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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

278–280

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Feld, Helmut

Titel/Untertitel:

Franziskus von Assisi und seine Bewegung.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. XIV, 539 S. 8o. geb. DM 78,­. ISBN 3-534-03087-7.

Rezensent:

Kurt-Victor Selge

Der Vf. legt eine Einführung in das Studium des Franziskus vor, die die Forschung seit Ernst Benz’ "Ecclesia spiritualis" von 1934 verarbeitet und zugleich ein eigenes Franziskusbild vermittelt, in dem der Gegensatz zwischen Franziskus und der Papstkirche, verkörpert durch den Kardinalprotektor Hugolin von Ostia (Gregor IX.) wieder so scharf ­ und noch schärfer ­ behauptet wird wie von Paul Sabatier in seiner großen »Vie de S. François« von 1893. Damit weicht er von der eher harmonistischen Tendenz der neueren, besonders franziskanischen Forschung ab, verkörpert z.B. von Kajetan Eßer in seinem Buch "Anfänge und ursprüngliche Zielsetzung des Ordens der Minderbrüder" (1966), der der Rezensent in einigen Aufsätzen (zuerst in dem vom Vf. nicht berücksichtigten über "Rechtsgestalt und Idee der frühen Gemeinschaft des Franz von Assisi", Festschrift Heinrich Bornkamm 1966) eine vermittelnde Auffassung entgegengesetzt hatte.

Mit Raoul Manselli (deutsch: Franziskus. Der solidarische Bruder, 1984) weicht der Vf. dhtbaren Kritik an der Ordensentwicklung bestimmt wird, die aus den Texten des Franziskus selbst und den anderen ältesten Quellen auch chronistischer und urkundlicher Art nicht erkennbar wird. Damit wird die Spiritualenkritik des späten 13. Jh.s in einer Weise an die Frühzeit des Ordens und an Franziskus direkt angeschlossen, die alle jene Ergebnisse der neueren Forschung, die sich auf die ältesten Quellen beschränkt hatte, wieder zunichte macht. Den Grund hierfür kann man wohl nur darin sehen, daß der Vf. dhtbaren Kritik an der Ordensentwicklung bestimmt wird, die aus den Texten des Franziskus selbst und den anderen ältesten Quellen auch chronistischer und urkundlicher Art nicht erkennbar wird. Damit wird die Spiritualenkritik des späten 13. Jh.s in einer Weise an die Frühzeit des Ordens und an Franziskus direkt angeschlossen, die alle jene Ergebnisse der neueren Forschung, die sich auf die ältesten Quellen beschränkt hatte, wieder zunichte macht. Den Grund hierfür kann man wohl nur darin sehen, daß der Vf. die ja verständlichen und berechtigten kirchen- und traditionskritischen Tendenzen seit der Aufklärung zum hermeneutischen Schlüssel macht und ein Bild des Franziskus als verhinderten neuen Religionsstifters vertritt. Franziskus identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Christus (ohne dessen Erlöserrolle zu übernehmen), daß er selbst Anlaß zu der späteren Ordenstradition gibt, die ihn als "zweiten Christus" stilisiert, ja er wird zu einem "anderen Christus", indem er eine Religionsvorstellung lebt, die gegen seine Absicht von der des Urchristentums durchaus zu unterscheiden ist. Zentral hierfür sind die Naturaussagen des Franziskus: Er zielt auf eine Erlösung des ganzen Kosmos zum einhelligen Gotteslob, und so ist sein Weltverständnis "in tiefster Seele optimistisch" (504). Damit stellt er sich dem Weltverständnis der Katharer entgegen, von deren Konzentration auf ein dualistisches Welt- und Geschichtsverständnis er dennoch (anregend und antithetisch) beeinflußt ist. Seine Erlösungsvorstellung löst sich damit aber ­ dies expliziert der Vf. freilich nicht, aber es ist der Sinn seiner Deutung ­ auch von der dualistischen augustinisch-kirchlichen Tradition; und in der Tat ist es ja auffällig, daß zwar Engel und Dämonen, nicht aber Satan und Hölle in den Texten des Franziskus hervortreten. Die Todesstrophe des Sonnengesangs spricht nur vom "zweiten Tod".

Diese ganze Interpretation bietet freilich ihre Schwierigkeiten damit, daß sie mit dem Sündenbewußtsein und Bußgedanken des Franziskus (unser Eigentum sind nur unsere Sünden, alles andere, selbst Krankheit und Tod, sollen wir als Gottes gute Gabe mit Dank annehmen) nichts anzufangen weiß und ihn, gut modern, liberal, modisch ins Pathologische verzerrt. Der Vf. spricht von der Selbstvergewaltigung, Selbstzerstörung des Franziskus, von seinem neurotischen Verhältnis zu den Frauen; er hält es für wahrscheinlich, daß Franziskus sich die Stigmen ­ in Verbindung mit autosuggestiver Identifikation mit Christus ­ selbst zugefügt hat, und er vermutet sogar, wer ihn auf den Gedanken gebracht haben könnte: der Bischof Jakob von Vitry, der ihm in Damiette von den Selbstverstümmelungen der Marie von Oignies erzählt habe (eine reine Hypothese nur aufgrund des Faktums der an Franziskus gefundenen Wundmale, 265 ff.; denn Jakob von Vitry sagt uns nur, daß er Franziskus 1219 in Damiette zu solcher Begeisterung entrückt gesehen habe, daß er unbewaffnet ins Feldlager der Sarazenen gegangen sei).

Hugolin/Gregor IX. ­ der dringend einer gründlichen neuen Gesamtdarstellung bedarf, dieser "Totengräber" des Franziskus, der ihm doch so nahestand, erscheint in dieser Darstellung als komplizierter Charakter in denkbar schlechter Beleuchtung, und dafür darf der Vf. bei dem Stifter der Inquisition und Feind des Stauferkaisers gewiß auf offene Ohren rechnen. Aber quellenkritisch müßte bei seiner Behandlung doch eine andere Sorgfalt walten. Schon im Tatsächlichen: Wenn die Legenden, wohl zutreffend, berichten, Hugolin habe Franziskus 1217 daran gehindert, zur Mission nach "Francia" (Isle-de-France) zu gehen, so ersetzt der Vf. das angegebene Motiv ­ den Schutz der Bruderschaft vor ihren Gegnern an der Kurie ­ durch die Absicht des Franziskus, den Katharern in Südfrankreich zu predigen, wofür als Reiseziel eher "provincia provinciae" hätte stehen müssen. Wie es aber auch mit der Identifizierung des Reiseziels stehen möge: Weil das Motiv, das die Quellen für das Reiseverbot geben, nicht in das negative Bild von Hugolin paßt, wird ein neues Motiv erfunden, das jeder Beweisbarkeit und Plausibilität entbehrt. Denn Franziskus spricht überhaupt nur ein einziges Mal, im Testament, von Ketzern, und Katharer konnte er in Umbrien wie vor allem in der Lombardei reichlich treffen. Die "acedia" des Kardinals, eine bekannte religiöse Anfechtung, und die Versuchung zur Gotteslästerung ist "von heute betrachtet, nichts anderes als das geheime Bewußtsein von der Diskrepanz zwischen dem Kirchen- und Religionssystem, das Hugolino nach außen zu vertreten hatte, und der kühlen, wenn nicht zynischen Distanz, die er zu den Glaubensinhalten seiner Religion hatte. Dieser Zwiespalt machte ihn psychisch krank" (332). Nun gibt es bei diesem Mann, einem der (wegen der Inquisition) "größten Schreibtisch-Verbrecher der Kirchengeschichte" (326) doch einen weiteren humanen Zug: er hatte laut Salimbene eine homosexuelle Neigung zu dem schönen Kardinal Octavian, woraus das Gerücht entstand, dieser sei sein Sohn. Aber von wie vielen Menschen stellt Salimbene fest, sie seien "pulcher" gewesen, und von wievielen anderen stellt er fest, er selbst ­ oder andere ­ hätten sie besonders geliebt? Pulchritudo und specialis amor stehen nicht im Zusammenhang eines Satzes, sondern das genannte Gerücht und diese enge Zuneigung. Und diese Mitteilung gehört zur bekannten Hintertreppenperspektive, aus der Salimbene so viele Mitteilungen gibt. Natürlich will der Vf. mit dieser haltlosen Spekulation "überhaupt keine moralische Wertung verbinden" (334).

Es ist also leider anzunehmen, daß dies Buch, das in seinem Überblick über die Quellenschriften, in der Übersetzung vieler Quellentexte, in der Mitteilung vieler neuerer Forschungsthesen und -hypothesen und auch in eigenen kritischen Infragestellungen für den Kenner durchaus seinen Nutzen hat, eine Menge haltloser Vorstellungen unter seinen an Franziskus allgemein interessierten Lesern verbreiten und die kritische Dementi-Literatur wieder vermehren wird. Als Maßstab für einen wirklichen Forschungsfortschritt darf dagegen erneut aufgestellt werden: vorsichtigste Verwertung der Legendennachrichten für die Biographie des Franziskus, Legendenauswertung vorrangig für ihren Verfasserkreis und seine Umgebung, Zurückhaltung bei der psychologischen Einfühlung. Historische Hermeneutik bedarf bei fernen Personen, am meisten bei den faszinierenden, größter Zuverlässigkeit in dem ersten Arbeitsschritt der Quellen"grammatik".