswissenschaft erscheint es besonders begrüßenswert, wenn der Vf. es unternimmt, die divergierenden Richtungen der Religionsforschung – die klassischen soziologischen und die modernen kognitiven Ansätze – gleichermaßen in die Betrachtung einzubeziehen. Hier liegt die wichtigste aktuelle Aufgabe der Religionswissenschaft: in der Erklärung religionsgeschichtlicher Prozesse ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Berücksichtigung sozio-kultureller und kognitiv-mentaler Faktoren und Bedingungen. Diesem Ziel kommt der Vf. sehr nahe, wenn er davon ausgeht, dass religiöse Phänomene und kulturelle Vorgaben wesentlich »durch neuronale und psychische Dispositionen« prästrukturiert werden, ohne dass er die »kulturellen Prägefaktoren« aus dem Blick verliert (73).
Von Pascal Boyer übernimmt der Vf. den Begriff der »kontra-intuitiven Eigenschaften«, den er auf die griechischen Götter an­wendet, die – besonders klar in der Ilias und in der Odyssee – be­schrieben werden als »nach Menschenart modellierte Wesen mit einer Reihe kontra-intuitiver Eigenschaften« (101). Von Merlin Donald übernimmt er den Begriff »external symbolic storage«, der als »externes Gedächtnis« eingeht in seine Deutung der Götter­bilder, die er metaphorisch als »Speicher« beschreibt, als »besonders tiefe ›Speicher‹ jener kollektiven Erinnerungen, Ahnungen und Stimmungen, die sich auf das Werden, die Stabilität und die Zu­kunft der je zu Kultgemeinschaften zusammengeschlossenen Gruppen beziehen« (356; vgl. 359.366.405.412.421 u.ö.).
Die philologisch-historische Analyse der Quellen wird mit einer methodischen Sorgfalt durchgeführt, die als vorbildlich zu be­zeichnen ist. Der Vf. legt jeweils die möglichen Deutungen der Texte dar, wie z. B. des berühmten Heraklit-Fragmentes DK 22 B5, und vermeidet es konsequent, sich auf eine Deutung festzulegen, wenn das betreffende Fragment nicht kontextualisiert werden kann (siehe z. B. 121–124). Die Textinterpretationen führen den Vf. zu dem Ergebnis, dass eine weit verbreitete Auffassung von den Quellen her nicht bestätigt werden kann: die Auffassung, dass die Idolatrie am Anfang stand – als Identifikation oder als »Einwohnung« der Götter in den Bildern – und später durch andere, rationale Konzeptionen abgelöst wurde; diese Auffassung ist bekannt unter der Formel »vom Mythos zum Logos«. Sein Ergebnis ist vielmehr eine Umkehrung der Entwicklung: »daß die Fixierung auf Götterbilder vor allem in der Kaiserzeit nicht als ein Überbleibsel aus frühen Stadien der griechischen Religion, sondern eher als ein Produkt einer erst später einsetzenden geistigen Strömung anzusehen ist« (348; vgl. 370.406). Diese Entwicklung erklärt sich, dem Vf. zufolge, aus den politischen Veränderungen in der Epoche des Hellenismus und vor allem der Kaiserzeit: »In einer Welt, in der das eigentliche Hellas immer stärker der politischen Belanglosigkeit anheimfiel […], gewannen die gemeinschaftlichen Speicher von Erinnerungen, Ahnungen und Stimmungen, die sich auf die Vergangenheit bezogen, immer mehr an Bedeutung.« (359) Dieser Be­deutungszuwachs konnte dem Vf. zufolge aber nicht durch soziopolitische Statuszuschreibungen ausgedrückt werden, sondern nur durch eine Übersteigerung des sakralen Charakters der »Speicher« – so hätten hellenistsche und kaiserzeitliche Autoren »in viel höherem Maße den materiellen Repräsentationen der Götter Nu­minosität oder sogar kontra-intuitive Handlungen« zugeschrieben, »um deren Bedeutung für ihre Verehrer nach außen sinnfällig zu machen« (360).
Aus der Sicht der Religionswissenschaft könnten noch einige mögliche Alternativen genannt werden, die Wahl theoretischer Ansätze und Begriffe betreffend: Die Theorie der »Modes of Religiosity« des Ethnologen Harvey Whitehouse ist in den letzten Jahren oft auf historisches, ja sogar auf prähistorisches Material angewandt worden – dieser Ansatz wäre vielleicht von Interesse gewesen als eine Alternative zu der Theorie von Jacques Cauvin, an den der Vf. sich angeschlossen hat; die neuere Monotheismus-Debatte, angestoßen durch Jan Assmann, sowie die Beiträge zum »paganen Monotheismus« (M. Frede/P. Athanassiadi) hätten ein differenziertes begriffliches Instrumentarium zum Vergleich paganer und christlicher Gottesvorstellungen bereitstellen können – doch war der Vf. ja in erster Linie an den »durchschnittlichen« Gläubigen interessiert, nicht so sehr an den individuellen Dichtern und Philosophen, und so konnte es ihm wohl ausreichend erscheinen, aus der älteren Forschung den Begriff des »Henotheismus« aufzugreifen.
Es bleibt zu hoffen, dass diese »Studien zu griechischen Götterdarstellungen« nicht nur in den Altertumswissenschaften, sondern auch in der Religionswissenschaft rezipiert werden. Die Rezeption in der Nachbardisziplin könnte dadurch erleichtert und verstärkt werden, dass einzelne Aspekte aus dem Buch herausgegriffen und zu separaten Studien für religionswissenschaftliche Zeitschriften ausgearbeitet werden.