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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

274–278

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Riesner, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XIV, 509 S. gr. 8o = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 71. Lw. DM 168,­. ISBN 3-16-145828-1

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Daß R. Riesner eine Habil-Schrift vorlegen würde, die durch umfassende Quellenkenntnis und Verarbeitung der einschlägigen Sekundärliteratur (Literaturverzeichnis: 375-453, Autorenregister: 480-494 [ca. 1400 Namen]) ebenso beeindruckt wie durch eine entschiedene theologische Interpretation, war bei diesem Autor nicht anders zu erwarten. Bereits mit seiner Dissertation "Jesus als Lehrer" (Tübingen 31988) hatte er für die Erforschung der Jesusüberlieferung wichtige Impulse gegeben. Das vorliegende Buch, schon 1990/91 in Tübingen als Habilitationsschrift angenommen und seither durch Verarbeitung neuerer Literatur ergänzt und bis hin zur Revision bestimmter Einzelurteile überarbeitet, dokumentiert R.s Verständnis des paulinischen Missionswerks. "Frühzeit" muß hier offenbar ähnlich verstanden werden wie seinerzeit der "junge Luther" bei H. Boehmer: Die Untersuchungen umfassen im Grunde den gesamten paulinischen Missionsweg und die damit zusammenhängenden chronologischen Fragen. Lediglich bei der Darstellung der paulinischen Theologie beschränkt sich R. auf den 1. Thessalonicherbrief.

R.s Position basiert auf einer bewußten Verbindung exegetischen, historischen und theologischen Urteilens. Hatte er sich in seiner Dissertation mit einem radikal formgeschichtlichen Ansatz in der Synoptikerexegese auseinandergesetzt und demgegenüber die geschichtlichen Vorgänge der Weitergabe von Jesusüberlieferung im Umkreis Jesu und seiner Anhänger verständlich zu machen gesucht, so wendet er sich nun gegen ein rein literaturgeschichtliches Verständnis der Apostelgeschichte. Für seine Rekonstruktion der paulinischen Mission ist sie (natürlich im Zusammenhang mit dem Primärzeugnis der Paulusbriefe) als Zeugnis antiker theologischer Geschichtsschreibung von zentraler Bedeutung. Bei, nicht vor, neben oder nach allem exegetischen und historischen Fragen aber geht es ihm um die Herausarbeitung und Klärung der theologischen Botschaft des Neuen Testaments. Denn: "Die Lehrüberzeugungen des Neuen Testaments entstanden durch das, was Menschen in ganz spezifischen Geschichtssituationen von Gott empfingen und in Krisen und Kämpfen als Erkenntnis zu bewähren hatten." (1)

Dieser methodische Zugang R.s ist nicht unumstritten. Man könnte daher versucht sein, in einer Rezension vorgeblich objektiv allein seine Ergebnisse darzustellen und zu kommentieren, seinen theologisch-methodischen Ansatz aber dahingestellt sein zu lassen. Da ich solch vorgeblicher Objektivität nicht traue und mich zudem von dem Engagement der Arbeit R.s angesprochen fühle, werde ich auch zu seinem Ansatz Stellung nehmen. Freilich sind zunächst der Gang der Untersuchung und ihre wichtigsten Ergebnisse mitzuteilen.

Die "Einführung: Chronologien und Theologien" (1-30) erfaßt im Überblick rund fünfzig Vorschläge aus der Forschungsgeschichte vom Beginn des 17. Jh.s bis 1992. Sie werden in Tabellen gegenübergestellt und verglichen. Einige neuere chronologische Ansätze, die von dem relativen Konsens der sechziger und siebziger Jahre (repräsentiert etwa durch Kümmels Einleitung) abweichen, werden nach ihrem Verhältnis zum Rahmen der Apg rubriziert: "Bewahrung des Acta-Rahmens" (u.a. Gunther, Hemer), "Korrektur des Acta-Rahmens" (u.a. Suhl, Jewett), "Aufgabe des Acta-Rahmens" (u.a. Knox und Schüler, Lüdemann, Hyldahl). Gegenwärtig ist nach dieser Übersicht "fast alles im Angebot" (25). Das Verlassen des "relativen Konsensus" hat weder bei den festen Daten der paulinischen Mission, noch bei der Reihenfolge der Paulusbriefe zu übereinstimmenden Ergebnissen geführt. Die jüngste Forschungsgeschichte führt damit vor die Alternative: "Entweder kommt nicht nur vereinzelten Zeitangaben, sondern auch dem Rahmen der Apostelgeschichte wenigstens eine relative Zuverlässigkeit zu oder wir müssen die Aussicht aufgeben, je wieder einen breiteren Konsensus über die paulinische Chronologie zu erreichen." (26)

Der erste Hauptteil ("Frühe paulinische Chronologie ­ von Jerusalem bis Achaja", 31-203) hat die Aufgabe, mit Hilfe gesicherter Fixpunkte das Gerüst der paulinischen Chronologie zu erstellen. Besonderes Gewicht haben dabei folgende Daten: Der Termin der Kreuzigung Jesu (31-52), die Flucht aus Damaskus unter Aretas (66-79), das Judenedikt des Claudius (139-180) und der Prozeß vor Gallio in Korinth (180-189). Weiter werden diskutiert: der chronologische Zusammenhang der Stephanus-Verfolgung (52-65), die Anfänge der Heidenmission (95-110), die antiochenische Kollekte für Jerusalem im Zusammenhang mit einer Hungersnot (111-121), die Begegnung mit Sergius Paullus auf Zypern (121-129) sowie mehr überblicksartig die Ereignisse nach dem Gallio-Prozeß (189-203). Ein eigenes Kapitel ist der Religionspolitik des Claudius gewidmet (79-95). Ein Exkurs diskutiert das römische Bürgerrecht des Paulus (129-139).

Dieser Teil kann geradezu als Enzyklopädie zur paulinischen Chronologie verwendet werden (Namen- und Sachregister: 495-509). Alle in Frage kommenden literarischen und archäologischen Quellen (Stellenregister: 454-479) werden herangezogen und gründlich untersucht, auch die, welche nach sorgfältiger Prüfung ohne chronologischen Ertrag bleiben. Dieser wird am Ende jedes Kapitels kurz zusammengefaßt und bildet das Grundgerüst für die chronologische Synthese, die freilich erst am Ende des nächsten Teils geboten wird.

Im zweiten Hauptteil zeichnet R. den Weg der paulinischen Mission fortlaufend und zusammenhängend nach ("Stationen paulinischer Missionsstrategie", 204-296). Ausgehend von drei Sequenzen, die sich allein aus den Paulusbriefen relativ sicher erschließen lassen (aus Gal 1f.: von der Berufung bei Damaskus über Arabien, Damaskus, Jerusalem, Syro-Kilikien, Jerusalem bis zur Abfassung des Gal; aus dem 1Thess: von Philippi über Thessalonich und Athen bis zur Abfassung des 1Thess; aus 1Kor, 2Kor und Röm: von Ephesus über die Abfassung des 1Kor, Troas, Mazedonien, die Abfassung des 2Kor, Korinth, die Abfassung des Röm bis zu den bevorstehenden bzw. geplanten Reisen nach Jerusalem, Rom und Spanien), möchte er ­ von vornherein unter Berücksichtigung der Informationen der Apg ­ nicht nur chronologische Lücken füllen, sondern gleichzeitig "die geographische Abfolge des paulinischen Wirkens in den Hauptzügen rekonstruieren" (204).

Dieser Teil scheint mir besonders charakteristisch für die Arbeitsweise R.s. Zum einen analysiert er die in Frage kommenden Stellen der Paulusbriefe und der Apg nach allen Regeln exegetischer Kunst. Des weiteren bezieht er historische Tatbestände und Indizien (z.B. politische, geographische, ökonomische, klimatische Gegebenheiten) ständig in die Untersuchung ein. Drittens schließlich stellt er den Missionsweg des Paulus insgesamt ins Licht prophetischer Heilsverheißungen der Schrift.

So sei für sein in der Berufung wurzelndes Selbstverständnis als Heidenapostel nicht nur Jes 49,1 leitend geworden (Gal 1,15), sondern möglicherweise auch Jes 9,1 in seinem ursprünglichen geographischen Zusammenhang: Da ihm das Licht des Messias im Land Damaskus erschienen war, habe Paulus von dort her seinen Auftrag von Anfang an unter atl.-heilsgeschichtlicher Perspektive deuten können. Darüber hinaus könnte auch der geographische Rahmen, in den Paulus in Röm 15,19 rückblickend sein bisheriges Missionswerk stellt, auf einen eschatologisch gelesenen Abschnitt der Schrift weisen, der von der Heilsverkündigung an die Heiden sprach und daher für sein apostolisches Selbstverständnis prägend werden konnte, Jes 66,18-21. R. sucht nach Spuren solcher Exegese von Jes 66 in Röm 15,16-24 und findet sie u.a. im priesterlichen Verständnis des Aposteldienstes (Röm 15,15 f.) und in den Zeichen seines Wirkens (Röm 15,19; vgl. 2Kor 12,12). Dadurch ermutigt, fragt er, ob auch die geographischen Angaben in Jes 66,19 mit dem paulinischen Missionsweg in Beziehung stehen könnten. Immerhin scheinen hier wie dort alle südlich und östlich von Palästina liegenden Gebiete ausgespart!

Die Belege aus der frühjüdischen, frühchristlichen und rabbinischen Exegese für eine solche eschatologisch-assoziative Auslegung zentraler alttestamentlicher Aussagen sind beachtlich. Man wird auch grundsätzlich annehmen können, daß Paulus in ähnlicher Weise die Schrift las und unmittelbar auf sein eigenes Erleben und seinen Auftrag bezog. Daß er dies nicht jeweils ausdrücklich vermerkt hat, kann ihm nur der anlasten, der mit dem zeitgenössischen Umgang mit der Schrift nicht vertraut ist! R. selbst hebt den hypothetischen Charakter seiner Annahmen hervor und grenzt sich gegenüber einer monokausalen Herleitung des paulinischen Selbstverständnisses und seines Weges als Apostel von dort her ab. Unter dieser Voraussetzung scheint mir sein Vorgehen exegetisch vertretbar und fruchtbar.

Im einzelnen wäre dann weiterzudiskutieren: Bei der Lokalisierung des Berufungsgeschehens fehlt der für R.s Interpretation entscheidende geographische Aspekt in 2Kor 4,6 ganz und ist in Gal 1,15 ff. nur implizit enthalten. Die komplizierte Argumentation mit der Bedeutung von Damaskus für die Essener und möglichen Verbindungen zwischen ihnen und den ersten Jesus-Anhängern kann darüber nicht hinwegtäuschen. 2Kor 4,6 nimmt zudem nur implizit auf die Berufung Bezug. Angesichts einer solchen Textbasis wäre es m.E. besser, auf eine Deutung des Berufungsortes zu verzichten.

Eine Deutung der geographischen Bezeichnungen aus Jes 66,19 auf die paulinischen Missionsgebiete scheint mir für Paulus allenfalls im Rückblick, also aus der Perspektive der Abfassung von Röm 15 möglich. Daß sie schon für seine Missionsstrategie, also die vorausschauende Planung seines Missionsweges und die bei ihrer Umsetzung jeweils vor Ort zu treffenden Entscheidungen relevant war, ist angesichts der Vieldeutigkeit der Namen in zeitgenössischem Verständnis, die R. selbst dokumentiert, und der unvorhersehbaren Gegebenheiten der Missionspraxis, die sowohl in der Apg als auch in den Briefen immer wieder deutlich hervortreten, kaum wahrscheinlich zu machen.

Die von R. nachgezeichneten Etappen der paulinischen Mission können hier nicht wiedergegeben werden. Es sei lediglich auf drei m.E. charakteristische Züge seiner Untersuchung hingewiesen. Aus den in den ersten beiden Hauptteilen ermittelten Daten und Zeiträumen ("Versuch einer chronologischen Synthese", 282-290, Übersicht auf 286) ergibt sich hinsichtlich der historischen Zuverlässigkeit der Apg (dazu noch ein Exkurs: "Apostelgeschichte und Weltgeschichte", 291-296) zunächst, "daß die von der Apostelgeschichte geschilderte Abfolge von Ereignissen im großen Rahmen (wenn auch natürlich nicht notwendig für einzelne Episoden) chronologisch möglich und sinnvoll ist" (287), sodann, "daß sich die bei weitem größte Dichte von spezifischen oder detaillierten Zeitangaben ... in Wir-Berichten finden", und weiter, daß "diese Angaben sich teilweise mit Daten der Profangeschichte verbinden lassen und sich von den letzten beiden Wir-Berichten aus eine sinnvolle Chronologie erstellen läßt" (288). Die "immer noch befriedigendste Erklärung" für diesen Befund findet R. in der "Annahme, daß Augenzeugenerinnerungen zugrunde liegen und daß der Verfasser der Wir-Stücke mit dem Autor der Apostelgeschichte identisch ist" (366). Ein Urteil, daß kaum auf ungeteilte Zustimmung stoßen wird, das aber nicht ohne Auseinandersetzung mit R.s sorgfältiger Begründung beiseite geschoben werden kann.

Eine wichtige Rolle in R.s Argumentation spielen Gegebenheiten der historischen Geographie. Sie bieten z.B. auch die entscheidende Begründung dafür, die Adressaten des Gal nicht in der Landschaft Galatien (also in Zentral-Anatolien) zu suchen, sondern im zur Provinz Galatien gehörenden Teil Phrygiens ("Phrygo-Galatien"). R. diskutiert ausführlich pro und contra der "nord-" oder "südgalatischen Theorie" und entscheidet sich eindeutig für die "Provinzhypothese". Solange R.s Argumente aus der historischen Geographie nicht widerlegt sind, schließe ich mich ihm an.

Ein eigenes Kapitel behandelt "Die Reisegeschwindigkeiten des Apostels" (273-282). Auch diese Ausführungen sind für seine chronologische Rekonstruktion von Bedeutung. Die Berücksichtigung solcher "äußerer" Faktoren stellt nicht nur einen Prüfstein jeder Chronologie dar, sondern verhilft auch dazu, die in den Quellen geschilderten oder auch nur vorausgesetzten Vorgänge geschichtlich vorstellbar zu machen. Daß die Welt des Paulus ein Teil der hellenistisch-römischen Antike war, wird in R.s Buch auf Schritt und Tritt erkennbar und nachvollziehbar.

Der dritte Hauptteil ("Frühe paulinische Theologie ­ Der Apostel und die Gemeinde in Thessaloniki", 297-365) geht aus von der geschichtlichen Einordnung der Gemeinde von Thessalonich in den paulinischen Missionsweg, beschreibt die Gemeindesituation, die zur Abfassung des (ersten) Briefes an sie Anlaß gab, behandelt anschließend die eschatologischen Aussagen von 1Thess 4 im Vergleich mit 1Kor 15 und fragt schließlich nach Gründen für die "fehlende Rechtfertigungslehre" in diesem Brief. Ein abschließender Exkurs behandelt "Die Einheitlichkeit des 1. Thessalonicher-Briefs" (358-365). Durch Heranziehung archäologischer und historischer Zeugnisse und ihre Verknüpfung mit den Informationen aus dem 1Thess und der Apg entsteht ein lebendiges Bild von dieser Gemeinde und ihren Gefährdungen. Der 1Thess dient der Bewältigung konkreter Anfangsschwierigkeiten der Gemeinde. Er "zeigt uns in besonders persönlicher Weise Paulus als den Gründer und Seelsorger einer Gemeinde" (368). Die Eigenart des Briefes im Vergleich zu den späteren Briefen rührt aus seiner spezifischen Abfassungssituation her und kann daher nicht zum Ausgangspunkt für den Nachweis theologischer Umbrüche bei Paulus gemacht werden.

R. hat damit innerhalb der selbst gesetzten thematischen Grenzen ein Gesamtbild der paulinischen Mission erarbeitet, das aufgrund der Breite der Quellenverarbeitung und der Aufarbeitung bisheriger Interpretationsvorschläge für alle weitere Forschung auf diesem Gebiet grundlegend sein wird. Seine dezidierten Urteile sind immer sachlich begründet und auf der Höhe aktueller exegetischer Diskussion, gelegentlich auch polemisch zugespitzt. Auch wer ihnen nicht folgen will, wird von der Auseinandersetzung mit R.s Argumenten profitieren.

Über diese formale Bewertung hinaus halte ich persönlich den eingangs skizzierten Arbeitsansatz R.s als eine Möglichkeit wissenschaftlicher Bibelexegese neben anderen für wichtig. Die theologische Motivation seiner exegetischen Arbeit entspringt deren Gegenstand. Sie führt gerade nicht zu einem theologischen oder exegetischen Fundamentalismus, sondern verhilft vielmehr zu einer biblisch fundierten Auseinandersetzung mit diesem. Die Einbeziehung der Welt der Antike und ihrer Erforschung in die exegetische Diskussion erhöht nicht nur die Kommunikationsfähigkeit der biblischen Exegese gegenüber akademischen Nachbardisziplinen, sondern gibt auch den biblischen Texten die Lebendigkeit und Bodenständigkeit wieder, die ihnen manche hochspezialisierten exegetischen Hypothesenkonstruktionen zu entziehen drohen. Insofern könnte R.s Arbeitsweise auch im akademischen Unterricht, für den er fachlich nicht erst durch seine Habilitation ausgezeichnet qualifiziert ist, die Bedeutung und das Ansehen der Bibelexegese fördern.