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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1135–1137

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Karle, Isolde [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lebensberatung – Weisheit – Lebenskunst.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 218 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02896-2.

Rezensent:

Joachim Kunstmann

Die heutige »Beratungsgesellschaft« stellt Rückfragen an die christliche Religion: Welchen Rat kann sie geben? Was ist christliche Lebenskunst? Angesichts des massiven Bedeutungsverlustes des Christentums für die private Lebensführung ist hier eine sensible und bedeutsame Stelle berührt, der Band entsprechend verdienstvoll. Er versammelt die überarbeiteten Beiträge einer interdisziplinären Ringvorlesung aus dem Sommer 2011 an der Ruhr-Universität Bochum, zu der die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Margot Käßmann Anlass gegeben hatte.
Dem einleitenden Beitrag von Margot Käßmann folgen drei biblische, drei kirchenhistorische und fünf gegenwartsbezogene Beiträge, die um die schwierige Selbstgestaltung und die christliche Suche nach Rat, Lebenskunst und Erfüllung kreisen.
Käßmann reflektiert zunächst den überraschend großen Erfolg ihres Buches »In der Mitte des Lebens«. Älterwerden be­deutet eine gewisse Gelassenheit und einen nachlassenden Entscheidungsdruck; daher kommen tendenziell religiöse Fragen nach Sinn und Endlichkeit auf. Für solche Fragen ist also Bedarf; das Christentum kann und sollte sich auf diesen Bedarf einstellen.
Zwei der biblischen Beiträge wenden sich der alttestamentlichen Weisheitsliteratur zu (Jan-Dirk Döhling; Beate Ego). Sie zeigen, dass die Weisheit keineswegs naiv denkt, sondern gerade angesichts einer letzten Unerklärbarkeit eine praktische Klugheit an­zielt. Weisheit verlässt sich auf Erfahrung, wo übergreifende Erklärungen gerade versagen, und spart nicht mit Ratschlägen; Kohelet etwa mit dem, Gott zu fürchten und das Leben zu genießen. – Der neutestamentliche Beitrag (Peter Wick) führt den Jakobusbrief als Ratgeber mit vielen Anweisungen zum christlichen Leben vor.
Die drei kirchenhistorischen Beiträge bearbeiten zunächst das Thema »Freundschaft« (Reinhard von Bendemann). Die Evangelisten Lukas und Johannes und andere frühe Christen haben hier die antike Philosophie beerbt und mit spezifischen Konturen versehen. Sodann wird der paidagogos des Clemens von Alexandrien be­handelt (Katharina Greschat), eine sehr körperbezogene und konkrete frühchristliche Anleitung zur Lebensführung, die vor allem die antike Vorstellung vom rechten Maß heranzieht. Ute Gause zeigt schließlich, wie sich die protestantische Andachts- und Er­bauungsliteratur des 16. Jh.s, die um Sünde, Vergebung und christliche Lebensführung kreist, im Pietismus des 17. Jh.s in eine mys­-tische Richtung verändert, die individualisierte Züge zeigt.
Traugott Jähnichen leitet die Beiträge zu aktuellen Problemstellungen ein. Er zeigt unter Bezug auf Richard Sennett, Thomas Luck-mann und Wilhelm Schmid, wie sich die »Arbeit an der Gestaltung des Selbst« (129) aus den gewachsenen Freiheitsspielräumen der Menschen ergibt. An die Stelle der großen Transzendenzen rücken Fragen der individuellen Lebensgestaltung; die Thematisierung des Selbst ist zum Grundprinzip der Gesellschaft geworden. Selbstinszenierung, Nachdenken über Lebenskunst, spirituelle Suche und Ratgeberliteratur haben dieselbe Ursache. Die Frage nach Wahrheit wird ersetzt durch die nach Authentizität und Selbststärkung; religiöse Traditionen werden »spirituelle Res­sourcen« (137). Vor allem der verbreitete Engelglaube ist Ausdruck dieser »religiös orientierten Sorge um das eigene Selbst« (ebd.). Engel sind erfahrungsnahe »Projektionsflächen«, die durchaus der religiösen Selbstvergewisserung dienen können. Freilich geschieht hier auch eine Ausblendung sozialer und ethischer Fragen, und die Auseinandersetzung mit den Widerständigkeiten des Lebens bleibt unterentwickelt.
Günter Thomas deutet die moderne Beratungsliteratur als eine Form dessen, was die Theologie »Gesetz« nennt. Er weist in seinem Vergleichen zwischen Gesetz und Beratungsliteratur dann allerdings durchgehend Differenzen aus, so dass der Vergleich recht assoziativ wirkt. Bedeutsam ist er dennoch, da er implizit die Wandlung einer als Gesetz verstandenen Wirklichkeit in einen Spielraum von Freiheiten markiert, dessen Folge die Unkenntnis eigener Grenzen und die tendenzielle Überforderung des Selbst ist. Theologisch gefordert wäre dann freilich weniger eine Reformulierung des Gesetzes als vielmehr eine der Rechtfertigungsbotschaft.
Genau diesem Problem geht Isolde Karle in ihrem sehr nachdenkenswerten Beitrag nach, neben Jähnichen dem gehaltvollsten, analytisch stringentesten und folgenreichsten des Bandes. Die Beratungsgesellschaft folgt einer illusionären Logik der »neoliberalen Selbstoptimierung« (171) – der guten Absichten, der Willensanstrengung, der Perfektionierung. Karle pointiert: »Die Selbstverständlichkeit in der Lebensführung scheint abhanden gekommen zu sein.« (168) Das muss die Kirche provozieren, nachhaltigen und tragfähigen Rat für ein gutes Leben aus christlichem Geist zu geben. Ihr größtes Potential hat sie in ihren strukturgebenden und entlastenden rituellen Abläufen, im Rat der Seelsorge und in möglichst konkreten Hinweisen zur Lebensführung in der Predigt.
Matthias Sellmann zeigt, dass sich die Frage der Lebenskunst aus einem Wunsch nach Ganzheit ergibt, der durch gesellschaftliche Segmentierungen bedingt ist und dem Individuum aufgebürdet wird. Das wird durch Konstruktion und Erzählung der eigenen Biographie gelöst, für die die Religion ihre Muster bereitstellt. Sellmann plädiert eher ethisch denn religiös für eine christliche »Lebenskunst des Umweges«, die nur dann zur Erfüllung kommt, wenn das eigene Leben vorher für andere riskiert wurde; sie versteht »Glücksfindung als einen genuin sozialen Vorgang« (198).
Abschließend geht Franz-Heinrich Beyer auf die theologische Wiederentdeckung der Sakralräume ein. Im Gegenüber zum alltäglich Vertrauten haben diese Räume eine »Bedeutung für das Wohl des Einzelnen und des Gemeinwesens« (213).
In summa: Das Buch ist ein typischer Sammelband mit recht unterschiedlichen Beiträgen, von denen viele rein historisch argumentieren. Manche Folgerungen bleiben recht vage, etwa wenn Käßmann sagt: »Hier sollten Kirche und Theologie Mut zeigen und ihre reflektierten Deutungsangebote einbringen.« (26 f.) Längst ist ja empirisch umfassend belegt, dass diese Deutungsangebote im­mer weniger zu überzeugen vermögen! Freilich: ein höchst bedeutsames Thema, das den Band lesenswert macht. Karle be­nennt das Problem treffend: »An der Abwertung menschlichen Lebens hat sich das Christentum bis in die Gegenwart hinein im­mer wieder beteiligt.« (180) Sie zieht daraus weitreichende Folgerungen: Chris­ten müssen sich der Frage nach dem gelingenden Leben stellen; das Wissen um die durch Gott geschenkte Fülle, um Gehaltensein und um die Unverfügbarkeit aller Erfüllung bedeutet Entlastung vom spätmodernen Optimierungszwang. Das sind plausible und theologisch bedeutsame Aussagen.