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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1137–1139

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Koschorke, Albrecht, Ghanbari, Nacim, Eßlinger, Eva, Susteck, Sebastian, u. Michael Thomas Taylor

Titel/Untertitel:

Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution.

Verlag:

Konstanz: Konstanz University Press 2010. 276 S. m. Abb. 21,6 x14,0 cm. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-86253-005-2.

Rezensent:

Michael Domsgen

Immer wieder gibt es Stimmen, die vom Verfall der Familie sprechen. Dies geht meist mit einem ahistorischen Blick auf aktuelle Entwicklungstendenzen einher. Von vorliegender Untersuchung lässt sich gleich zu Beginn lernen: »Die Krise der Familie ist so alt wie die Familie selbst« (12). Im Entstehen von Familie Ende des 18. Jh.s zeigen sich bereits krisenhafte Erscheinungen. Die nehmen die Autoren in den Blick, wobei sie davon ausgehen, »dass sich die Fa­milie nicht von ihrer intimen, gegen die Außenwelt abgeschirmten Mitte her erschließt« (14). Diese bleibe weitgehend un­besetzt. His­torische Konturen zeigten sich erst im Blick auf die »Ränder« von Familie: »auf die Positionen, die sie einschließt; die Positionen, die sie ausschließt; und schließlich diejenigen Figuren und Mächte, die aus- und eingehen, die Schwelle kreuzen und deshalb keinen stabilen Ort im Selbstbildnis der Familie einnehmen können« (ebd.).
Interessant ist, dass sich bereits im späten 18. und im 19. Jh. die Literatur mit der Darstellung glücklicher Familien schwertut. Die Familie gilt als Ort der Harmonie, als »Gegenpol zu allem Existenz- und Überlebenskampf draußen« (21). Die einzelnen Familien werden in den Texten jedoch als defizient und defekt beschrieben. Literarisch gewinnen sie ihre Merkmale »aus der Abweichung von dem Wunsch- und Zielbild, an dem die Texte ex negativo gleichwohl festhalten« (ebd.). Anders agiert die Malerei. Familienporträts stellen das neue Leitbild dar. Gleichwohl findet auch die Gegenwelt Eingang in diskreten, motivischen Details. Das im Familienporträt beschworene Glück trägt den »Charakter einer zu erfüllenden Norm« (28). Die damit verbundene eheliche Triebregulierung wirkt jedoch auch abschreckend. Die »häufig erhobene Klage über den Mangel an Heiratswilligen hat hier ihren sozialpsychologischen Ursprung« (ebd.). Insofern markiert das Ideal der bürgerlichen Familie immer auch Grenzen. Diesen Grenzbedingungen der Institution Familie widmet sich die vorliegende Untersuchung in fünf Kapiteln.
Im ersten Kapitel (51–95) befasst sich Michael Thomas Taylor mit der Stellung der Ehe, indem er die Reaktionen auf die Frage des Berliner Pastors Johann Friedrich Zöllner »Was heißt Aufklärung?« in der Berlinischen Monatsschrift nachzeichnet. Interessant ist, dass die Aufklärer religiöse Vorstellungen von der Heiligkeit der Ehe in Überlegungen zur natürlichen Grundlage der Gesellschaft übersetzten. »So wurde theoretisch der Übergang vom ›Hausvater‹ im Sinne Luthers, dessen Autorität in einer Kette patriarchialer Mächte bis zu Gott reichte, zum Familienvater modelliert, der als Freund, Bruder und Bürger zu einem Grundpfeiler der bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts werden sollte.« (40) In alledem bleibt jedoch die Spannung zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Natur und Kultur, zwischen Norm und Liebe unauf­-gelöst. Aus dieser Grundspannung ergibt sich die Schwierigkeit, Sexualität und Fortpflanzung in das Idealbild der bürgerlichen Familie zu integrieren. Dem geht Sebastian Susteck im zweiten Kapitel des Buches (97–137) genauer nach.
Das Verhältnis von Familie und Sexualität ist schon vor dem 19. Jh. als »prekär« (108) zu beschreiben. »Bereits im Rahmen einer radikalen Fortpflanzungsideologie des 18. Jahrhunderts erscheinen Familie und Ehe als auf die Fortpflanzung verpflichtete und ihr dienende, einzelnen Denkern zugleich jedoch als fortpflanzungshemmende Institute.« (Ebd.) Im 19. Jh. wird die Familie als einzig legitimer Ort der Fortpflanzung gesehen. Kinder gelten als Erfüllung familiären Glücks. Die kinderlose Ehe wird als unbefriedigend angesehen. Hier liegt ein instabiles Moment, wie Locke ausführt, der »das Zusammensein von Ehepaaren durch eine Serialität der Fortpflanzung be­gründet« sieht, »in der zugleich das poten­-tielle Ende dieses Zusam­menseins mit angelegt ist. Wenn die Fortpflanzung als gemeinsames Ziel entfällt, droht die Beziehung zu zerbrechen.« (137)
Das Verhältnis zum Volk untersucht Albrecht Koschorke im dritten Kapitel (139–171) anhand der Kindermärchen. Deren großer Erfolg hängt auch damit zusammen, dass erst das Biedermeier die Kindheit als eigenen Lebensabschnitt betrachtet hat. Diese Epoche steht für den Übergang zu einer stadtbürgerlichen Kultur. Dabei richten sich die bürgerlichen Ängste »auf alles, was wurzellos scheint« (155). Erstaunlicherweise handeln die Hausmärchen von »zutiefst unbehausten Figuren« (ebd.). Deren Erleben und Handeln wird allerdings zensiert. Das Volk tritt in idealisierter Weise in das Bürgerhaus. Die Anziehungskraft der Märchen scheint sich »aus der Tatsache zu ergeben, dass die Phantasiegrenze rings um das biedermeierliche Haus durchlässig bleibt« (165). Insofern stellen die Kinder- und Hausmärchen einen »Schwellentext dar. Sie sperren das Volk aus, sofern damit das rohe Gebaren pauperisierter Unterschichten gemeint ist, und holen es im Idealbild einfacher, frommer, im Herzen kindlicher Menschen wieder herein« (167).
Vergleichbares ist auch im Umgang mit dem Dienstpersonal zu beobachten, den Eva Eßlinger im vierten Kapitel (173–212) untersucht. Die bürgerliche Familie versteht sich als intimer Zu­sam­menhang von Eltern und Kindern. Die Anwesenheit des Personals widerspricht dem familiären Bedürfnis nach Abgrenzung und Intimität. Deshalb werden ihm »auf emotionaler Ebene keinerlei Partizipationsrechte« (177) zugestanden. Trotzdem kommt es bisweilen zu Verbindungen, wobei es fast ausschließlich bürgerliche Männer sind, »die sich in der Liebe nach unten orientieren« (210). Ihr Privileg besteht darin, »sich die Frau ihrer Wahl heranzubilden« (211). Allerdings ist einer solchen Verbindung oft kein dauerhaftes Eheglück beschieden. »Die bürgerliche Familie er­scheint […] als eine geradezu xenophobe Gemeinschaft, die Fremden selbst dann die Aufnahme in den inner circle verweigert, wenn diese sich den bürgerlichen Maßgaben bis hin zur Selbstaufgabe unterordnen.« (212)
Im fünften Kapitel (213–250) widmet sich Nacim Ghanbari dem Verhältnis von Verwandtschaft und Familie. Dabei lässt sich eine »Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Verwandtschaft« (214) beobachten. Verwandtschaft spielt keine Rolle, weil sich die Familie ausschließlich durch Liebe imaginiert. Umgekehrt gilt jedoch: So­bald die Familie sich als ökonomische Einheit reflektiert, kommt die Verwandtschaft neu in den Blick. In diesem Zusammenhang taucht auch der Terminus »Haus« wieder auf. Es steht für »eine verwandtschaftlich bestimmte Körperschaft, die sich um die Weitergabe ihrer Güter sorgt« (49).
In alledem zeigt sich, wie »die Welt vor der modernen Familie« in vielen Strukturen »außerhalb des intimisierten kleinfamilialen Rahmens bestehen« bleibt und sich bis in die Gegenwart hinein Geltung verschafft, »in der familiäre Bezüge sich verflüssigen und vervielfältigen, ohne darum notwendigerweise in eine Welt nach der Familie zu führen« (50). Allen, die gegenwärtige Entwicklungen im Bereich der Familie genauer verstehen wollen, sei die Lektüre dieses Buches ausdrücklich empfohlen.