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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

290–292

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Cohen, I. Bernhard

Titel/Untertitel:

Revolution in der Naturwissenschaft. Übers. von W. Kutschmann.

Verlag:

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 715 S. 8o. Lw. DM 120,­. ISBN 3-518-58175-9.

Rezensent:

Heiko Joosten

Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften könnte kaum disparater sein als gerade in diesem Jh. und die ostentative Gleichgültigkeit, mit der sich die Vertreter der beiden Disziplinen zum Teil gegenüberstehen, kaum größer. Ein besonderer Akzent der wechselseitigen Geringschätzung ist jene fast bornierte Selbstgewißheit mancher Naturwissenschaftler, die sich über die ostinaten Grundsatzdebatten und den notorischen Methodenstreit ihrer geisteswissenschaftlichen Kollegen erhaben wähnen, weil sie sich im Besitz unumstößlicher Wahrheiten und unverrückbarer Verfahrensregeln glauben. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Selbstgewißheit als merkwürdig ahistorisch, bisweilen sogar antihistorisch. Mit verblüffender Hartnäckigkeit scheint sie darüber hinwegzugehen, daß sich das naturwissenschaftliche Denken seit seiner Emanzipation von der scholastischen Tradition immer wieder und keineswegs zielgerade zu dem gewandelt hat, was es heute ist, und daß dieser geschichtliche Vorgang unaufhörlich andauert.

In den sechziger Jahren wurde das fortschrittsoptimistische Selbstvertrauen der Naturwissenschaftler freilich ein wenig ge-dämpft ­ derjenigen wenigstens, die T. S. Kuhns "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" gelesen hatten. Kuhn begriff die Wissenschaftsgeschichte nicht als stetige Mehrung des Wissens, sondern als eine Folge revolutionärer Ereignisse im Denken, mehr oder weniger gewaltigen Verschiebungen in jeweils einer Reihe wissenschaftlicher Überzeugungen oder, um den ursprünglich von Kuhn eingeführten Begriff zu verwenden, Paradigmenwechseln. Diese geistigen Eruptionen sind nach Kuhn nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen Ideenwettbewerbs, wie noch Ernst Mach glaubte, sondern eines Wettbewerbs unter nicht immer sehr friedliebenden Wissenschaftlern. Ihre Ursachen sind nicht im Überschäumen der puren Wissensbegierde zu sehen, sondern in der Krise eines angesichts immer neuer Tatbestände immer wieder veraltet scheinenden Denkens. Wissenschaftsgeschichte als rhapsodische Regularität von Krisen und Revolutionen? Man muß dieser Sichtweise nicht restlos zustimmen, doch sicherlich hat sie einen fruchtbaren und seinerzeit schon längst überfälligen Diskurs über die historischen, soziologischen und psychologischen Aspekte der Wissenschaft angezettelt.

Der amerikanische Historiker I. Bernhard Cohen bereichert diesen Diskurs nun mit seinem jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen Werk Revolutionen in der Naturwissenschaft. Mit fast enzyklopädischer Vollständigkeit untersucht C. die Entwicklung der Naturwissenschaften seit den Tagen von Nikolaus Kopernikus unter dem Gesichtspunkt der Revolution. Als Historiker ist es ihm jedoch nicht darum zu tun, die wissenschaftstheoretische Relevanz des Begriffs Revolution zu klären, sondern ausschließlich um die Geschichte dieses Begriffs. Es ist dies eine an Überraschungen reiche und von C. ebenso kurzweilig wie sorgfältig und ­ vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ­ absolut stichhaltig erzählte Geschichte.

Die erste Überraschung ist eigentlich schon das Zustandekommen des C.schen Projekts selbst. Denn der Begriff der Revolution ist, anders als nach der Vormeinung vieler Historiker und Naturwissenschaftler, alles andere als ein Anachronismus. Lange bevor die Moderne herandämmerte, lange vor der französischen Revolution, die unser heutige Vorstellung von Revolution geprägt hat, wurde er, wie C. ausführlich belegt, von zeitgenössischen Historikern nicht nur als Bezeichnung des politischen Wandels verwendet, sondern auch, um Veränderungen in den Naturwissenschaften zu charakterisieren.

Doch wer jetzt an Kopernikus denkt ­ an die vielzitierte Kopernikanische Wende ­ befindet sich auf dem Holzweg. Hier handelt es sich nach Ansicht von C. tatsächlich um einen Anachronismus. Kopernikus griff die Ptolemäische Astronomie nicht primär deshalb an, weil sich in ihr die Sonne anstelle der Erde bewegt, sondern weil sich Ptolemäus vom antiken Sinnbild der Harmonie verabschiedet hatte, alle Himmelsbewegungen durch gleichförmige Kreisbewegungen zu erklären. Wie wir heute wissen, bewegen sich die Planeten tatsächlich nicht auf kreisförmigen Bahnen, sondern auf elliptischen, und so sollte Ptolemäus’ Astronomie bis zu derjenigen von Johannes Kepler auch die genaueste bleiben. Kepler würdigte später zwar die Kopernikanische Sonnentheorie, doch außer der schlichten Tatsache, daß sich die Erde um die Sonne bewegt, ließ er nichts von ihr übrig. Er fand nicht nur die richtigen kinematischen Gesetze, er war auch der erste, der nach einer Kraft als der Ursache dieser Gesetze suchte.

Handelt es sich im Falle von Kepler also um eine Revolution? C. wendet hier sein Schema revolutionärer Stadien an: der "Revolution im Kopf", jener innovativen Mühsal also, alte Probleme mit völlig neuartigen Methoden, Begriffen oder Theorien anzugehen; der "verbindlichen Selbstfestlegung", d.h. der schriftlichen Fixierung der Ideen oder der Aufstellung eines Forschungsprogramms und der "Revolution auf dem Papier", der Publikation, mit der die Geistesrevolte erstmalig öffentlich bekannt wird. Kepler hat diese drei Stadien erfolgreich durchlaufen, doch das vierte Stadium, die eigentliche "Revolution in der Wissenschaft", hat er nach C.s Ansicht nie erreicht. Nicht zuletzt, weil die in Keplers Theorie über große Entfernungen wirkende ­ seiner Vermutung nach magnetische ­ Anziehungskraft der Sonne seinerzeit eher mysteriös anmutete, war die Fachwelt nicht überzeugt.

Erst die Newtonschen Principia bringen die Innovationen des 16. und 17. Jh.s ­ die kopernikanischen, keplerschen und galileischen ­ zur (mathematischen) Vollendung und lassen sie rückblickend als revolutionäre Vorboten erscheinen. Die Newtonsche Revolution ist die erste, die alle vier Stadien erfolgreich durchläuft und darüber hinaus alle von C. aufgestellten Kriterien für das Auftreten einer Revolution erfüllt. Ihre Ideen haben sich faktisch durchgesetzt und wurden von zeitgenössischen Wissenschaftlern und Wissenschaftshistorikern sogar expressis verbis als revolutionär gepriesen. Bis heute erkennen Wissenschaftshistoriker und aktive Wissenschaftler sie als die Revolution der Naturwissenschaften an.

Doch C.s Dokumentation zeigt, daß es weitere Revolutionen in den Naturwissenschaften gab und wie sich der Begriff der Revolution gewandelt hat. Im Mittelalter und der Renaissence war Revolution ein astronomischer Fachbegriff, der, ganz im Sinne der spätlateinischen Bedeutung von revolvere (zurückrollen, zurückkehren), die periodische Bewegung der Himmelskörper bezeichnete, und auch die spätere Anwendung auf politische Veränderungen meinte zunächst einen zyklischen Wandel. So besaß der Ausdruck bis zur Amerikanischen Revolution noch deutliche Untertöne im Sinne einer Rückkehr, in diesem Fall einer Rückkehr zu den Prinzipien der Bill of Rights, die von den Engländern in den amerikanischen Kolonien verletzt worden war. Der Wendepunkt ist nach C.s Ansicht, und hier bedient er sich der Worte Hannah Arendts, die Französische Revolution: Das damalige Revolutionsverständnis war dem "Bild der kreisenden himmlischen Körper" zwar verpflichtet, jedoch lag der Akzent bereits darauf, "daß eine solche Bewegung menschlicher Machtvollkommenheit entzogen ist, daß sie nicht angehalten werden kann und daß sie nur ihrem eigenen Gesetz gehorcht." Von hier an entwickelte sich ein Revolutionsbegriff, der eine radikale Neuerung meinte, womöglich auch eine rhythmische Folge solcher Neuerungen, von der Konnotation der expliziten Rückkehr zum Ursprung aber befreit war. Und in eben diesem Sinne wurde der Begriff zurückangewandt auf die Naturwissenschaften, wie sich etwa an den Lobreden D’Alemberts oder Fontenelles auf Newton ablesen läßt. Und in diesem Sinne hat er sich über die gesamte wissenschaftliche Landschaft verbreitet ­ Revolutionen ereigneten sich in der Medizin, in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Und natürlich hat sich der Begriff der naturwissenschaftlichen Revolution auf ganz eigene Weise angereichert. Revolutionen werden nicht mehr nur als Revolutionen des naturwissenschaftlichen Denkens angesehen, sondern gehen mit der Einrichtung oder Beherrschung wissenschaftlicher Institutionen einher sowie häufig mit allerlei ideologischen, technologischen oder sozialen Folgewirkungen

Doch spätestens seit der Darwinschen Revolution gehen unter den Naturwissenschaftlern die Meinungen darüber auseinander, ob sich die Naturwissenschaften tatsächlich revolutionär entwickeln, oder ob die vermeintlichen Revolutionen nicht bloße Akzente oder Kulminationspunkte eines stetigen evolutionären Prozesses sind. C. leistet sich keine eigene Antwort zu der Frage, ob "Revolution" oder "Evolution" letztlich der wissenschaftstheoretisch sinnvollere Begriff ist. Er bleibt Historiker. Doch die Fülle des dokumentarischen Materials, das C. zutage gefördert hat, zeigt, daß sich diese Frage nur im historischen Kontext beantworten läßt. Denn, um es mit Auguste Comte zu sagen: Eine Wissenschaft läßt sich nicht vollständig verstehen, wenn man ihre Geschichte nicht kennt.