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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

286–288

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Wöhler, Hans-Ulrich

Titel/Untertitel:

1.Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik. Lateinische, griechische und arabische Texte des 3.–12. Jahrhunderts; Übers. und hrsg. 2. Hoch- und spätmittelalterliche Scholastik. Lateinische Texte des 13.–15. Jahrhunderts, Übers. und hrsg.

Verlag:

1.Berlin: Akademie Verlag 1992. 368 S. 8o = Texte zum Universalienstreit, 1. Pb. DM 78,­. ISBN 3-05-001792-9. 2. Berlin: Akademie Verlag 1994. IX, 336 S. gr. 8o = Texte zum Universalienstreit, 2. Pp. DM 84,­. ISBN 3-05-001929-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

W. will mit der nun "vorliegenden Ausgabe von Texten zum Universalienstreit... einem nicht nur die Spezialisten umfassenden Publikum den historisch-genetischen Werdegang eines der grundlegenden Probleme der Philosophiegeschichte nach seinen antiken Wurzeln und seiner klassischen Ausformung im Mittelalter" erschließen, aufhellen und darstellen (VII). Das ist ein löbliches Unterfangen, denn wenn auch im Universalienstreit nicht, wie schon behauptet wurde, die ganze Philosophie- bzw. Theologiegeschichte des Mittelalters präsent ist, so ist ohne seine Kenntnis diese Geschichte nicht zu begreifen.

In den beiden Nachworten, die man unbedingt als Einleitung lesen sollte, wird die Geschichte des Universalienstreites dargestellt. Mit Recht weist im 1. Band der Hg. darauf hin, daß "in bezug auf die Frage, ob der Inhalt des Streites überhaupt einer historischen Wandlung und Entwicklung unterlegen habe oder nicht vielmehr ausschließlich als Ausfluß mittelalterlichen Geisteslebens zu bewerten sei", die Meinungen auseinandergehen. Nicht umstritten ist aber, daß der Streit auf die Auseinandersetzungen um Platos Ideenlehre, hervorgerufen durch die Polemik von Aristoteles gegen sie, zurückgeht. So stellt der Hg. nun kurz das Universalienproblem dar. Plato postulierte urtypische ewige Einheiten von allgemeiner Geltung, die abgetrennt von den singulären Dingen existieren würden; Aristoteles sagte dagegen: "Das Allgemeine ist dasjenige, was geeignet ist, über mehreres prädiziert zu werden." Die Frage war also: Existiert das Allgemeine nun von Natur aus oder auf Grund menschlicher Setzung oder auch auf Grund göttlicher Schöpfung? Diese Frage zu beantworten, galt im Mittelalter als die Hauptfrage der Philosophie bzw. Theologie.

Die Geschichte dieses Problems wird nun verfolgt über die Philosophie der Spätantike (Sextus Empiricus, Alexander von Aphrodisias [für ihn existieren die Universalia nicht], Ps.-Archytas, Plotin und der Neuplatonismus) zu den christlichen Philosophen wie Boethius, Scotus Eriugena, Berengar von Tours, Roscelin, Abaelard, Anselm v. Canterbury, Wilhelm v. Champeaux, Adelard v. Bath, Johannes v. Salisbury ­ und zu den arabischen Philosophen Al-Farabi, Avicenna, Averroes. Der Hg. hebt hervor, im frühscholastischen Universalienrealismus bleibe es bei der Betonung des Primats des Allgemeinen vor dem Besonderen zur Erklärung der Genera und Spezies in den realen Individuen (338). Mit Recht schränkt er ein, daß aber eine allgemeine Infragestellung von Religion, Kirche und Institutionen keinesfalls vom Nominalismus ausgehe. Der aufkommende Antiklerikalismus sei nicht von nominalistischen Positionen aus vorgetragen worden (vgl. Wyclif!). Nur in einer Fußnote (347, A. 2) widerspricht er der von Buhr vorgetragenen marxistischen Meinung, der Universalienstreit sei seinem Wesen nach "eine Erscheinung des Kampfes von Materialismus und Idealismus im Mittelalter". An einigen Stellen wird jedoch erkennbar, daß das Manuskript zu Band 1 vor 1989 fertiggestellt wurde.

Die Texte im 1. Band werden ausschließlich in deutscher Übersetzung abgedruckt, es sind solche von Porphyrios, Boethius, Roscelin, Anselm, Adelard, ein Anonymus, Abaelard, Gilbert Porretanus, Johannes v. Salisbury, Avicenna und Averroes. So wichtig die Texte des Boethius auch sind, warum von ihm sechs Texte abgedruckt werden, von Plato und Aristoteles aber keiner, bleibt unverständlich.

Im 2. Band folgen dann Texte von Albertus Magnus, Thomas, Siger v. Brabant, Duns Scotus, Ockham, Burley, Buridan (dieser Text allein zweisprachig!), Gregor v. Rimini, Heinrich Totting v. Oyta, Wyclif, Gerson und Biel. Hatte der Hg. noch in Bd. 1 festgestellt, "die Geschichte des Universalienstreites in der europäischen Hochscholastik ist keine einfache Fortsetzung der Auseinandersetzungen in der Frühscholastik" (345), so hätte dieser Wandel in Bd. 2 etwas deutlicher herausgestellt werden können. Außer den Denkern, von denen Texte abgedruckt werden, werden im Nachwort des 2. Bandes auch noch Robert Grosseteste, Bonaventura, Albert v. Sachsen, Marsilius v. Inghen, Pierre d’Ailly in bezug auf das Thema kurz dargestellt und einige andere erwähnt.

Der Aristotelesrezeption stand der ungebrochene Einfluß des Neuplatonismus jedenfalls immer gegenüber (vgl. etwa "Liber de causis"). Der Hg. entgeht nicht ganz der Gefahr, moderne Begriffe ungeschützt schon ins Mittelalter zu übertragen (z. B. Pantheismus) oder augustinisches und aristotelisches Denken in Gegensatz zu stellen; vielmehr war doch der Versuch einer Synthese beider kennzeichnend. Auch hatte man sich eine Berücksichtigung deutscher Denker ("Deutsche Dominikanerschule") gewünscht, sie werden weder im Nachwort noch unter den abgedruckten Texten berücksichtigt.

Über die abzudruckenden Texte läßt sich natürlich trefflich streiten. Es ist jedenfalls erstaunlich, welche Mühe der Hg. sich mit der Auswahl z. T. nicht edierter Texte und mit ihrer Übersetzung gemacht hat. Hervorzuheben ist dabei, daß er gerade auch die theologisch wichtigen Texte abgedruckt hat, so daß deutlich wird (deutlicher noch als in den Nachworten), welche Bedeutung das Universalienproblem für theologische Fragen hatte, vor allem für die Trinitätslehre.

Es hätte aber deutlicher hervorgehoben werden können, warum im 15. Jh. der Universalienstreit abebbt. Neue Fragestellungen kommen auf. Nikolaus von Kues hat eben nicht die "Gegensätze zwischen Universalienrealismus und Nominalismus zu überspringen" versucht (291), sondern geholfen, sie zu überwinden. Hier hätte der Abdruck von "Idiota de mente", wenigstens von Kap. 11, dies gezeigt. K. Flasch sieht die "cusanische Lösung des Universalienstreites" darin, daß hier "das Allgemeine, das Besondere und das Einzelne aus der dreieinigen Selbstentfaltung des Geistes entstehe(n), der diese Gegensätze in sich zusammenhält" (1). An dieser Stelle wird die Verflochtenheit von Philosophie und Theologie wieder deutlich, denn von der Trinitätstheologie her gewinnt Nikolaus seine Lösung!

Der Hg. unterscheidet vier Phasen des Streites: 1. Im 11. und 12. Jh. nimmt er den Charakter eines Richtungsstreites an. 2. Im 13. Jh. herrscht ein gemäßigter Universalienrealismus vor; strittig sind konzeptionelle Fragen. 3. Im 14. Jh. gewinnt der Streit den Charakter eines weltanschaulichen Richtungs- und Methodenstreits. 4. Im 15. Jh. wird er zum Schulstreit zwischen "via antiqua" und "via moderna". Man wird dem Hg. dabei eine gewisse Simplifizierung vorwerfen müssen. So läßt sich eben schon Ockham nicht in eine Schublade einordnen. Und Wyclif ist, wie Hg. zurecht betont, ein überzeugter Realist. Daran wird deutlich, daß man nicht einfach zwischen "alt" und "neu" unterscheiden kann und daß eben nicht dem Nominalismus die Zukunft gehörte bzw. er als "fortschrittlich" bezeichnet werden kann. Erfreulicherweise ist der Hg. mit solcher Etikettierung aber vorsichtig.

Die beiden Bände sind zur Studienarbeit trefflich geeignet.

Fussnoten:

(1) K. Flasch: Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, Leiden 1973, S. 331.