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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1139–1141

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Merle, Kristin

Titel/Untertitel:

Alltagsrelevanz.Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 352 S. 23,2 x 15,5 cm = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 65. Kart. EUR 52,95. ISBN 978-3-525-62413-5.

Rezensent:

Andrea Fröchtling

Kristin Merle ist Pfarrerin zur Anstellung in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Praktischen Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Ihre spezifischen Forschungsinteressen liegen u. a. im Bereich der Seelsorge, in der empirischen Sozialforschung und in der Kybernetik.
Alltagsrelevanz ist ein Beitrag zur poimenischen Auseinandersetzung um die Konstruktion von Alltagswelt und Sinn. Alltag wird dabei deskriptiv verstanden als »die Wiederkehr bestimmter Strukturmuster in Bezug auf die individuelle wie kollektive Le­bensführung« (25). Zentral mit im Blick sind in Alltagsrelevanz Fragen von Identität und Intersubjektivität, die Frage nach Religion im Schnittfeld von Alltags- und Sinnkonstrukten sowie die hieraus resultierenden Konsequenzen für eine seelsorgliche Praxis, die sich im Alltag verortet weiß. Dabei stellt M. einleitend ein Soziologiedefizit in der alltagstheoretischen Fundierung der Poimenik fest (20f.) und wendet sich gegen eine Engführung der Seelsorge auf das klassische Gespräch oder die reine Krisenintervention (286).
Zentral ist für M. die Frage, wie sich Sinn als Grundelement alltagsweltlicher Erfahrung aufbaut, welche Verortung dabei Religion zukommt und welche Konsequenzen sich für eine seelsorg­liche Praxis ergeben, die sich in die Lebenswelt integriert versteht (21). M. konkretisiert dies in der Fragestellung: »Welche konzep­tionellen Konsequenzen ergeben sich für die Seelsorgelehre und -praxis aus dem Problem des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse?« (19) Die Notwendigkeit einer Analyse des Alltags­be­griffs ergibt sich dabei für M. dadurch, dass sie Alltag als »kon­krete[n] historische[n] Ort gelebter Intersubjektivität« (20) versteht, der zugleich der Ort der Seelsorge ist, welche selbst durch die Strukturen der Lebenswelt konstituiert ist (22).
In der Einleitung geht M. den Bedeutungsebenen des Alltagsbegriffs nach und beschreibt dessen Einzug in die Praktische Theologie seit dem 19. Jh. Dabei geht sie im poimenischen Bereich ge­sondert auf die Entwürfe von W. Steck, E. Hauschildt und T. Henke ein.
In einem 1. Teil, in dem M. Intersubjektivität als Struktur der seelsorglichen Situation zugrunde legt, bietet sie anhand der Analyse der Beiträge von J. Scharfenberg, I. Karle und H. Luther eine Einführung in poimenische Diskurse, in denen Fragen von Intersubjektivität, Identität, Inklusion, Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie von Sinn- und Alltagskonstrukten unter psycholo­gischen, religiösen und soziologischen Vorzeichen eine besondere Rolle spielen. Individuum und Gesellschaft werden aus individueller und systemtheoretischer Perspektive heraus betrachtet. Hierbei stellt M. insbesondere anhand von Themen wie ethischer Entscheidungsfindung, Freiheit und Relevanz Überschneidungsbereiche mit Zentralkategorien wie Alltag, Sinn, Religion und Identität fest (144).
In einem 2. Teil entwickelt M., mit Rückgriff auf A. Schütz, die von ihr eingeforderte alltagstheoretische Grundlegung der Poimenik. Zentral ist hier die Fragestellung nach strukturellen Elementen, anhand derer sich subjektiver und objektiver Sinn aufbaut (147). Hierzu eröffnet M. eine Reihe von Zugängen, die beim Le­benswelt-/Alltagsbegriff ansetzen, um dann in einem zweiten Schritt dem eingangs gestellten Problem des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse anhand von Auseinandersetzungen zu Sozialität und Eigen-Sinn sowie zu Relevanzhierarchien und Sinnkonstruktionen nachzugehen. In einem dritten Schritt verknüpft M. dann Fragen nach intersubjektiver Kommunikation und intersubjektivem Verstehen mit Überlegungen aus den Bereichen Symboltheorie und Semiotik und geht der Frage nach Transzendenzen in der Alltagserfahrung nach.
In einem 3. Teil bündelt M. die Erkenntnisse der beiden vor­-hergehenden Teile und bezieht sie auf die Praxis seelsorglichen Handelns im Alltag: Bezüglich der Alltags-Kategorie Raum/Zeit verweist sie auf den Zusammenhang zwischen Lebensalter und Seelsorgethemen und verortet Themen wie Endlichkeit, Tod, (Un-) Gerechtigkeit, Sünde und Schuld im Bereich der Auseinandersetzung mit der Irreversibilität der Zeit (269). Aspekte wie Fortdauer/ Endlichkeit, Geschichtlichkeit/Situation oder Zwangsläufigkeit/ First things first liegen dabei, in unterschiedlichen biographischen Varianten, Seelsorgethemen zugrunde. Seelsorge geschieht in »So­zialität« (270) und deren Bedingungsfaktoren, während gleichzeitig sozialitätsrelevante Fragen wie zwischenmenschliche Konflikte oder Fragen nach Individualität und Gemeinschaft eine größere Rolle spielen als Themen seelsorglicher Begegnung.
Ausgehend von Appräsentationstheorien geht M. auf das Mitvergegenwärtigte in seelsorglicher Kommunikation sowie auf Fragen von Symbol, Zeichen und Transzendenz ein und entwirft im Rückgriff auf Schleiermacher »Geselligkeit« als Leitkategorie praktisch-theologischen Handelns.
Abschließend entwickelt M. ein Set von Fragen für die Seelsorge, das sich in die Fokusbereiche »Seelsorgesuchende«, »Seelsorgende« und »intersubjektive Schnittmenge« aufgliedert. Relevante Fragen im Hinblick auf Seelsorgesuchende sind dabei Fragen nach der Problembeschreibung und der Deutungslogik des/der Seelsorgesuchenden. Darüber hinaus von Bedeutung sind die von Seelsorgenden beim Seelsorgesuchenden bekannten oder vermuteten Relevanzhierarchien, der »Leidensdruck«, den das geschilderte Problem im Relevanzsystem des/der Seelsorgesuchenden verursacht, mögliche Kon­fliktbereiche im Relevanzsystem, Handlungsoptionen innerhalb des jeweiligen subjektiven Relevanzsystems sowie die Frage nach Klärung oder eher Neuordnung des Relevanzsystems (314 ff.).
Für Seelsorgende stellen sich nach M. Fragen nach Reaktionen auf und Erinnerungen an ein geschildertes Problem, nach dem zugemessenen Stellenwert des Problems im eigenen Relevanzsystem und der Analyse der eigenen Handlungspräferenzen sowie die Frage nach der Einordnung des dargestellten Problems in eigene Relevanzhierarchien (316 f.). – Für die intersubjektive Schnittmenge schließlich steht die Suche nach gemeinsamen Bezugspunkten und nach dem spezifischen Relevanzsystem der seelsorglichen Si­tuation im Mittelpunkt (317 f.).
M.s Fazit: »Es zeigt sich, dass die Frage nach Relevanz und Re­-levanzgenese unweigerlich zu einer systemischen Betrachtungsweise führt: Nicht das Individuum als ›fensterlose Monade‹, unabhängig von Raum, Zeit und Sozialität ist Träger (über-)subjektiv plausiblen Sinns. Viel eher gestaltet sich subjektiver Sinn über die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der alltäglichen Le­benswelt mit ihrem raum-zeitlichen Charakter, vor allem über ihre soziale Verfasstheit wie ihre kulturellen Objektivationen aus.« (318)
Alltagsrelevanz zeichnet sich durch eine sehr dichte Sprache aus, mittels derer, oft in wenigen Absätzen, komplexe soziologische Sachverhalte dargestellt werden. Als leichte Lektüre kann man das Buch daher nicht bezeichnen, wohl aber als eine sehr lohnenswerte, die einen neuen Blick auf die Verhältnisbestimmung Poimenik und Alltag wirft und auf einer Metaebene Anregungen für ein alltagsbezogenes seelsorgliches Handeln bietet.
Eine umfangreiche Bibliographie bietet Anregungen zum Wei­terlesen, ein Personen- und Sachregister hilft bei der Navigation im Text.