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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

20–22

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph Kardinal

Titel/Untertitel:

Vom Wiederauffinden der Mitte. Grundorientierungen. Texte aus vier Jahrzehnten. Hrsg. vom Schülerkreis. Red. S. O. Horn, V. Pfnür, V. Twomey, S. Wiedenhofer, J. Zöhrer.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1997. 319 S. gr.8. Lw. DM 32,-. ISBN 3-451-26417-X.

Rezensent:

Wolfhart Pannenberg

Aus Anlaß des 70. Geburtstages des Präfekten der römischen Glaubenskongregation haben einige seiner Schüler "Texte aus vier Jahrzehnten" seiner theologischen Arbeit in drei Textgruppen zusammengefaßt, denen jeweils eine Einleitung vorangestellt ist: Die Frage nach dem unterscheidend Christlichen, die Kirche, schließlich Beiträge zur Theologie des Politischen. Ein Anhang bietet eine nach Themen gegliederte Bibliographie, eine Liste der Sekundärliteratur und Angaben über den Schülerkreis.

Der erste Teil dokumentiert die Anfänge und Wurzeln der Theologie Ratzingers in seiner Dissertation zu Augustins Lehre von der Kirche sowie in der Habilitationsschrift über Bonaventuras Geschichtstheologie durch Abdruck der Vorworte zu Neuauflagen dieser beiden Arbeiten. Dazwischen steht ein kurzer Beitrag von 1980 über "Gemeinde aus der Eucharistie", der den christologisch-sakramentalen Ansatz des Kirchenbegriffs betont, auf den Ratzinger schon in seiner Dissertation gestoßen war. Es folgt die Bonner Antrittsvorlesung von 1959 über den Gott des Glaubens und den Gott der Philosophen mit der Verteidigung ihrer Verbindung als kennzeichnend für den christlichen Monotheismus und seine "missionarische Dimension" (56). Damit wird ein Aufsatz über das Verhältnis des christlichen Glaubens zu den Weltreligionen aus der Rahnerfestschrift von 1964 verbunden.

Konsequenzen aus R.s theologischem Ansatz für die Katechese läßt ein Vortrag aus dem Jahre 1983 über "Glaubensvermittlung und Glaubensquellen" erkennen, der mit zwei kurzen Texten von 1995 verbunden wird. Bemerkenswert ist die Betonung der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens, wie er schon im Taufbekenntnis zum Ausdruck kommt, als ein "Mitglauben mit der ganzen Kirche" (93). Dem entspricht die Betonung der Zusammengehörigkeit von Schrift und kirchlicher Lehrüberlieferung.

Der zweite Teil des Bandes vereint Beiträge zum Kirchenbegriff, dem zentralen Thema R.s, das man lange von ihm selbst in Gestalt einer umfassenden Ekklesiologie dargestellt zu finden hoffte. Eine Studie über die biblischen Ursprünge der Kirche von 1991 läuft auf den Gedanken der Begründung der Kirche als Volk des "neuen Bundes" durch das Mahl Christi zu, welches Kirche als Leib Christi konstituiert. R. ist ja ein Exponent der auch ökumenisch bedeutsamen Communioekklesiologie, die im Sinne von 1Kor 10,17 die Kirche von der eucharistischen Kommunion her versteht. Die Eucharistie ist "der immerwährende Entstehungsort der Kirche", wo der Herr "sie selbst immerfort neu gründet" (141).

Von daher ist auch die christliche "Transformation" des Volk-Gottes-Gedankens zu verstehen, wie ein Text von 1987 es darstellt. Wichtig sind die Ausführungen zu den Abendmahlsworten Christi aus einem Vortrag von 1967 (bes. 150 ff.), die R. mit der Bezeichnung der Kirche als Heilssakrament verknüpft. Der folgende Abschnitt über die "Kirchlichkeit des Glaubens und kirchliche Auslegung des Glaubens" aus einem Beitrag von 1973 nimmt das Thema der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens nochmals auf, diesmal mit einem um ein Jahrzehnt älteren Text: Erst die Einheit der Kirche habe den biblischen Kanon als Einheit begründet (160), obwohl die Kirche die Schrift "nicht erfunden, sondern empfangen" hat (162). Das Lehramt sei gebunden "an das Credo der Gesamtkirche und an die vom Credo her gelesene Schrift" (163). Diese Betonung des Credo entspricht dem über die Gemeinschaftlichkeit des Glaubens (als Taufglaube) Gesagten, und in diesem Sinne ist auch die These von einer konstitutiven Bedeutung der Kirche für die Einheit der Schrift zu verstehen: Das Credo ist älter als der Kanon des Neuen Testaments und fungierte bereits als Kriterium bei der Kanonbildung. Daher hat das Lehramt der Bischöfe denn auch die "Pflicht, einer Auslegung entgegenzutreten, in der die Bibel gegen die Kirche und ihr Credo gewendet wird" (164). Ergänzend hätte man sich hier die Aufnahme der Ausführungen R.s in seinem Kommentar zur Konszilskonstitution über die göttliche Offenbarung (1966) gewünscht, besonders zu DV 8 über die kritische Funktion der Schrift im Verhältnis zur Tradition. Leider hat R. diesen Gesichtspunkt in seinen späteren Äußerungen zum Thema Schriftautorität und Kirche nicht weiterverfolgt.

Die Beiträge zum Kirchenbegriff werden ergänzt durch ökumenische Texte. An erster Stelle wird in voller Länge der berühmt gewordene Grazer Vertrag von 1976 "Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus" abgedruckt. Hier hat R. eine Einigung mit den orthodoxen Kirchen auf der Grundlage von Lehre und Verfassung der Kirchen des ersten Jahrtausends vorgeschlagen. Entsprechend sollte die Einigung mit den Reformationskirchen auf der Basis der Confessio Augustana erfolgen, da diese sich ihrerseits auf die Basis der altkirchlichen Bekenntnisse berief. Diesen bis heute wegweisenden Ausführungen werden ein kurzer Text zur Aufhebung der Verurteilungen zwischen Rom und den orthodoxen Ostkirchen ("Reinigung des Gedächtnisses") sowie Ausführungen zum Verhältnis von Gesamtkirche und Teilkirche im Bischofsamt und über die Frage der Petrusnachfolge beigegeben, beide von 1991. Der erste dieser beiden Beiträge geht vom eucharistischen Ansatz der Ekklesiologie aus, in welchem immer schon der lokale mit dem gesamtkirchlichen Aspekt der eucharistischen communio verbun den ist. Die Wahrnehmung des letzteren Aspekts ist ursprünglich mit dem Amt des Apostels verbunden und im Kreise der Apostel speziell mit Petrus, dessen Ablösung in dieser Funktion durch Jakobus von R. bestritten wird (202.211). Von daher sei auch die Autorität der Nachfolger auf den "apostolischen Sitzen" in der alten Kirche, besonders auf den Petrussitzen von Rom, Alexandrien und Antiochien, deren Primat schon vom Konzil von Nicaea 325 bestätigt wurde (208), zu verstehen. Es sei diese "Ordnung der Einheit keine Ordnung bloß menschlichen Rechts", weil die "Einheit zentrale Wesensbestimmung der Kirche" von ihrem Wesen als Leib Christi her ist. Daher sei auch "ihr rechtlicher Ausdruck im Amt des Petrusnachfolgers und in der Verwiesenheit der Bischöfe aufeinander wie auf ihn hin zum Kern ihrer heiligen Ordnung" gehörig, so daß "der Verlust dieses Elements" die Kirche "im Eigentlichen ihres Kircheseins verletzt" (209). Dabei bezieht R. die Petrusnachfolge nicht ausschließlich auf Rom, betont aber, daß "Rom als Ort des Martyriums" unter den drei Petrussitzen "der herausragende, der eigentlich maßgebende ist" (213). Unter Voraussetzung der These einer besonderen Autorität der sich auf apostolische Gründung zurückführenden Bischofssitze ist das ein sehr differenziertes Plädoyer für den römischen Primat, über dessen Form als Jurisdiktionsprimat damit allerdings noch nichts entschieden ist.

Der letzte Teil des Bandes ist R.s Beiträgen zur "Theologie des Politischen" gewidmet, eröffnet mit einem Aufsatz von 1987 über christliche Orientierung in der pluralistischen Demokratie. Die Gefährdung der Demokratie geht nach R. vor allem aus von der "Unfähigkeit, sich mit der Unvollkommenheit der menschlichen Dinge anzufreunden" (233). Angesichts des Verlustes der Transzendenz entstehe daraus die Flucht in die Utopie, die ihrerseits das Moralische scheinbar entbehrlich macht. Die "Destabilisierung des Ethos" sei die eigentliche Gefahr unserer Zeit, für den Widerstand dagegen sei aber in unseren westlichen pluralistischen Gesellschaften das Christentum unentbehrlich (244 f.). Ein Auszug aus der Schrift "Politik und Erlösung" (1986) zeigt die Anwendung der Kritik an der Utopie in R.s Kritik der Befreiungstheologie von Guttierez, ein Beitrag von 1993 über das Gewissen richtet sich gegen die "Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewißheit" und betont seinen Bezug auf Wahrheit, letztlich auf die absolute, göttliche Wahrheit. Diese berechtigte Argumentation sollte sich allerdings nicht gegen die Identifikation des Gewissens mit dem Selbstbewußtsein des Ichs richten (so 272), sondern vielmehr die Konstitution der Ichinstanz selber aus der "Transparenz des Subjekts für das Göttliche" (273) geltend machen.

Die in diesem Band zusammengestellten Texte vermitteln zusammen mit den knappen, aber gut orientierenden Einführungen zu den einzelnen Themenkreisen einen ausgezeichneten Eindruck von R.s theologischer Konzeption. Sie zeigen auch, daß R. nach wie vor einer der bedeutendsten katholischen Theologen der Gegenwart ist, unabhängig davon, wie man zu diesem oder jenem Aspekt seines Wirkens in Rom stehen mag.